Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

REPRESSION/1440: Occupy Wall Street ... in den USA regt sich sozialer Widerstand (SB)



Eine offizielle Armutsquote von über 15 Prozent, weit über 40 Millionen Bürger, die ohne Krankenversicherung, vollwertige Ernährung und angemessene Wohnbedingungen überleben müssen, stehen einer kleinen Gruppe von Superreichen gegenüber, die, wie die jüngste Forbes-Liste der 400 reichsten US-Bürger angibt, ihr Vermögen mitten in der Krise im Vergleich zur letzten Aufstellung um zwölf Prozent mehren konnte. Unter den hundert reichsten US-Bürgern befinden sich 96 Personen, die ihre Milliarden hauptberuflich mit Geschäften am Finanzmarkt gemacht haben. Daß das Geld für Kapitaleigner und Investoren arbeitet, verhöhnt die Entbehrungen derjenigen, die ihr Leben den Hungerlöhnen des US-Niedriglohnsektors fristen, und ignoriert die transnationalen Wertschöpfungsketten, an deren Beginn das Elend von Milliarden steht. So platt es angesichts der Komplexität des mehrwertproduzierenden kapitalistischen Weltsystems erscheinen mag, ist der offensichtliche Widerspruch zwischen dem überbordenden Reichtum einer kleinen Elite und der anwachsenden Armut des großen Rests doch der manifeste Ausdruck des zentralen gesellschaftlichen Konflikts auch in den USA.

Die Verhaftung von zahlreichen Demonstranten auf der New Yorker Brooklyn Bridge am Samstag zeigt, daß sich Widerstand gegen die eklatante Menschenverachtung dieses Gesellschaftssystems regt. Dabei ist die von diversen Organisationen Gruppen und Einzelpersonen getragene Bürgerbewegung [1], die seit dem 17. September friedliche Aktionen gegen die Dominanz der Finanzmarktakteure durchführt, mehrheitlich nicht radikal antikapitalistisch. Es handelt sich vor allem um Menschen, die aus naheliegenden, durchaus moralischen Gründen Einspruch gegen die Obszönität einer Verelendungspolitik erheben, die etwa Menschen ohne Krankenversicherung nötigt, lebensgefährliche Symptome aufzuweisen, um überhaupt eine medizinische Notfallbehandlung zu erhalten. Die meisten Protestler, die im Zucotti-Park in der Nähe der Wall Street ein permanentes Zeltlager eingerichtet haben, scheinen eher konsumkritische und antikorporatistische Forderungen zu erheben, als daß sie eindeutige Kapitalismuskritik übten.

Der an Vorbildern in Griechenland, Spanien, Ägypten und anderswo orientierte Protest ist ein für die US-Gesellschaft eher untypischer Aufbruch, richtet er sich doch gegen ein Symbol US-amerikanischer Macht, das in Frage zu stellen schon als kommunistisches Gesinnungsverbrechen verfolgt wurde. Auch noch 20 Jahre nach der Blockkonfrontation wird diese Macht von einer Staatsgewalt geschützt, die das bloße Aufkeimen einer Bewegung empörter Bürger frei nach der Devise "Wehret den Anfängen" mit massiven Mitteln unterdrückt. Heute kommt erschwerend hinzu, daß sich die Bürgerrechte in den USA in einem beklagenswerten Zustand befinden und die Gefahr, für kleine Delikte auf monströse Weise belangt zu werden, nicht zu unterschätzen ist.

Bereits am 24. September ist es zu Übergriffen der Polizei auf friedliche Demonstranten gekommen. Sie wurden mit Pfefferspray attackiert, mit orangenen Netzen isoliert und zu Dutzenden festgenommen. Die von den Betroffenen ironisch in Würdigung repressiver Maßnahmen bei Parteitagen der Republikaner und Demokraten "Freedom fence" genannten Netze kamen auch am Sonnabend auf der Brooklyn Bridge zum Einsatz. Auf diese weltbekannte Brücke waren die Demonstranten im guten Glauben gezogen, von der Polizei lediglich eskortiert zu werden. Seitens der Beamten war kein Versuch erfolgt, die Protestler am Betreten der Brücke zu hindern. Nachdem sie auf die Mitte angelangt waren, wurden sie von der Polizei plötzlich mit orangenen Netzen eingekesselt. 700 Teilnehmer der Demo wurden unter Verwendung von Handfesseln festgenommen. Die meisten wurden, nachdem sie Gerichtsvorladungen wegen Verkehrsbehinderung erhielten, wieder freigelassen.

Da es bereits zu ähnlichen Protesten in Boston, Chicago und San Francisco kam, besteht die Möglichkeit, daß sich auch in den USA eine längst überfällige Bewegung gegen das Kartell aus Kapital, Zweiparteiensystem und den daran beteiligten Funktionseliten formiert. Korrumpiert durch eine Ideologie von Freiheit und Demokratie, die in immer offenerem Widerspruch selbst zu den Werten des traditionellen US-Liberalismus steht, indoktriniert von einem Medienoligopol, das diesen Werten in ihrer neoliberalen Vulgarisierung weltweite Gültigkeit verschafft, und vergiftet durch einen Nationalismus, der die sozialen Widersprüche der US-Gesellschaft mit militärischen Mitteln in alle Welt exportiert, während die eigene Bevölkerung sich mit patriotischer Ergriffenheit hinter das Kriegsbanner schart, steht der soziale Widerstand in den USA vor besonders hohen Hürden.

Von daher entfalten die aggressiven Maßnahmen, mit denen die herrschenden Interessen durchgesetzt werden, durchaus aufklärerische Wirkung. Wo der Glaube an die Reformfähigkeit kapitalistischer Klassengesellschaften vorherrscht, wird man schnell eines besseren belehrt, wenn schon symbolische Aktionsformen dem im Terrorkrieg eingeübten Freund-Feind-Schema des staatlichen Gewaltapparats unterworfen werden. Wenn die Protestler in New York City in der Lage wären, den Schulterschluß mit den bis zu 12.000 Gefangenen herzustellen, die sich derzeit im zweiten Hungerstreik gegen die unmenschlichen Haftbedingungen in den kalifornischen Hochsicherheitstrakten [2] befinden, wenn sie sich mit Arbeitskämpfen solidarisch erklärten, dann nähme ihre Bewegung auf eine Weise Fahrt auf, die mehr Fragen aufwürfe, als mit den Vorstellungen, das Problem bestehe lediglich in korporatistischen Strukturen, der Gier der Reichen oder dem Mißbrauch eines ansonsten sozial gerechten politischen Systems, beantwortet werden können.

Fußnoten:

[1] https://occupywallst.org/

[2] http://prisonerhungerstrikesolidarity.wordpress.com/

http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1439.html

2. Oktober 2011