Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


RAUB/1226: Europa - Handelsfront Ostasien ... (SB)



Freihandel ist der Protektionismus der Mächtigen
Vandana Shiva (Globalisierungskritikerin und Ökofeministin) [1]

In der Geschichte kolonialer, neokolonialer und imperialistischer Ausbeutung und Zurichtung hat es den sogenannten Freihandel historisch nie gegeben. Schon in seiner klassischen theoretischen Begründung durch David Ricardo ist er an fiktive Funktionsbedingungen geknüpft, die nicht existierende Voraussetzungen konstruieren, um darauf ein Theoriegebäude ohne Fundament zu errichten. Handel zu treiben ist ein Geschäft, das auf ungleichen Voraussetzungen gründet oder diese im Vollzug des Warentausches zu realisieren trachtet. Wenn Staaten miteinander in Handelsbeziehungen treten, versuchen sie einerseits, ihre eigene Wirtschaft durch Abschottung zu schützen, während sie andererseits eine Öffnung des Handelspartners anstreben, um Raum für eigene Exporte und Investitionen zu schaffen. Hinzu kommt das Bestreben, mit währungspolitischen Instrumenten Kontrolle über Ausgleichsmechanismen wie insbesondere den Wechselkurs zu erlangen. Erfolgreicher Handel bleibt also im Kern eine Machtfrage.

Das gilt auch für die Europäische Union, deren ausgeklügeltes Zollregime die Marktzugangsrestriktionen verschärft, sobald unerwünschte Konkurrenz in Erscheinung tritt. In ihrem Inneren ist die EU ein Bündnis ungleich starker Volkswirtschaften, deren südliche Peripherie mit Griechenland, Spanien, Portugal und Italien insbesondere vom Exportweltmeister Deutschland dominiert und ausgeplündert wird, wobei die Eurozone als Klammer und Fessel die schwächeren Mitglieder mangels eigener Währung an einer Abwertung hindert. Während sich so der Vorsprung der führenden Länder innerhalb der EU vergrößert, ist diese als Staatenbündnis insgesamt bestrebt, sich nach außen hin in der internationalen Konkurrenz zu behaupten und durchzusetzen.

Die EU hat 2006 als ihr Ziel ausgewiesen, zum "wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt" aufzusteigen, und verfolgt dieses Vorhaben trotz aller Hemmnisse weiterhin. Die dem zugrunde liegende Exportstrategie setzt voraus, daß Freihandel und liberale Marktöffnung weltweit als wirtschaftspolitische Dogmen anerkannt werden. Daher geht es bei den rund 20 Abkommen, welche die EU-Kommission in jüngerer Zeit abgeschlossen oder noch in Arbeit hat, nicht nur um handelspolitische Vereinbarungen, sondern um die Fortschreibung der neoliberalen Globalisierung. Die einflußreichsten EU-Mitgliedsstaaten, allen voran die Bundesrepublik, setzen darauf, wachsende Handelsbilanzüberschüsse gegenüber dem Rest der Welt zu erzielen, weiterhin die Regeln zu bestimmen, wirtschaftspolitische Standards zu setzen und diese auf möglichst lange Zeit festzuschreiben. Angesichts wachsenden Widerstands gegen Freihandelsabkommen, aber auch der protektionistischen Handelspolitik der USA ist die EU-Kommission bestrebt, möglichst viele derartige Abkommen zu schließen, ehe eine protektionistische Politik weltweit die Oberhand gewinnt.

In diesen Abkommen geht es darum, den Marktzugang für ausländische Unternehmen umfassend zu gewährleisten, indem Zollschranken beseitigt, Restriktionen im öffentlichen Beschaffungswesen wie auch in bezug auf Dienstleistungen und Agrarmärkte aufgehoben sowie Infrastrukturen und Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge weitgehend kommerzialisiert werden. Die Vereinheitlichung von Standards und die Beseitigung nichttarifärer Handelshemmnisse erfolgt im Zuge regulatorischer Kooperation, das heißt durch bevorzugte Mitwirkung transnationaler Konzerne an der Erarbeitung neuer gesetzlicher Regelungen.

Besonders umstritten ist die Absicherung der Profiterwartungen ausländischer Investoren durch die vertragliche Verankerung von Sonderklagerechten oder die Schaffung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs. Um möglichen Widerstand zu entschärfen, werden entsprechende Klauseln inzwischen aus den Verträgen ausgekoppelt, um deren Ratifizierung durch das Europaparlament nicht zu verzögern. Dieses Manöver liegt nahe, nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Falle des Abkommens der EU mit Kanada (CETA) entschieden hat, daß Investitionsschutzklauseln den Parlamenten der EU-Mitgliedsländer zur Billigung vorgelegt werden müssen.

Da mit derartigen Freihandelsabkommen eine langfristige und unumkehrbare Öffnung außereuropäischer Länder für die Exportoffensive der EU angestrebt wird, sind Klauseln enthalten, wonach weitere Zollsenkungen und Privatisierungen möglich sind, aber einmal verabredete Zollsenkungen oder vollzogene Privatisierungen von Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht mehr rückgängig gemacht werden dürfen. Die EU setzt also den Fuß in die Tür, die immer weiter geöffnet werden, aber nie wieder geschlossen werden soll.

In Südamerika ist die EU mit dem Mercosur (Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay) im Geschäft, dessen Wirtschaftsraum mehr als 260 Millionen Menschen umfaßt, so daß zusammen mit den 512 Millionen Einwohnern der EU die weltweit größte Freihandelszone geschaffen wird. In Asien wurde im Juli 2018 ein Abkommen mit Japan (JEFTA) besiegelt, das nach Angaben der EU 30 Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts umfaßt. Nach dem faktischen Scheitern des Abkommens mit der ASEAN-Gruppe verhandelt die EU derzeit bilaterale Abkommen mit Vietnam, Indonesien und Singapur.

Das Europaparlament hat nun dem Freihandelsabkommen mit Vietnam (EU-Vietnam Free Trade Agreement - EVFTA) zugestimmt, das als weitreichendstes bezeichnet wird, das jemals mit einem Schwellenland abgeschlossen wurde. Vietnam ist mit seinen 95 Millionen Einwohnern nach Singapur der wichtigste Handelspartner für die EU in Südostasien. Es zählt zwar zu den ärmsten Ländern der Welt, ist aber auch eine rasant wachsende Volkswirtschaft, deren BIP 2018 um 7,08 Prozent stieg. Die EU setzt auf dieses Wachstumspotential und betrachtet das Handelsabkommen als Mittel, ihre Präsenz in Asien auszuweiten. Das Abkommen muß nun im nächsten Schritt vom EU-Rat mit einer qualifizierten Mehrheit beschlossen werden, bevor es voraussichtlich Mitte des Jahres in Kraft treten kann. [2] Der vietnamesische Industrie- und Handelsminister Tran Tuan Anh bezeichnete den Beschluß des EU-Parlaments als bedeutenden Meilenstein in der Beziehung zwischen der EU und dem südostasiatischen Land. Das Vorhaben werde nun dem Staatspräsidenten und dann der Nationalversammlung zur Absegnung vorgelegt, die im Mai zusammentreten dürfte. [3]

Tritt das Abkommen in Kraft, werden sofort die Zölle auf fast zwei Drittel aller EU-Exporte nach Vietnam abgeschafft, worauf innerhalb der kommenden zehn Jahre nach und nach fast alle weiteren Abgaben verschwinden sollen, so daß schließlich 99 Prozent der EU-Exporte nach Vietnam zollfrei sein werden. Umgekehrt fallen nach dem Inkrafttreten die EU-Importzölle auf 71 Prozent aller vietnamesischen Waren weg, nach sieben Jahren wären es 99 Prozent. Zudem wird es Quoten für die Einfuhr einer Reihe von landwirtschaftlichen Produkten geben. Laut EU-Kommission exportiert die EU hauptsächlich Hightech-Produkte wie elektrische Maschinen, Flugzeuge, Fahrzeuge und pharmazeutische Produkte nach Vietnam. Aus dem südostasiatischen Land kommen vor allem Telefone, elektronische Produkte, Schuhe und Kleidung.

Außerdem sollen EU-Unternehmen leichter an öffentliche Aufträge in Vietnam kommen, was so weit gehen wird, daß beispielsweise europäische Konzerne privatisierte vietnamesische Krankenhäuser betreiben. Und es sollen bürokratische Hürden fallen, indem Vietnam etwa internationale Standards einführt und EU-Zertifikate akzeptiert. Einigung gab es auch zum Umgang mit geistigem Eigentum. Zugleich verpflichtet sich die vietnamesische Seite dazu, internationale Arbeits- und Umweltstandards einzuhalten. Dazu gehören das Verbot der Zwangs- und Kinderarbeit oder die Möglichkeit, unabhängige Gewerkschaften in den Betrieben zu gründen, die sich nicht dem kommunistischen Gewerkschaftsbund anschließen müssen. [4]

Das ebenfalls vorgesehene Investitionsschutzabkommen wurde wohlweislich ausgekoppelt und muß zunächst von den Mitgliedstaaten nach deren jeweiligen internen Verfahren ratifiziert werden. Das Abkommen hat für die EU aber nicht nur wirtschaftliche, sondern auch geostrategische Bedeutung. Die Union hat zuletzt starke Beziehungen zu Vietnam geknüpft und mit der Regierung in Hanoi eine Sicherheitspartnerschaft abgeschlossen - nicht zuletzt, um dem starken Einfluß Chinas in der Region etwas entgegenzusetzen.

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier sprach von einem wichtigen Zeichen für Freihandel und gegen Protektionismus. "Vietnam ist ein wachstumsstarker Markt mit einem enormen Marktpotenzial für europäische Produkte und Dienstleistungen." Der Exporteursverband BGA sieht für Unternehmen einen deutlich besseren Zugang zu einem aufstrebenden Markt mit fast 100 Millionen Menschen.

28 Organisationen, darunter Human Rights Watch, hatten gefordert, das Votum des EU-Parlaments zu vertagen, bis die Regierung Vietnams zustimme, "konkrete und überprüfbare Maßnahmen beim Schutz von Arbeitnehmer- und Menschenrechten einzuhalten". EU-Handelskommissar Phil Hogan hatte vor dem EU-Parlament zwar eingeräumt, daß die Menschenrechtslage sicher ein Problem sei, doch betonte er, daß die EU nur durch das Handelsabkommen Reformen im Land voranbringen könne. Der SPD-Abgeordnete und Vorsitzende des Handelsausschusses im EU-Parlament Bernd Lange teilte nach dem Votum mit, die EU wolle durch das Handelsabkommen die Lebensbedingungen der Menschen in Vietnam verbessern. "Isolation ändert ein Land und seine Machtverhältnisse nicht, sondern zementiert bestehende Verhältnisse", verlegte sich auch Lange auf das Prinzip "Wandel durch Handel", mit der westliche Regierungen noch jeden Pakt zu ihren Gunsten als angeblichen Königsweg zur Durchsetzung der Menschenrechte verbrämt haben. So versuchte Hogan, Kritik mit dem Hinweis zu beschwichtigen, Vietnam habe bereits sechs der acht Normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) unterzeichnet und verfolge den Plan, das bis 2023 auch mit den verbleibenden beiden zu tun. Vietnam arbeite konkret daran, Kinderarbeit zu beseitigen.

Hingegen erklärte Anna Cavazzini, handelspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im EU-Parlament, sie lehne es ab, daß die EU die vietnamesische Regierung und ihr brutales Vorgehen gegen Oppositionelle mit einem Handelsabkommen adle. In einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International vom Mai 2019 heißt es, daß mindestens 128 politische Häftlinge unter "entsetzlichen" und "schäbigen" Bedingungen untergebracht seien. Sie würden gefoltert, mißhandelt und von ihren Mitgefangenen isoliert, außerdem hätten sie keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung, sauberem Wasser und frischer Luft. [5]

Mit vereinbarten Standards allein ist es natürlich nicht getan. Das zeigen Handelsverträge aus der Vergangenheit, in denen bereits arbeits- und umweltrechtliche Standards eingefordert wurden, zuletzt mit Singapur und Südkorea. Bisher hat die EU-Kommission, die über die Einhaltung der Verträge wacht, diese ambitionierten Vorgaben nur unzureichend durchgesetzt. Südkorea hat sich 2011 verpflichtet, die ILO-Normen umzusetzen, aber bis heute nur die Hälfte davon ratifiziert. Es sei richtig, den Vertrag trotzdem abzuschließen, so Bernd Lange. Entscheidend bleibe, daß die EU-Kommission künftig konsequenter auf die Einhaltung der Vorgaben pocht. Handelskommissar Hogan hat einen neuen Posten des Durchsetzungsbeauftragten für den Handel in Aussicht gestellt, der die Umsetzung überwachen und sicherstellen soll, daß sich alle Partner an ihre Verpflichtungen halten. Wird dieser Durchsetzungsbeauftragte tatsächlich substantielle Durchgriffsmöglichkeiten bekommen oder eine "lahme Ente" sein? Ehe das Gegenteil bewiesen ist, steht letzteres zu befürchten, wobei sich ohnehin die Frage stellt, ob es überhaupt wünschenswert sein kann, daß ein EU-Administrator sanktionsbewehrt in einem anderen Land wie Vietnam durchgreifen kann.

Grundsätzlich bleibt anzumerken, daß sich die öffentliche Diskussion um Freihandelsabkommen erheblich verschoben hat. Zum einen wird das sogenannte offene und regelbasierte Handelssystem mit dem Kernargument glorifiziert, es gehe darum, die Welthandelsorganisation WTO zu stärken und europäische Werte weltweit zu verankern. Dies als positiven Gegenentwurf zur aggressiven Schutzzollpolitik der Trump-Administration zu verkaufen, unterschlägt jedoch, daß die USA das bisher dominierende System fortführen, allerdings unter offener US-Dominanz, wie die Aufkündigung und Neuverhandlung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) mit Kanada und Mexiko gezeigt hat. Das macht die Abkommen der EU nicht prinzipiell besser, generiert aber Zuspruch in den Bevölkerungen Europas, die in diesem verschärften Konkurrenzkampf auf die Verteidigung eigener Vorteile eingeschworen werden, als profitierten sie tatsächlich in ihrer breiten Mehrheit von Freihandelsabkommen.

Zum anderen wird zwar massiv Kritik an der Regierung Vietnams und repressiven Verhältnissen im Land geübt, doch übertönt diese Stoßrichtung die ohnehin stark rückläufige öffentliche Kritik an dem Freihandelsabkommen als solchem. Kam es gegen TTIP, CETA und Konsorten noch zu Massendemonstrationen auf deutschen Straßen, gingen die Abkommen mit Japan, dem Mercosur und nun auch Vietnam nahezu reibungslos über die Bühne, kann von einer substantiellen Mobilisierung keine Rede mehr sein. Daß es bei diesen Abkommen um einen handelspolitischen Machtkampf von Blöcken und Staaten untereinander wie auch gegen Dritte, vor allem aber um Instrumente zur verschärften Zurichtung der beiderseitigen Bevölkerungen geht, sollte nicht in Vergessenheit geraten.


Fußnoten:

[1] www.rosalux.de/publikation/id/40001/freihandel-mit-allen-und-um-jeden-preis/

[2] www.dw.com/de/die-eu-und-vietnam-sind-im-geschäft/a-52341676

[3] www.onvista.de/news/eu-parlament-billigt-eu-freihandelsabkommen-mit-vietnam-327873891

[4] www.welt.de/wirtschaft/article205755607/Abkommen-mit-Vietnam-Die-EU-macht-jetzt-Globalisierung-nach-ihren-eigenen-Regeln.html

[5] rp-online.de/politik/ausland/eu-freihandelsabkommen-mit-vietnam-kritik-bei-menschenrechtlern_aid-48887885

14. Februar 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang