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REPRESSION/1495: Trennscharf entufert - die panoptische Klassengesellschaft (SB)




Die Affäre um die Überwachungsaktivitäten US-amerikanischer und britischer Geheimdienste fördert Konturen eines globalen Gewaltverhältnisses zutage, das den davon betroffenen Bevölkerungen allemal Angst machen muß. Das Schicksal Edward Snowdens, als nunmehr Staatenloser bislang bei keiner Regierung den Schutz zu finden, der es ihm ermöglichte, sich nicht für spezifische Interessen instrumentalisieren zu lassen und in Freiheit zu leben, repräsentiert in gewisser Weise die Ohnmacht aller Menschen, die diesem Verhältnis als Lohnabhängige oder Versorgungsbedürftige ausgeliefert sind, in seinen rechtlichen und politischen Abgründen. Während sich lateinamerikanische Regierungen, die für die Gewährleistung einer sicheren Zuflucht für Snowden in Frage kämen, den Drohungen Washingtons, ihnen das Leben auf diese oder jene Weise schwerzumachen, zu beugen scheinen, demonstrieren die EU-Administrationen das ganze Ausmaß ihrer opportunistischen Ambivalenz gegenüber der US-Regierung.

Das gilt nicht nur für das Überflugverbot für die Maschine des bolivianischen Präsidenten Evo Morales, den gleich mehrere EU-Staaten haben wissen lassen, daß sie sich an der Menschenjagd auf Snowden ohne Vorbehalte beteiligen. Insbesondere das Vorgehen führender EU-Politiker, zwar die Enthüllungen Snowdens zu beklagen, den Boten der Nachricht über die eigene Ausspähung durch die Dienste angeblicher Partnerstaaten aber nicht schützen zu wollen, weil er in den USA gegen geltendes Recht verstoßen habe, läßt tief blicken. Snowden nicht als politisch Verfolgten anzuerkennen, indem man ihm Asyl gewährt, heißt die an Whistleblowern wie Bradley Manning, Julien Assange und ihm vollzogene Repression zu legitimieren. Obwohl die US-Regierung im Rahmen ihrer grenzüberschreitenden Strafverfolgung so weit geht, eigene Bürger als sogenannte Terrorverdächtige per Drohnenbeschuß zu ermorden, obwohl die Anprangerung Snowdens durch US-amerikanische Regierungsbeamte, Politiker und Medien jede Chance auf einen annähernd fairen Prozeß zerstört hat und es darüber hinaus aufgrund der aufrechterhaltenen Administrativhaft in Guantanamo wie einer die Grundrechte eigener Staatsbürger fast nach Belieben suspendierenden Antiterrorgesetzgebung valide Gründe dafür gibt, die Rechtsstaatlichkeit des US-Justizwesens in Frage zu stellen, lehnt sich das Gros der europäischen Politiker nicht so weit aus dem Fenster, als daß sie die Forderung erhöben, Snowden unter allen Umständen vor dem Zugriff der US-Regierung zu schützen.

So drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß das Rechtsverständnis der europäischen Regierungen bei der Verfolgung politisch motivierter Oppositioneller nicht weniger als das der US-Regierung vom Gedanken einer exekutiven Ermächtigung korrumpiert ist, die geltendes Recht unter dem Vorwand suspendiert, es schützen zu wollen. Der von dem Verfassungsjuristen Barack Obama hinsichtlich der Überwachungspraxis der eigenen Geheimdienste im europäischen Ausland wie hinsichtlich der Strafwürdigkeit Edward Snowdens vertretenen Auffassung, all dies diene allein dem Schutz der USA, wäre europäischerseits mit dem naheliegenden Argument entgegenzutreten, daß eine Reziprozität dieser Praxis zwischen den transatlantischen Partnern tatsächlich auf eine Situation gegenseitiger Eskalation hinausliefe, wie sie in der Blockkonfrontation des sogenannten Kalten Krieges gang und gäbe war. Zudem sollten alle Herolde von freedom & democracy überaus empfänglich für das Argument sein, daß eine Regierung auf demokratischem Wege von ihrer Bevölkerung dazu mandatiert sei, jede Gefahr für deren Freiheit und Wohlergehen abzuwehren, also die rechtliche Integrität des eigenen Regierungshandelns nach außen wie innen zu sichern.

Derartige Überlegungen könnten ferner nicht liegen, haben es doch sämtliche Staatsapparate gerade in der andauernden Krise des Kapitals darauf abgesehen, die eigene Handlungsfähigkeit mit Hilfe notstandsartiger Sondervollmachten zu erweitern und ihre exekutive Macht gerade auch gegen die eigenen Bevölkerungen in Stellung zu bringen. Die um sich greifenden Aufstände gegen das Verelendungsregime der neoliberalen Austeritätspolitik erschüttern längst auch westliche Metropolengesellschaften, so daß die durch die informationstechnische Durchdringung des individuellen Arbeits- wie Privatlebens beflügelte Hydra des globalen Überwachungskomplexes nicht willkommener sein könnte. Die hierzulande geführte Diskussion um die Frage, inwieweit die Bundesregierung und ihre Geheimdienste Kenntnis von der US-amerikanischen und britischen Überwachungspraxis vor deren Enthüllung durch Snowden hatten, kratzt gerade einmal an der Oberfläche des transatlantischen Nutznießverhältnisses.

Alle dem entgegenstehenden Konfrontationen werden gerade so weit ausgetragen, als die zwischenimperialistische Konkurrenz nicht Gefahr läuft, die Basis der eigenen Produktivität, nämlich die weitreichend für die Interessen des Kapitals verfügbare Arbeitsbevölkerung, zu schwächen. So wird die flächendeckende Überwachungspraxis der USA und Britanniens vor allem deshalb beklagt, weil sie nicht einmal vor den Regierungsbehörden anderer, angeblich befreundeter Staaten haltmacht. Zudem nötigen die Enthüllungen Snowdens die davon betroffenen Regierungen zu demonstrativer Empörung, steht es zu deren Glaubwürdigkeit doch ohnehin nicht zum besten. Der lachhaften Behauptung, der großzügig bemittelte Auslandsgeheimdienst BND sei nicht in der Lage gewesen, die eigene Regierung über das Ausmaß der Ausspähung durch seine Partnerdienste zu informieren, kann nur entgegnet werden, daß sein Preis-Leistungsverhältnis ein dringender Fall für den Bundesrechnungshof ist. Da das legitimatorische Guthaben an Pleiten, Pech und Pannen, das der Staat hinsichtlich des Versagens, seinen offiziellen Auftrag zu erfüllen, in Rechnung stellen kann, schon in der NSU-Affäre aufgezehrt wurde, müßte die Bundesregierung eigentlich so nackt wie der vielzitierte Kaiser dastehen.

Dies gilt auch für die erklärte Absicht, die Verhandlungen für eine transatlantische Freihandelszone am Montag wie geplant aufzunehmen. "Höchste Priorität" wies Bundeskanzlerin Angela Merkel diesem Vorhaben im Telefongespräch mit US-Präsident Barack Obama zu, was wie ein Offenbarungseid gegenüber den an der Etablierung einer Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) vor allem interessierten Akteuren wirkt. Da es sich bei diesen um die größten finanzkapitalistischen und großindustriellen Akteure beiderseits des Atlantiks handelt, muß der potentielle Schaden der Ausforschung weit geringer sein als die Wachstumsimpulse, die die TTIP freisetzen soll. Die weitere Liberalisierung der Wirtschaftsräume der USA und EU zielt im Kern auf eine durch Verbilligung und Rationalisierung der Lohnarbeit, Erweiterung der Anlagemöglichkeiten und Verwertung immaterieller Güter bewirkte Sicherung der dauerhaft fallenden Profitrate des eingesetzten Kapitals ab. Die immanente Destruktivität seiner schrumpfenden Wertbasis soll mit der Durchsetzung der jeweils niedrigsten Entlohnungs- und Rechtsstandards für die Ware Arbeit, der fortschreitenden Kapitalkonzentration durch die Übernahme respektive Elimination jeweiliger Konkurrenzkapitale und der Etablierung neuer Defizitkreisläufe in ihrer perspektivischen Finalität weiter hinausgeschoben werden. Zudem sollen die aufstrebenden Schwellenstaaten von dem damit auf längere Zeit größten Wirtschaftsraum der Welt in die Schranken gewiesen und aufs neue dem Kommando der alten Imperialmächte unterworfen werden.

Daß die schnelle Etablierung der TTIP sich gegen die Interessen der Bevölkerungen in den USA wie der EU richtet, wo gerade erst damit begonnen wird, sich über die sozialfeindlichen, kulturzerstörerischen und antiökologischen Konsequenzen dieses administrativen Schrittes klarzuwerden, zeigt sich auch daran, daß die europäischen Verhandlungspartner mehr oder minder stillschweigend über ihre vorherige Ausforschung durch die US-Regierung hinweggehen wollen. Die naheliegende Vorstellung, was eine dementsprechende Entwicklung im Verhältnis zwischen der EU und China oder Rußland zur Folge gehabt hätte, macht vollends klar, daß für alle in Staat und Kapital an der Durchsetzung der TTIP Beteiligten sehr viel auf dem Spiel steht. Bloß keine schlafenden Hunde wecken und natürlich nicht erkennen lassen, daß der Haupteinwand gegen die entuferte Überwachungspraxis der US-amerikanischen und britischen Dienste darin besteht, nicht selbst über derartige Vollmachten zur Herrschaftssicherung zu verfügen oder zumindest nicht in ausreichender Weise an den Ergebnissen der angeblich befreundeten Dienste beteiligt zu werden.

So steht unter dem Strich der durch die Abhöraffäre zutage getretenen Interessendivergenzen und -konvergenzen ein großes Minuszeichen. Die Verluste an grund- und bürgerrechtlicher Integrität bedrohen den einzelnen Menschen und delegitimieren das demokratische Prozedere, auf dem sein Glaube an die vermeintliche Absicht des Staates, seine Freiheit und sein Wohlergehen zu schützen, beruht. In der Person Edward Snowdens wird nicht nur das Schicksal der vielen Flüchtlinge manifest, die auch zum Preis ihres Lebens keine Aufnahme in der EU finden. In ihm kulminiert auch die berechtigte Angst des bürgerlichen Subjekts, seiner rechtlichen Gewißheiten und humanitären Garantien beraubt Treibgut in einem sozialen Krieg zu sein, in dem es sehr bestimmt handelnden Mächten und Gewalten ausgeliefert ist. Bleibt massenhafter Widerstand in den reichsten Gesellschaften, deren Bürgerinnen und Bürger sich so unangreifbar fühlen, daß ihnen die Sorge um die überflüssig und stumm gemachten Menschen in aller Welt nicht ferner liegen könnte, weiterhin aus, könnte auch ihnen ein böses Erwachen drohen.


Fußnoten:

siehe dazu auch:

REPRESSION/1493: Die Geheimexekutive als institutionalisierter Ausnahmezustand (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1493.html

REPRESSION/1491: Informationelle Selbstbestimmung wird nicht mehr reichen ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1491.html

4. Juli 2013