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REPRESSION/1450: Weniger Demokratie wagen? Was wußte der Verfassungsschutz über Mord an Polizistin? (SB)



Eigentlich sollte es niemanden überraschen, daß der Verfassungsschutz jetzt auch noch im Verdacht steht, er habe ein Mitglied der Polizei über die Klinge springen lassen. Am Mittwoch brachte das Magazin "stern" die Vermutung auf, daß Verfassungsschützer möglicherweise nicht nur in die Morde an mindestens zehn Türken und Griechen, sondern auch in den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetters vor vier Jahren in Heilbronn involviert waren. Zu dem Zeitpunkt habe der US-Militärgeheimdienst DIA mit zwei Verfassungsschutzbeamten aus Baden-Württemberg oder Bayern eine Observation in Heilbronn durchgeführt. Als die Polizistin erschossen und ihr Kollege schwer verletzt wurden, bewegten sich die observierenden Geheimdienstler auf den Tatort Theresienpark zu. Nach den Schüssen brachen sie die Observierung ab. Das geht aus einem Protokoll mit Datum vom 25. April 2007 hervor, aus dem der "stern" vorab online zitiert und das er wie folgt übersetzt hat:

"Schießerei, in die BW Ops Offizier mit Rechtsextremen und regulärer Polizeistreife vor Ort verwickelt waren." [1]

Die Authentizität des Protokolls ist noch nicht bestätigt. Der Verfassungsschutz hat bereits dementiert, daß zu der Zeit eine Observation vor Ort war. [2] Wenn man aber einmal annimmt, daß das Protokoll echt ist, dann liegt es nahe, daß nicht nur die DIA, sondern auch der Verfassungsschutz wußte, auf wessen Konto der Mord im Theresienpark ging. Das wiederum könnte bedeuten, daß die Ermordung Kiesewetters kein Zufall war, zumal der oder die Täter aus der vor kurzem aufgeflogenen, rechtsextremen Zwickauer Gruppe NSU "Nationalsozialistischer Untergrund" schon eine Reihe von Morden begangen und ihre Opfer immer aus dem Kreis türkischer oder griechischer Einwanderer ausgesucht hatten. Eine Polizistin paßt nicht ins Profil - warum mußte sie sterben? Was wußte der Verfassungsschutz, dessen Mitarbeiter ja nachweislich bei mindestens einem Mord am gleichen Ort (Internetcafé) zugegen war?

War es Zufall, daß die Observation in Heilbronn abgesehen von einer unbekannten Person dem Türken Mevlüt K. gegolten haben soll, der sowohl für den türkischen Geheimdienst MIT als auch die US-amerikanische CIA gearbeitet hat und der der sogenannten Sauerland-Gruppe 20 Zünder für Bomben hatte zukommen lassen? Gibt es eine Verbindung zwischen der rechtsextremen Untergrundorganisation und den sogenannten islamistischen Terroristen?

Ja, den gibt es eindeutig, auch wenn BKA-Präsident Jörg Ziercke am Donnerstag auf einer Pressekonferenz laut "stern" [3] behauptet hat, daß "sich Mevlüt K. zu der fraglichen Zeit wohl nicht in Deutschland aufgehalten" habe. Dennoch, der gemeinsame Nenner besteht in den Geheimdiensten. Mitglieder beider Gruppen standen mindestens zeitweilig unter Beobachtung; mehr noch, der Rechtsextremismus wie der Islamismus wurden von Geheimdiensten tatkräftig unterstützt. Die sogenannten Islamisten wurden mit Bombenzündern versorgt, die Rechtsextremen mit Geldern. Desweiteren hat ein muslimischer Prediger aus Ulm, der wesentlich zur Anwerbung der Konvertiten der Sauerlandgruppe beigetragen haben soll, für den Verfassungsschutz gearbeitet, der auch reichlich Mitarbeiter in der rechten bis rechtsextremen Szene hat. Man könnte die Involvierung so deuten, daß beide Gruppierungen mindestens partiell vom Geheimdienst geführt wurden.

Haben politische Analysten, die vorschlagen, man sollte "weniger Demokratie wagen" [4], lediglich nachvollzogen, was längst verwirklicht wurde? Das DIA-Protokoll, so es denn echt ist, legt nahe, daß in der Bundesrepublik Deutschland Morde unter den Augen des Verfassungsschutzes begangen werden und dieser an einer ihm genehmen Stelle, nämlich rechts, ein Auge zudrückt.

Die Verfassungsschützer haben die Grenze von der bloßen Schutzfunktion zur operativen Offensive, bei der gezielt Legitimationsvorwände geschaffen werden, um sich weitere Befugnisse zu Lasten des eigentlichen Souveräns anzueignen, längst überschritten. Die Verfassung wird nicht geschützt, sondern sie wird einer Gefahr ausgesetzt, um sie anschließend schützen zu können. Eine Methode, die nicht darauf abzielt, die Grundrechte der Bundesbürgerinnen und -bürger zu sichern, sondern um sie abzubauen. Weniger Demokratie wagen geht logischerweise nur, wenn man sie abschafft. Das verbietet jedoch die Verfassung. Deshalb müßten ihre vermeintlichen Schützer in die Schranken gewiesen werden und dürften nicht, wie es bereits diskutiert wird, mit weiteren Kompetenzen und Mitteln ausgestattet werden, damit ein "Versagen" wie in Thüringen nicht noch einmal vorkommt. Noch während die Ermittlungen in Sachen NSU laufen, werden bereits sprach- und damit denkregulatorische Leitplanken aufgestellt, damit die Öffentlichkeit die Kröte vom "Versagen des Verfassungsschutzes" schluckt und dessen Machenschaften nicht etwa als eine Politik der Spannung erkennt, wie sie während des Kalten Kriegs von der NATO unter dem Titel "Gladio" betrieben wurde.



Anmerkungen:

[1] http://www.stern.de/politik/deutschland/heilbronner-polizistinnenmord-waren-verfassungsschuetzer-zeuge-beim-mord-an-michele-kiesewetter-1757092.html

[2] http://www.verfassungsschutz.de/de/aktuell_thema/meldungen/me_20111130_stellungnahme_stern.de.pdf

[3] http://www.stern.de/politik/deutschland/fahndungsplakat-mit-zwickauer-rechtsterroristen-die-braungebrannten-neonazis-1757694.html

[4] Laszlo Trankovits: "Weniger Demokratie wagen. Wie Wirtschaft und Politik wieder handlungsfähig werden", Frankfurter Allgemeine Buch, August 2011.

1. Dezember 2011