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RAUB/1161: Wirtschaft - Klimatarif ... (SB)



Was in der Regel nicht dazugesagt wird: Die Belastung der Luft mit Schadstoffen aus Verbrennungsmotoren ist Bestandteil einer Industriepolitik, die die Inanspruchnahme der Atemluft als Brennstoff im Gasgemisch der Motoren wie Deponie für unverbrannte Partikel und chemische Gifte aus dem Abbrand des Treibstoffes als selbstverständliches Privileg betrachtet. Eingespeist in das System des fossil motorisierten Straßenverkehrs werden menschliche Körper nicht nur zum Verbrauch durch Lohnarbeit, sondern jeder hat Abstriche an seiner unversehrten Leiblichkeit als Beitrag zur nationalen Reichtumsproduktion hinzunehmen.

Bei der vermeintlichen Quantifizierbarkeit individueller Risiken durch Grenzwerte für Umweltgifte handelt es sich um ein statistisch ermitteltes Risikokalkül, das weder über den Individualfall Auskunft gibt noch jegliche krankmachende Wirkung ausschließen kann. Die Debatte um ihre Festlegung ist Ausdruck der Verhandlung, wie groß der Beitrag der Lohnabhängigenklasse ausfallen soll vor dem Hintergrund dadurch entstehender und wiederum gesellschaftlich zu regulierender Defizite bei der Verfügbarkeit physischer Arbeitskraft. Um Gesundheit als Faktor individuellen Wohlbefindens geht es niemals, wie die Vergesellschaftung der Schäden privatwirtschaftlich betriebener Produktion und die daraus resultierende Belastung jedes einzelnen unabhängig davon, ob am motorisierten Individualverkehr beteiligt oder nicht, zeigt.

Bei den Verhandlungen im EU-Ministerrat um die Grenzwerte für CO2-Emissionen ab 2030 habe Bundesumweltministerin Svenja Schulze dafür gesorgt, "dass ein schlechterer Wert rauskam als in der Bundesregierung vereinbart" [1], so Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer. Er hätte auch sagen können "höherer Wert", beschlossen die EU-Umweltminister doch eine Minderung von durchschnittlich 35 Prozent im Vergleich zu 2020, während die Bundesregierung lediglich 30 Prozent weniger CO2 bei der neuen EU-Abgasnorm zugestehen wollte.

Der CSU-Politiker ist für die staatliche Organisation und bauliche Infrastruktur aller Verkehrsmittel zuständig. Er könnte sich für kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr, für mehr Rad- und Wanderwege, für den Umstieg vom Straßenverkehr auf die Schiene einsetzen. Doch Andreas Scheuer ist ein Mann der Autoindustrie, nicht nur weil Bayern BMW, sondern der Bau stark motorisierter und luxuriös ausgestatteter PKWs Gütesiegel des Industriestandortes Deutschland ist.

Mit diesem Geschäftsmodell auch in Zukunft noch möglichst viel Schaden an Mensch und Natur anzurichten, weil alles einen Preis hat und für den Gewinn auch manch bittere Pille zu schlucken ist, scheint das Credo der Bundesregierung in der Sache zu lauten. Die Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals zu sichern, selbst wenn dies zum vorzeitigen Ableben und der schlechteren Lebensqualität einer nennenswerten Zahl von Menschen führt, ist erste Bürgerpflicht. Gelobt sei, was hart macht, lautete die lakonische Antwort früherer Generationen, wenn sie auf Gefahren am Arbeitsplatz oder der Umweltzerstörung hingewiesen wurden. Heute, da der Mensch von einer kaum noch überschaubaren Zahl chemischer und biologischer Artefakte in Wasser und Luft, in Reinigungs- und Nahrungsmitteln, in Kleidern und Gebrauchsgegenständen umstellt ist, deren Wirkung kaum gegen die anderer Stoffe abgegrenzt werden kann und von deren möglicher gegenseitiger Verstärkung erst recht wenig bekannt ist, wird damit nicht mehr so naßforsch umgegangen als zu einer Zeit, in der sich echte Männer dadurch auszeichneten, keine Rücksicht auf ihre körperlichen Befindlichkeiten zu nehmen.

Ob dem Verbraucher der Preis zu hoch oder der Arbeiterin der Lohn zu niedrig ist, um ein Dasein partiellen Selbstkonsums und zehrender Ausbeutung zu fristen, interessiert nicht, denn zu einer auf hohen Verschleiß und schnellen Wechsel abonnierten Lebenswelt gibt es angeblich keine Alternative. Wer es anders sieht, wird gerne gefragt, ob wir denn zurück auf die Bäume sollen. Die Unterwerfung unter ein politisches System, für das der Schutz des Lebens nur insofern verpflichtend ist, als sich mit ihm ein gleich- oder höherwertiges Akkumulationsmodell etablieren läßt, versteht sich so sehr von selbst, daß über das Leben auf Bäumen nicht einmal nachgedacht werden kann.

Wer dennoch über den eigenen Tellerrand wie den aller anderen schaut, könnte bemerken, daß die Fessel von Kapitalverwertung und Zerstörung nicht zugunsten eines Wachstumspfades zu sprengen ist, auf dem die Produktion lediglich von fossil auf erneuerbar umgestellt und alles gut wird. Schon der geringere Einsatz an Arbeit und Ressourcen bei alternativen Technologien wird keinen grünen Kapitalismus hervorbringen, der auf vergleichbare Weise Wachstumschancen und Konsummöglichkeiten freisetzt wie das herrschende Akkumulationsregime. Sollten zudem wirksame Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels ergriffen werden, dann entständen statt neuer Technologieparks dieses Mal tatsächlich blühende Landschaften.

Um so erbitterter wird am bestehenden Verwertungsmodell festgehalten, und das womöglich, bis es an die Wand fährt, sprich katastrophale Entwicklungen seine Aufrechterhaltung verhindern. Bis dahin gilt die unausgesprochene Pflicht, mit der eigenen Haut zu einer nationalen Reichtumsproduktion beizutragen, deren positiver Ertrag privat angeeignet und für alle anderen in Form des Zwangs, sich über Lohnarbeit zu reproduzieren, negativ vergesellschaftet wird. Mit dem einen Fuß auf dem Gaspedal der Autorepublik und dem anderen auf der Bremse des Klimaschutzes reist es sich zwar aufwendig, aber doch so bequem, daß die neben dem Fahrzeug einschlagenden Blitze tunlichst ignoriert werden.


Fußnoten:

[1] https://www.zeit.de/mobilitaet/2018-10/co2-grenzwerte-andreas-scheuer-svenja-schulze-verhandlungsergebnis

11. Oktober 2018


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