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REPRESSION/1302: US-Richter verfolgt Kinder wegen Kinderpornografie (SB)



Als die heute 15jährige Schülerin Marissa Miller sich vor zwei Jahren zusammen mit ihrer Freundin Grace Kelly auf einer Party ablichten ließ, hatte sie nicht die geringste Vorstellung davon, daß es sich dabei um eine womöglich schwerwiegende Straftat handeln könnte. Beide Mädchen hatten ihren Oberkörper entblößt, trugen jedoch Büstenhalter. Diese Fotos erweckten im Zusammenhang mit umfassenderen Ermittlungen gegen das sogenannte "Sexting", das unter Jugendlichen in den USA angeblich verbreitete Versenden eigener Nacktaufnahmen auf die Mobiltelefone ihrer Freunde, die Aufmerksamkeit des Bezirksstaatsanwalts von Wyoming County im US-Gliedstaat Pennsylvania, George Skumanick.

Der sich zum Sittenwächter berufen fühlende Strafverfolger verordnete den beiden Mädchen, zusammen mit 18 anderen Schülerinnen und Schülern, die ebenfalls in nackter oder halbnackter Pose auf ihren Mobiltelefonen oder den anderer Schüler entdeckt wurden, den Besuch einer zehnstündigen Veranstaltung, in denen sie über die Gefahren von Pornographie und sexueller Gewalt belehrt werden sollten. Für den Fall, daß sie sich weigerten, drohte der Staatsanwalt den Betroffenen, die zur jeweiligen "Tatzeit" häufig selbst Kinder waren, eine Strafanzeige wegen sexuellen Mißbrauchs Minderjähriger durch kinderpornografische Darstellungen an, die zu einer längeren Haftstrafe und der Aufnahme ins Register verurteilter Sexualstraftäter führen könnte.

Vor eine solche Wahl gestellt tut man in den USA gut daran, sich dem Zwang zur moralischen Standpauke zu beugen. Die dort übliche Kultur öffentlicher Anprangerung und Stigmatisierung hat dazu geführt, daß Sexualstraftäter Freiwild einer Gesellschaft sind, die Abweichungen von der Sexualmoral, auch wenn sie nicht gewalttätiger Art sind, sondern im gegenseitigen Einvernehmen der Beteiligten erfolgen, mit aller Härte langjähriger Freiheitsberaubung und lebenslanger Ächtung bestraft. Drei der 20 zu erzieherischen Maßnahmen genötigten Jugendlichen haben jedoch Klage beim zuständigen US-Bundesgericht wegen Verstoßes gegen den ersten und vierten Zusatzartikel der US-Verfassung, also ihre Freiheitsrechte und des Verbots willkürlicher Durchsuchungen, eingereicht.

Die Entscheidung des Bundesrichters James Munley steht noch aus, doch der Fall hat inzwischen so viel Aufmerksamkeit erregt, daß das Phänomen des Versendens von Nacktfotos über das Mobiltelefon zur allgemeine Skandalisierung jugendlichen Verhaltens beitragen wird. Eines Verhaltens, bei dem es nicht um das Tragen von Waffen oder das Konsumieren von Drogen geht, sondern um Dinge, die pubertierende Jugendliche nun einmal tun. Daß sie sich dabei technischer Mittel bedienen, die dem Stand der herrschenden Produktionsweise entsprechen, kann ihnen schwerlich angelastet werden, gehört der Gebrauch des Mobiltelefons doch zur allgemeinen Vorbereitung auf das Leben in der vernetzten Arbeitsgesellschaft.

Welche Rolle die Praxis erwachsener Tugendwächter, eigene Probleme und Obsessionen auf dem Rücken Heranwachsender auszutragen, bei der sittenstrengen Zurichtung Jugendlicher spielt, braucht in Gesellschaften mit besonders repressiven Verhaltensregulativen nicht weiter erörtert zu werden. Auch die Frage danach, wieso die Handys von Schülern überhaupt auf ihre Inhalte hin kontrolliert werden, erübrigt sich angesichts des virulenten Verdachts, schon das Ansehen bestimmter Bilder könnte Menschen in Monster verwandeln. Die Betroffenen sehen sich jedenfalls mit einer paternalistischen Strafjustiz konfrontiert, die nicht von ungefähr insbesondere Mädchen - 16 der 20 inkriminierten Fälle betreffen Schülerinnen - auf eine Weise zur Rechenschaft zieht, die den gewalttätigen Charakter einer liberalen Gesellschaftsordnung, die ihre Freiheitlichkeit rühmt und die höchste Anzahl von Knastinsassen der Welt aufweist, nicht besser demonstrieren könnte.

29. März 2009