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REPRESSION/1435: Tod in Chile - Scharfe Schüsse gegen das Aufbegehren (SB)



Der Tod des 16 Jahre alten Manuel Gutiérrez Reinoso, der im Stadtteil Macul der Hauptstadt Santiago de Chile durch einen Schuß in die Brust starb, zeugt von der Entschlossenheit der Regierung, den Massenprotest mit harter Hand niederzuschlagen. Steht die seit Monaten anwachsende Protestbewegung gegen das Bildungssystem und Sozialwesen an der Schwelle, die Gesellschaftsordnung grundlegend in Frage zu stellen, so richten die Eliten und staatstragenden Mächte des Landes die eiserne Faust ihrer Sicherheitskräfte gegen den Aufstand, um ihn mit repressiver Gewalt in die Knie zu zwingen.

Vor wenigen Tagen wurden geheime Waffenlieferungen an die Armee bekannt, und in der Hafenstadt Valparaíso legten Polizisten mit scharfer Munition auf demonstrierende Studenten an. Der rechtsgerichtete Bürgermeister der Hauptstadt hat bereits angedroht, am 11. September, dem Jahrestag des Militärputsches gegen die Regierung Salvador Allendes, die Armee gegen Demonstranten einzusetzen. [1] Wie diese Eskalation unterstreicht, nimmt das politische Establishment Chiles den Tod jener gezielt in Kauf, die sich gegen die herrschenden Verhältnisse erheben.

Zur Aufstandsbekämpfung gerüstete Polizisten gingen mit Wasserwerfern, Tränengas, Schlagstöcken und scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Zahlreiche Menschen wurden verletzt, bis zu 1.400 festgenommen. Manuel Gutiérrez Reinoso wurde Augenzeugen zufolge von Angehörigen der Sondereinsatzkommandos paramilitärischer Carabineros erschossen, als er einen kleinen Übergang überquerte. Ein Freund, der den jungen Mann begleitet hatte, berichtete, sie hätten sich selbst nicht an den Protesten beteiligt. [2] Ein anderer Jugendlicher, der 18 Jahre alte Mario Parraguez Pinto, wurde am Auge getroffen und liegt in kritischem Zustand in einem Krankenhaus der Hauptstadt. [3]

Da klingt es wie Hohn, wenn Vizeminister Rodrigo Ubilla erklärt, Chile müsse "traurig sein, weil wir nicht alle in der Lage waren, uns friedlich und geordnet zu verhalten, um die großen Probleme und Herausforderungen dieses Landes zu bewältigen". Die Regierung erwarte, daß der Tod des jungen Mannes schnell aufgeklärt wird. [4] Am ersten Tag des Generalstreiks hatte Präsident Sebastián Piñera 15 "einflußreiche" User des Microbloggingdienstes Twitter zum Mittagessen in den Regierungspalast eingeladen, wobei die Gäste aufgrund ihrer medialen Bedeutung oder der Anzahl ihrer Follower ausgewählt worden. Auch diese Geste zeigt die Doppelzüngigkeit der rechtsgerichteten politischen Führung, Gesprächsbereitschaft vorzutäuschen und zugleich auf der Straße massiv zuzuschlagen, um die Bewegung einzuschüchtern und zu spalten.

Die Regierungsparteien hatten den Aufruf zu einem zweitägigen Generalstreik des Gewerkschaftsverbandes CUT sowie von über 80 weiteren Organisationen schon im Vorfeld heftig angegriffen. Die Parteiführung der rechtsgerichteten UDI erklärte, der Protest werde nur von einer Minderheit unterstützt und sei der Entwicklung des Landes abträglich. Der Streik richte sich gegen die Bürger und alle arbeitenden Menschen. Wirtschaftsminister Pablo Longueira verurteilte den Streik als "unnütz und unnötig", er richte nur Schaden an. Die Regierung bezeichnete Streiktage als Gefahr für die öffentliche Ordnung, und die zuständigen Behörden verboten die angemeldete Route des Demonstrationszugs in Santiago.

Dennoch beteiligten sich nach Gewerkschaftsangaben landesweit in mehr als 50 Städten insgesamt 600.000 Menschen an den Aktionen, wobei allein in der Hauptstadt am zweiten Streiktag 300.000 Demonstranten auf die Straße gingen. Zu den erhobenen Forderungen gehörten ein kostenloses Bildungswesen, höhere Steuern für Reiche und Unternehmen, eine bessere Gesundheitsversorgung und Rentenerhöhungen für die Beschäftigten, die Ausarbeitung eines neuen Arbeitsgesetzes und nicht zuletzt eine Verfassungsreform. Dem Streikaufruf folgten Schüler, Studenten, Lehrer und Universitätsangestellte, Angestellte des öffentlichen Dienstes, Mitarbeiter aus dem Gesundheitssystem, Kupferarbeiter und Busfahrer. Sowohl die weitreichenden Forderungen als auch die Breite des Protests strafen die Behauptung Lügen, es handle sich lediglich um eine Minderheit, die um ihres eigenen Vorteils willen die Mehrheit der Gesellschaft schädige.

Es handelt sich im Gegenteil um eine Bewegung, die nicht länger hinzunehmen bereit ist, daß die chilenischen Mittel- und Unterschichten von einer kleinen Elite ausgeplündert, verelendet und unterdrückt werden. Der zweitägige Generalstreik war der erste seiner Art seit dem Ende der Diktatur Augusto Pinochets im Jahr 1990, deren Erbe nach wie vor insbesondere in der Arbeitswelt und dem Bildungssystem fortwirkt. Aktuellen Umfragen zufolge wird der Protest der Schüler und Studenten von bis zu 80 Prozent der Bevölkerung unterstützt, während die Zustimmungsrate Präsident Piñeras auf zuletzt 26 Prozent gesunken ist.

Seit der Protest der Schüler und Studenten am 13. Mai begonnen hat, reagierte die Regierung mit zunehmender Repression auf die Bewegung. Dessen ungeachtet wuchsen die Demonstrationszüge an, so daß am 30. Juni landesweit mindestens 120.000 Menschen auf die Straße gingen. Am 4. August wurden 874 Schüler verhaftet, als paramilitärische Polizisten ihre Demonstration auflösten. Fünf Tage später demonstrierten Zehntausende in Santiago, gegen die Polizeikräfte mit Wasserwerfern, Tränengas und Massenverhaftungen vorgingen.

Kein anderes Bildungssystem Südamerikas bevorteilt den Nachwuchs der Eliten und wohlhabenden Gesellschaftsschichten in so ausgeprägtem Maße wie das chilenische. Während der Staat nur 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung aufwendet, müssen 75 Prozent der Kosten für höhere Bildung von den Schülern und Studenten aufgebracht werden. Zwangsläufige Folge ist eine horrende Verschuldung zahlloser Familien, die ärmere Bevölkerungsschichten in besonderem Maße belastet.

Die Protestbewegung ließ sich nicht von Präsident Piñera abspeisen, der einige wenige Gesten vorgeblichen Entgegenkommens überdies mit einer höheren Rentabilität privater Universitäten für die Betreiber verbinden wollte. Auch die demonstrative Kabinettsumbildung, der mit Bildungsminister Joaquín Lavín ein öffentlicher Verteidiger Pinochets weichen mußte, konnte das Aufbegehren nicht beschwichtigen. Längst ist die Rebellion der Schüler und Studenten über eine kurzlebige Unmutsäußerung, die sich aussitzen oder im Handumdrehen kaufen ließe, hinausgewachsen. Im Zuge ihrer rasanten Politisierung verbündet sich die Bewegung mit anderer Sektoren der chilenischen Gesellschaft, die aus der Betäubung der Nachdiktaturzeit zu erwachen und das Ausmaß ihres Verhängnis zu erkennen scheint.

Fußnoten:

[1] http://amerika21.de/nachrichten/2011/08/39553/proteste-gewalt-chile

[2] http://www.jungewelt.de/2011/08-27/070.php

[3] http://derstandard.at/1313025322189/16-jaehriger-Jugendlicher-bei-Protesten-getoetet

[4] http://www.wsws.org/articles/2011/aug2011/chil-a27.shtml

28. August 2011