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REPRESSION/1520: Solidarität mit den politischen Gefangenen! (SB)



Am 18. März 2015 findet wie jedes Jahr der Aktionstag für die Freiheit der politischen Gefangenen statt. Das Datum erinnert zum einen an den Aufstand der Pariser Kommune im Jahr 1871, aber auch an ihre Zerschlagung und die folgende Repression. Damals wurden mehr als 20.000 Männer und Frauen getötet, mehr als 40.000 zu meist lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Die 1922 gegründete Internationale Rote Hilfe erklärte 1923 den 18. März zum "Internationalen Tag der Hilfe für die politischen Gefangenen", wobei sie an die Berliner Arbeiterbewegung anknüpfte, die am 18. März 1848 auf die Barrikaden ging. Damals kam es zu heftigen Gefechten zwischen Bürgern und Militär mit mehreren hundert Toten. Nach der NS-Zeit wurde zu diesem Datum erst wieder 1996 ein bundesweiter Aktionstag ausgerufen und seither begangen.

Als politischer Gefangener gilt eine Person, die aufgrund politischer oder weltanschaulicher Gründe in Haft ist. Dies erstreckt sich sowohl auf Personen, die wegen Meinungsdelikten oder im jeweiligen Staat verbotenen politischen Aktivitäten festgehalten werden, als auch auf alle Fälle, bei denen die politische Einstellung oder politische Aktivitäten des Gefangenen maßgeblichen Einfluß auf die Strafzumessung hatten. Der UN-Zivilpakt schließt in den Artikeln 19 und 26 eine Verurteilung aufgrund politischer Ansichten aus und sichert allen Menschen das Recht auf freie Meinungsäußerung zu. Demzufolge verstößt eine politische Inhaftierung gegen internationales Recht.

Muß man von politischen Gefangenen in allen Ländern ausgehen, so auch in Deutschland, Westeuropa und den USA. In deutschen Gefängnissen sitzen unter Anwendung des § 129b insbesondere kurdische Linke wie auch Menschen, denen eine Unterstützung der in der Türkei verbotenen DHKP-C vorgeworfen wird. Zu den politischen Langzeitgefangenen in den USA zählen Mitglieder der Gruppe MOVE, an deren Geschichte im folgenden erinnert werden soll.

Vor 30 Jahren, am 13. Mai 1985, statuierte die Polizei der "Stadt der brüderlichen Liebe", Philadelphia, an den Mitgliedern einer vorwiegend aus Schwarzen bestehenden Kommune ein Exempel der Vernichtung, das nicht nur die Hautfarbe und radikale politische Einstellung der Betroffenen, sondern vor allem ihre Lebensform zum Ziel hatte. Der Polizeieinsatz gegen die Gruppe MOVE gipfelte nach massiven Angriffen mit Schußwaffen auf das Haus der Gemeinschaft im Abwurf einer Bombe. Trotz des spektakulären Charakters der Aktion und der hohen Opferzahl erhielt sie kaum einen Bruchteil der Aufmerksamkeit, den die Zerstörung der Farm der Davidianer im texanischen Waco durch amerikanische Bundestruppen im April 1993 fand. Da dort weiße Christen starben, empörten sich rechte Fundamentalisten landesweit über diesen Akt brutaler Gewalt. In Philadelphia starben Schwarze, die ein Befreiungskonzept auf der Basis einer kollektiven Lebensform verfolgten, das durch die Verbreitung ihrer antiautoritären, antirassistischen und radikalökologischen Ansichten auch unter schwarzen Bürgern auf Ablehnung stieß.

Da die Gruppe aufgrund ihrer gemeinschaftlichen Lebensführung nicht so leicht zu unterwandern war wie die Black Panther, aus der sie nach deren Zerschlagung durch das FBI hervorging, war sie den für ihren Rassismus bekannten Sicherheitsbehörden Philadelphias ein Dorn im Auge. Schon im März 1978 hatte der ehemalige Polizeichef und damalige Bürgermeister der Stadt, Frank Rizzo, die Räumung des MOVE-Zentrums im Stadtteil Powelton Village angeordnet. Die nach Belagerung durch die Polizei einsetzenden Proteste zwangen ihn jedoch, einer Verhandlungslösung zuzustimmen. Nachdem er einen Richter gefunden hatte, der die Räumung des Hauses und die Verhaftung der MOVE-Mitglieder wegen Verstoßes gegen das Wohnungsgesetz verfügte, zogen am frühen Morgen des 8. August 1978 300 Polizeibeamte mit gepanzerten Fahrzeugen, Räumgerät und Wasserwerfern auf, um die Bewohner zum Verlassen des Hauses zu zwingen. Man fackelte nicht lange und eröffnete das Feuer auf das Haus, woraufhin sich die MOVE-Mitglieder mit ihren Kindern in den Keller zurückzogen. Nachdem man diesen mit Feuerwehrschläuchen unter Wasser gesetzt hatte, mußten sich die Bewohner ergeben.

Der Angriff der Polizei wurde in der Öffentlichkeit massiv kritisiert, wobei der in Philadelphia in der Todeszelle sitzende Journalist und Aktivist Mumia Abu-Jamal eine führende Rolle spielte. Bürgermeister Rizzo wandte sich damals öffentlich mit der Drohung an die Presse: "Die Menschen glauben, was sie lesen, was ihr schreibt, was ihr sagt, und das muß aufhören. Eines Tages, und ich hoffe, es ist während meiner Amtszeit, werdet ihr dafür verantwortlich gemacht und zur Rechenschaft gezogen werden." Drei Jahre später wurde Abu-Jamal nach einem Mordfall, der ihn gezielt belasten sollte, zum Tode verurteilt. Beim Zustandekommen des überaus fragwürdigen Urteils spielte die Polizeigewerkschaft Fraternal Order of Police, der auch Rizzo angehörte, eine entscheidende Rolle. Obwohl es genügend entlastende Beweise und Zeugen gibt, hat es die mit der Polizei eng liierte Justiz der Stadt verstanden, die Möglichkeit der Exekution Abu-Jamals weiter aufrechtzuerhalten.

Bei dem Angriff auf das MOVE-Haus war ein Polizeibeamter erschossen worden, und den Ermittlungen der Betroffenen sowie Zeugen des Geschehens zufolge handelte es sich um einen Schuß aus der Waffe eines Polizisten. Das änderte nichts daran, daß man den neun verhafteten MOVE-Mitgliedern deswegen den Prozeß machte und sie im Mai 1980 wegen gemeinschaftlichen Totschlags und Verschwörung gegen den Staat zu Haftstrafen zwischen 30 und 100 Jahren verurteilte. Der Richter begründete seine schon von der Beweislage her auf äußerst wackligen Füßen stehende Kollektivstrafe unter anderem mit den Worten: "Da die Angeklagten sich als Familie bezeichnen, werden sie auch als Familie verurteilt. Ein individueller Tatnachweis ist nicht möglich. Ich weiß nicht, wer geschossen hat."

1998 und im Januar 2015 starben zwei MOVE-Mitglieder an den Folgen der Haft und aufgrund einer rigiden Strafjustiz, die eine Wiederaufnahme des Prozesses bis zum heutigen Tag verweigert und selbst nach dem 2008 erreichten Mindeststrafmaß von 30 Jahren weder eine Entlassung noch eine Begnadigung in Erwägung zieht. Nachdem das MOVE-Haus in Powelton Village noch am Räumungstag auf Anweisung der Behörden planiert und damit jede Möglichkeit der Spurensicherung vereitelt wurde, verlegte der MOVE-Gründer, der bei der Erstürmung nicht anwesend war, die Kommune 1981 in ein Reihenhaus in einem anderen Bereich von West Philadelphia. Um sich vor weiteren möglichen Angriffen zu schützen, wurde das Haus befestigt und mit einem Dachaufbau versehen, was die Polizei-Protokolle als Bau eines Bunkers ausweisen.

Die Anwohner der Osage Avenue, in der das MOVE-Haus lag, hatten sich über Lautsprecherdurchsagen der Aktivisten beschwert, mit denen sie die Freilassung ihrer fünf Jahre zuvor verurteilten Mitglieder forderten. Diesen Vorwand nutzten die Behörden, um Haftbefehle wegen terroristischer Bedrohung von Amtspersonen auszustellen. Nachdem die Bewohner die Polizisten nicht ins Haus ließen, gab der schwarze Bürgermeister Wilson Goode der Polizei freie Hand. Die Konfrontation zwischen Staatsgewalt und kollektivem Lebensentwurf eskalierte schließlich in einer finalen Auseinandersetzung.

Am Morgen des 12. Mai 1985 wurden alle Anwohner angewiesen, ihre Häuser zu räumen. Daraufhin umstellten Hunderte von Polizisten das MOVE-Haus, angeblich um die Verhaftungen vorzunehmen, tatsächlich jedoch, um nach Verstreichen einer Anstandsfrist von einem Tag, an dem Goode alle Vermittlungsangebote besorgter Bürger ablehnte, das Haus nicht etwa zu erstürmen, sondern seine Bewohner zu liquidieren.

Am 13. Mai begann die Polizei mit einem massiven Angriff, bei dem in wenigen Stunden gut 10.000 Schuß Munition und viele Tränengasgranaten auf das Haus abgefeuert wurden. Nachdem man vergeblich versucht hatte, das Gebäude mithilfe von Wasserkanonen zum Einsturz zu bringen, was bereits den Tod seiner Bewohner zur Folge hätte haben können, ordnete der Polizeichef am frühen Abend den Abwurf einer mit Plastiksprengstoff, den man vom FBI erhalten hatte, gefüllten Bombe per Helikopter an. Die setzte das Haus, in dem sich sieben Erwachsene und sechs Kinder befanden, in Brand.

Das Zeugnis der neben dem 13jährigen Birdy Africa einzigen überlebenden Ramona Africa belegt, daß man den Tod der Bewohner beabsichtigt hatte. In einem 1996 produzierten Film über Abu-Jamal und MOVE berichtete sie:

"Mir bleibt von den Ereignissen am 13. Mai am meisten im Gedächtnis haften, wie wir herausriefen, daß wir herauskommen und die Kinder herausbringen wollen, wie die Kinder selbst hinausschrien 'Wir kommen raus, sie bringen uns raus', und daß jeder Versuch herauszukommen vom Sperrfeuer aus den Polizeiwaffen verhindert wurde."

Die angerückten Feuerwehrmänner wurden von der Polizei mit der Behauptung, sie würden von MOVE-Scharfschützen beschossen, am Löschen des Hauses gehindert. Während Polizeibeamte die verzweifelten Fluchtversuche der Eingeschlossenen mit Waffengewalt verhinderten, fingen auch die Nachbarhäuser Feuer, so daß schließlich der ganze Wohnblock aus 60 Gebäuden niederbrannte. Elf MOVE-Mitglieder, darunter fünf Kinder, starben in den Flammen, und 250 Nachbarn, von denen einige den Vorwand für die Aktion geliefert hatten, verloren all ihr Hab und Gut und wurden obdachlos.

Eine Untersuchungskommission erhob anschließend zwar Vorwürfe gegen den Bürgermeister und seinen Polizeichef, es wurde jedoch niemand für die Aktion zur Rechenschaft gezogen. Die Überlebende Ramona Africa wurde hingegen nach kurzem Prozeß zu sieben Jahren Haft verurteilt. Bezeichnenderweise blieb der Vorfall in der internationalen Presse fast unerwähnt, und wenn es doch zu einer kurzen Notiz kam, wurde das Vorgehen der Polizei damit gerechtfertigt, daß es sich um einen Angriff auf das Haus einer Sekte gehandelt habe. Mit diesem Stigma lassen sich quasi Untermenschen produzieren, um deren Leben es anscheinend nicht schade ist, wie die Unterstellung einer kausalen Verbindung zwischen Lebensform und selbstverschuldeter Vernichtung im Falle der Davidianer zeigt.

Mumia Abu-Jamal gedachte 1996 der Ermordung der MOVE-Mitglieder, indem er Unfreiheit in den USA zur generellen Bedingung schwarzen wie jeden widerständigen menschlichen Lebens erklärte:

"Es gibt viele Menschen, die gerne glauben würden, daß diese Wände so entlegen und weit entfernt sind, daß diese Realität (im Todestrakt) so viel anders ist als die ihre, aber meine Brüder und Schwestern der MOVE-Organisation waren am 13. Mai 1985 zu Hause. Normalem Ermessen nach und in den Augen äußerer Beobachter waren sie frei, nicht wahr. Was nun ist der Unterschied zwischen ihnen und mir in dieser Situation? Wurden sie nicht am 13. Mai 1985 angegriffen, ermordet, exekutiert, verstümmelt, draußen auf offener Straße, vor ihrem eigenen Haus? Wir operieren häufig mit der Illusion der Freiheit, erhaschen jedoch nur selten einen Blick auf die Realität."

Zigtausende politische Gefangene, die für ihre Überzeugungen und ihren Kampf in Folterknästen sitzen oder deren Haftstrafen im Grunde genommen bis zu ihrem Todestag fortdauern, sind Teil einer Wirklichkeit, die nur zu gerne vergessen und verdrängt wird. Ein offizieller Tag der Gefangenen dient nicht dazu, das Gewissen zu beruhigen oder die Mär von Gerechtigkeit inmitten der Gewalt fortzuspinnen, sondern soll vielmehr daran gemahnen, daß eine Welt mit menschlichem Antlitz nur dann kein Traum bleibt, wenn das Band der Solidarität mit ihren Streitern nicht zerstört wird.

17. März 2015


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