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RAUB/1186: Inklusion - Strafe und Belohnung ... (SB)



Ein wesentlicher Fortschritt der am 26. März 2009 in der Bundesrepublik in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) besteht darin, daß das darin verankerte Ziel einer inklusiven Gesellschaft nicht gleichbedeutend damit sein soll, sich als behindert geltender Mensch an die Mehrheitsgesellschaft anpassen zu müssen. Behinderung soll nicht mehr eine schicksalhafte Situation darstellen, in die sich die von einer physischen oder psychischen Beeinträchtigung Betroffenen zu fügen haben, sondern wird als Ergebnis einer Interaktion von Mensch und Umgebung definiert. Behinderung entstehe "aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren", so die Präambel der BRK. Diese Barrieren hindern Menschen mit "langfristigen körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen (...) an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft", heißt es in Artikel 1 BRK.

Die Gesellschaft barrierefrei zu machen und im weitesten Sinne für Inklusion zu sorgen bleibt auch in der wohlhabenden Bundesrepublik für viele Betroffene ein Rechtsanspruch, der an der materiellen Wirklichkeit der kapitalistischen Leistungsgesellschaft bricht. Die in vielen Fällen unzureichende finanzielle Bemittelung, die fehlende Assistenz und die immer noch unzureichend auf Rollstühle oder Sehbehinderte eingerichtete Stadtlandschaft und Verkehrsinfrastruktur wären vielleicht noch am ehesten zu bewältigen, wenn man nur wollte. Schlimmer ist die anhaltende Abwertung der Betroffenen durch die Verwendung des Begriffes "behindert" als Schimpfwort oder latent abwertende Kategorie. Schlimmer ist ihre humangenetische Selektion durch Bluttests in der Pränataldiagnostik, mit denen ein möglicher erbbiologischer Befund wie Trisomie 21 zum Anlaß genommen wird, den davon eventuell betroffenen Menschen gar nicht erst zur Welt kommen zu lassen [1].

Alle Barrierefreiheit kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Behinderung schon begrifflich eine Einschränkung darstellt, die in der auf Leistungsfähigkeit und Warenform ausgerichteten Marktgesellschaft kaum anders denn als Nachteil und Makel ausgelegt werden kann. So steht der Kategorie "Behinderung" nicht nur die vermeintliche Normalität physiologischer Funktionstüchtigkeit gegenüber. Als Norm gilt heute die "eigenverantwortliche" Optimierung der Marktsubjekte, die vom Verwertungszwang getriebene Zurichtung des Menschen auf Zwecke, die als eigenes Interesse auszuweisen nur über die Geldabstraktion, nicht aber über die Freiheit gelingt, sein Leben unbeeinträchtigt von fremden Forderungen führen zu können.

Es ist leicht ersichtlich, daß insbesondere mit einer körperlichen Beeinträchtigung geborene Menschen das Ideal der allzeit verfügbaren und attraktiven Physis so sehr verfehlen, daß sie des besonderen Schutzes bedürfen, um nicht zu verelenden oder Opfer rassistischer Gewalt zu werden. Deren Urheber nehmen im Wortsinne an Behinderten Anstoß, weil der von ihnen imaginierte Volkskörper in der globalen Konkurrenz nur siegreich sein kann, wenn seine Glieder dem Reinheitsideal weißer Identität, maskuliner Stärke und körperlicher Gesundheit genügen. Sichtbare Normabweichungen werden von der Klientel meist rechtsradikaler Parteien und Gruppen mit einem regelrechten Ekel vor der manifesten Antithese der von ihnen glorifizierten Suprematie eigener Art quittiert.

Sich als Mensch, der der normativen Vollständigkeit körperlicher und geistiger Fähigkeiten nicht entspricht, von dieser Feindseligkeit nicht in die Defensive drängen zu lassen bedarf mehr als eines bloßen Rechtsanspruches, den durchzusetzen die Stärke jener staatlichen Gewalt voraussetzt, die zugleich mit humangenetischer Selektion und sozialchauvinistischen Gesetzen die herrschende Klassenordnung bestätigt und vertieft. So wäre zum Beispiel zu fragen, worin die Behinderung all jener Menschen besteht, die sich vor oder nach der täglichen Arbeitszeit noch die Seele aus dem Leib rennen oder in der Maschinenwelt des Gym Akkordarbeit verrichten, für die sie nicht einmal bezahlt werden. Wie selbstbestimmt sind all diejenigen Marktsubjekte, die den eigenen Körper als fleischgewordene Signatur besonderer Individualität und Zugehörigkeit inszenieren, die in den Augen anderer nur bestätigt wird, wenn den aus ihrem Blick sprechenden Ansprüchen an Schönheit und Attraktivität Genüge getan wird?

Es ist keineswegs entschieden, ob der Schmerz, im sozialen Wettkampf zu unterliegen, weil es immer andere gibt, die schöner, stärker, reicher sind, leichter wegzustecken ist als die Ignoranz, die behinderte Menschen zu spüren bekommen, weil sie als PartnerInnen von vornherein nicht in Frage kommen. Was wissen die Schönen und Starken über die Mühen eines Alters, in dem die Strategien physischer Selbstbehauptung versagen, weil die körperliche Vitalität versiegt? Wieviel lebenswerter könnte eine Gesellschaft sein, in der die Verwertbarkeit körperlicher Jugend und sexueller Attraktivität nicht auf die Spitze eines Marktgeschehens getrieben würde, dem nicht zu genügen soviel Angst macht, daß die Wartezimmer der plastischen Chirurgen mit immer jüngeren Menschen überfüllt sind?

Wo der Sozialdarwinismus zur zentralen Achse gesellschaftlicher Teilhaberschaft wird, kann der in der BRK verankerte Anspruch auf Menschenwürde nicht über ein Lippenbekenntnis hinausreichen, das zur Beschwichtigung von Verachtung und Ausgrenzung betroffener Gruppen dient. Dementsprechend können die Gleichstellungspolitiken, die das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes zumindest formaljuristisch bestätigen, keiner damit adressierten sozialen Minderheit weiterhelfen, wenn diese nicht selbst tätig wird. Es ist wieder an der Zeit, laut und kämpferisch für das Falsche, Abweichende, Häßliche und Unheimliche zu streiten, denn nur so wird das Richtige, Normale, Schöne und Vertraute als Ergebnis einer Konsensproduktion exponiert, mit der nichts als die Beherrschbarkeit und Verfügbarkeit ihrer Subjekte hergestellt wird.

In einer Welt, in der die Augen ausgemergelter Hungernder vom Schmerz eines Lebens künden, das in der Sattheit der Feisten rückstandslos verstoffwechselt wird, um beim Ruf nach Mehr die Schreie der Ertrinkenden zu übertönen, die zu retten nur dann interessiert, wenn es sich um die Passagiere eines Kreuzfahrtschiffes handelt, sind auch universale Rechtsansprüche wie die der UN-Behindertenrechtskonvention von der Handschrift eines Herrschaftsanspruches gezeichnet, der am Los der Ausgebeuteten und Unterdrückten nichts Grundsätzliches ändern will. Als zum Schaulaufen beim Schönheitswettbewerb nicht zugelassener Behinderter keinen Erwartungen genügen zu müssen und so aus dem Vollen all dessen schöpfen zu können, was nicht durch Eigentumsansprüche versiegelt und vernagelt ist, könnte etwa so entlastend sein, wie in einem Land, in dem schwarze Fußballspieler, wenn sie am Ball sind, von "Neger, Neger, Neger"-Chören verfolgt werden, die im ganzen Stadion zu hören sind, nicht weiß und nicht deutsch zu sein.


Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/report/pprb0026.html

25. März 2019


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