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RAUB/1107: In Ohnmacht und Schmerz vereint ... Weihnachtsstoffwechsel (SB)



In Deutschland geht die "Angst um die Weihnachtsgans" um. Sollte etwa Mitgefühl mit den großen Vögeln, denen das Fest des Friedens ausschließlich Schmerz und Tod beschert, um sich greifen? Wurde gar ein possierlicher Ganter namens Knut entdeckt, dem die Herzen zufliegen und dem niemand etwas antun könnte? Sollte Weihnachten fürderhin auch Gänsen ein Wohlgefallen sein, weil entdeckt wurde, daß sie über Lebenswillen und Lebenslust verfügen?

Nichts von alledem. Angst macht sich in Deutschlands Küchen und Eßzimmern breit, denn ein schon fest eingeplanter Genuß ist plötzlich in Frage gestellt. "Versaut uns die Vogelgrippe die Weihnachtsgans?" [1] - als sei schon angerichtet, werden hier gleich zwei zu verspeisende Tiere aufgefahren, um dem Debakel Ausdruck zu verleihen. "Wie die Vogelgrippe uns das Weihnachtsessen vermiest" [2] - die Beschwerde über das ungehörige Verhalten der Vögel, nicht nur zu erkranken, sondern dadurch auch noch die Freude am Fest zu schmälern, wird bei Radio Bremen immerhin in eine vollumfängliche Entwarnung verwandelt, sei der derzeit insbesondere bei Wildvögeln sein Unwesen treibende Grippevirus H5N8 doch für Menschen nicht ansteckend. Die Weihnachtsgans kann also wie bisher kredenzt und verspeist werden, und das Vorleben des jeweiligen Vogels, um den sich die Familie schart, wenn die Tischgemeinschaft als eigentliche Communio Sanctorum zelebriert wird, geht niemanden etwas an.

Wer sich dennoch dafür interessiert, was ihm oder ihr unter die Gabel kommt, erfährt, wie zu erwarten, wenig Erbauliches. Da die Martins- oder Weihnachtsgans ein ausgesprochenes Saisongericht ist und die deutsche Produktion wenig mehr als ein Zehntel des Bedarfs deckt, greifen die meisten zu Importware. Deren Preis liegt zudem bei nur einem Viertel oder Drittel des bei deutschen Produkten 13 bis 20 Euro betragenden Kilopreises. Diese Gänse kommen vor allem aus Ungarn, Bulgarien und Polen, aber auch Frankreich so kostengünstig in deutsche Küchen, weil sie zuvor zur Produktion sogenannter Stopfleber gezwungen wurden. Die in Frankreich unter dem Namen Foie gras zum nationalen und gastronomischen Kulturerbe erhobene und damit vom Tierschutz ausgenommene Delikatesse schlägt dort, wo das auf zehnfache Größe angeschwollene Stoffwechselorgan mit großer Begeisterung konsumiert wird, mit bis zu 100 Euro pro ganzer Leber zu Buche.

Da Gänse niemals freiwillig jeden Tag eine Menge von bis zu einem Kilo mit Schweineschmalz angereichertem Maisbrei verzehren würden - Menschen müßten analog dazu täglich bis zu zehn Kilo hochgradig stärkehaltige Nahrung zu sich nehmen - , wird ihnen die Bewegungsfreiheit genommen und ein halbmeterlanges Metallrohr in den Schlund getrieben. Durch diesen Zugang, der die Reflexe und Sinne der ganz auf ihren Schnabel ausgerichteten und bereits eng fixierten Gans brutal unterdrückt, werden die gerade mal fünf Monate alten "Nutztiere" in einem Zeitraum von bis zu drei Wochen gewaltsam gemästet, was die erwünschte monströse Vergrößerung der Leber zur Folge hat. Viele von ihnen werden auch noch in unbetäubtem Zustand gerupft, so daß die Torturen kein Ende nehmen.

Die Leber hat zwar keine Schmerzrezeptoren, aber eine so große Anschwellung erzeugt natürlich starken und andauernden Druckschmerz in ihrer Umgebung, was das menschliche wie nichtmenschliche Tier dazu veranlassen würde, die häufig zugrundeliegende Stoffwechselentgleisung abzustellen. Im Falle der schon durch die Mast brutal gequälten Gänse ist die Schlachtung im Kindesalter - bei wildlebenden Gänsearten werden Lebenserwartungen zwischen 15 und 30 Jahren angegeben - dann zumindest christlicher Logik gemäß eine Erlösung. Wildlebende Gänse sind bekannt für ihr hochdifferenziertes Sozialverhalten, sie leben monogam im Unterschied zu Hausgänsen, denen dies aus züchterischen Gründen ausgetrieben wurde. Daß sie unter diesen Umständen nicht Weihnachten feiern wollen, kann ihnen niemand verdenken.

Angesichts des idyllischen Krippenspiels, wo Mensch und Tier harmonisch vereint erscheinen, müssen Menschenkinder erst lernen, daß den dort anwesenden wie allen anderen Tieren von den eigenen Händen vor allem Pein und Schmerz zuteil wird. Sie müssen nicht Foie gras auf dem Teller haben, um zu verstehen, daß die Domestizierung von Tieren und ihre Degradierung zum Nutz- und Schlachtvieh vom gleichen hochtrabenden Selbstverständnis, sich die Natur und alles vermeintlich niedere Leben untertan zu machen, bestimmt ist, wie es etwa für die kolonialistischen Grausamkeiten galt, die hochzivilisierte Europäer im Namen des Christentums an indigenen Menschen begingen. Diese unterschieden sich aus Sicht der europäischen Eroberer kaum von Tieren, zumindest so lange nicht, wie sie nicht getauft waren.

Auch die tiefgefrorene Gans, in der diese schmerzerfüllte Delikatesse heranwucherte, um von einem Feinschmecker mit Hochgenuß goutiert zu werden, gibt als trauriges Überbleibsel ihres ausschließlich in ohnmächtiger Vergewaltigung erlebten Kontaktes mit dem Menschen Anlaß, nicht die Augen davor zu verschließen, wie sehr der eigene Hunger und das Magenknurren des Wolfes einander gleichen. Warum also sollte die Welt ausgerechnet an den zivilisatorischen Errungenschaften des menschlichen Tieres genesen?


Fußnoten:

[1] https://www.tag24.de/nachrichten/vogelgrippe-weihnachtsgans-mopo24-2588

[2] http://www.radiobremen.de/wissen/themen/vogelgrippe-weihnachtsgans100.html

23. Dezember 2016


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