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REPRESSION/1559: Wachsweicher Tadel - Staatsräson hier wie dort (SB)



Als der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim am Samstagmittag in Oberhausen die Rednerbühne betrat, um vor Tausenden Anhängern Recep Tayyip Erdogans in Deutschland für das geplante Präsidialregime zu werben, befand sich der Türkei-Korrespondent der Tageszeitung "Die Welt", Deniz Yücel, in Istanbul seit fünf Tagen in Polizeigewahrsam. Viele einheimische Journalisten sind in der Türkei schon länger inhaftiert. So sitzt Murat Sabuncu, der Chefredakteur der Tageszeitung "Cumhuriyet", seit 113 Tagen im Gefängnis. Mit der Verhängung des Ausnahmezustands am 15. Juli 2016 hat die AKP-Regierung die Pressefreiheit de facto abgeschafft. Seither wurden etwa hundert Journalisten festgenommen, 170 Medienhäuser mußten schließen. Ausländische Korrespondenten wurden bislang weitgehend verschont. Im Dezember war ein amerikanischer Korrespondent des "Wall Street Journal" vorübergehend festgenommen worden, er verließ anschließend das Land. Jetzt ist zum ersten Mal ein deutscher Journalist festgenommen worden. Yücel besitzt sowohl die deutsche als auch die türkische Staatsbürgerschaft. Aus Sicht der türkischen Behörden ist er damit ein einheimischer und kein ausländischer Journalist. Er hatte sich am Dienstag in das Polizeipräsidium in Istanbul begeben, um sich Fragen der Ermittler zu stellen. Seitdem wird er dort festgehalten, was unter dem Ausnahmezustand in der Türkei ohne Anhörung durch einen Richter bis zu vierzehn Tage möglich ist. Die Behörden werfen ihm Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Terrorpropaganda und Datenmißbrauch vor. [1]

Yücel war wegen seiner regierungskritischen Publikationen schon geraume Zeit im Visier der Behörden. So veröffentlichte er 2014 ein Buch mit dem Titel "Taksim ist überall. Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei", das die landesweiten Proteste im Jahr zuvor beleuchtet. Im Juni 2015 wurde er zusammen mit anderen Journalisten auf Anordnung des Gouverneurs der Provinz Sanliurfa festgenommen, weil sie auf einer improvisierten Pressekonferenz am türkisch-syrischen Grenzübergang Akcakale kritische Fragen gestellt hatten. Auf einer Pressekonferenz in Ankara im Februar 2016 richtete Yücel eine Frage an die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, wie sie zu Vorwürfen stehe, sie ignoriere heutige Mißstände in der Türkei, weil sich deren Regierung im Gegenzug kooperationsbereit in der Flüchtlingspolitik zeige. Yücel benannte dabei beispielhaft Einschränkungen der Pressefreiheit in der Türkei, woraufhin er vom damaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu und der regierungstreuen Presse heftig angegriffen wurde.

Ende Dezember 2016 wurde im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen das türkische Hacker-Kollektiv RedHack ein Haftbefehl gegen mehrere Personen, darunter auch Yücel verhängt. RedHack hatte sich Zugang zu den E-Mails von Berat Albayrak, dem Energieminister und Schwiegersohn Erdogans, verschafft und diese diversen Medien zugespielt. In den E-Mails, die inzwischen auf der Plattform WikiLeaks zugänglich sind, ging es unter anderem um die Kontrolle türkischer Medienkonzerne und die Beeinflussung der Öffentlichkeit durch fingierte Twitter-Nutzer. Yücels Artikel hatten denn auch unter anderem den Versuch der Regierung zum Inhalt, die Deutungshoheit in den sozialen Medien zu erringen. Er entging zunächst der Verhaftung, worauf fast zwei Monate lang nichts von ihm zu hören war. Auch der Springer-Verlag, in dem "Die Welt" erscheint, hatte sich nicht zu dem Fall geäußert. Laut Beamten aus dem Auswärtigen Amt, die mit dem Vorgang vertraut sind, hat die Bundesregierung versucht, hinter den Kulissen eine Einigung mit der türkischen Regierung zu finden. Die Entscheidung der "Welt", den Fall nun öffentlich zu machen, deutet darauf hin, daß die Bemühungen Berlins gescheitert sind. [2]

Da es sich bei Deniz Yücel um einen deutschen Korrespondenten handelt, der für eines der sogenannten Leitmedien arbeitet, kann die Bundesregierung nicht umhin, nun auch öffentlich zu dem Fall Stellung zu beziehen. Diese fällt allerdings ausgesprochen zahnlos aus. So erklärte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes: "Wir setzen darauf, dass in dem laufenden Ermittlungsverfahren der türkischen Behörden gegen Herrn Yücel rechtsstaatliche Regeln beachtet und eingehalten werden und er fair behandelt wird." Dies gelte gerade mit Blick auf die auch in der Türkei verfassungsrechtlich verankerte Pressefreiheit. "Natürlich tun wir alles, was wir können, um Deniz Yücel zu unterstützen." Es gebe Kontakte mit ihm und mit der Redaktion der "Welt". [3] Bei einem Treffen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Yildirim am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz habe Merkel den Fall des "Welt"-Korrespondenten ausführlich angesprochen, teilte Regierungssprecher Seibert mit. Sie habe darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, daß Yücel durch die deutsche Botschaft betreut werden könne. [4]

Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk demonstrierte der AKP-Politiker Mustafa Yeneroglu, daß er seine argumentativen Hausaufgaben gemacht hat. Wenn es Hunderte von Journalisten in türkischen Gefängnissen gebe, dann nicht deswegen, weil sie ihre Tätigkeit ausgeübt hätten, sondern weil sie "wahrscheinlich irgendwelche Straftaten begangen haben". Vor sieben Monaten hätten Teile des türkischen Militärs, unterstützt von ihren Komplizen im Staatsapparat, versucht, mit einem blutigen Putschversuch die legitime Regierung zu stürzen. Aus deren Sicht stehe ohne jeden Zweifel fest, welches pseudoreligiöse Netzwerk diesen Putschversuch zu verantworten hat. Er selbst habe nach dem 11. September 2001 in Deutschland erlebt, daß muslimische Gemeinschaften zum Stellen von Vertrauenspersonen genötigt wurden, um sogenannte Gesinnungsradikale dem polizeilichen Staatsschutz zu melden. In Deutschland habe sich niemand darüber aufgeregt, daß mit der Wiedervereinigung an die 20.000 Lehrer und ein Fünftel der Richterschaft entlassen wurden, weil sie bei der Stasi mitgearbeitet hatten. Es komme schlichtweg darauf an, wie man das rechtfertige, und damals habe man sich auf die freiheitlich-demokratischen Grundordnung berufen. Gleichermaßen wende sich in der Türkei der Rechtsstaat mit aller Klarheit gegen die Putschisten, so der AKP-Parlamentarier. [5]

Touché? Die schnelle Erwiderung, man könne das eine doch nicht mit dem anderen vergleichen, bestätigt Yeneroglus These geradezu. Jeder Staat habe das Recht und die Pflicht zu bestimmen, wer seine Feinde seien und wie er gegen sie vorgehe. Es stehe der Bundesrepublik nicht im mindesten zu, der Türkei auf bevormundende Weise zu erklären, was sie zu tun und zu lassen habe. Wenn der AKP-Abgeordnete die politische Führung der Bundesrepublik an ihre eigene Handlungsmaxime erinnert, weiß er sich mit ihr im selben Boot beiderseitiger Staatsräson, die bei allen Unterschieden im Detail vom Grundsatz her so verschieden nicht ist. Wo es darum geht, linken türkischen und kurdischen Widerstand mit dem Terrorverdikt zu belegen, üben Berlin und Ankara seit Jahren den Schulterschluß. Ob Wirtschaftsbeziehungen und Flüchtlingsabwehr, NATO-Partnerschaft und "Antiterrorkrieg" - die Interessenverflechtung ist so eng, daß moralische Vorwürfe an die Adresse deutscher Regierungspolitik, sie handle feige und verschließe die Augen vor Erdogans Treiben, nicht nur wirkungslos verpuffen, sondern von unzutreffenden Voraussetzungen ausgehen. Die drohende Präsidialdiktatur in der Türkei würde den dort verhängten Ausnahmezustand personifizieren, dessen schleichende Inkraftsetzung als strategische Ultima ratio auch in der deutschen Sicherheitspolitik ihr Medusenhaupt erhebt.


Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/tuerkei-welt-korrespondent-deniz-yuecel-in-polizeigewahrsam-a-1135131.html

[2] http://www.deutschlandfunk.de/terrorvorwuerfe-deutscher-tuerkei-korrespondent-in-istanbul.1818.de.html

[3] https://www.welt.de/politik/ausland/article162186259/Bundesregierung-schaltet-sich-im-Fall-Deniz-Yuecel-ein.html

[4] http://www.deutschlandfunk.de/fall-yucel-merkel-fordert-von-turkei-rechtsstaatliche.447.de.html

[5] http://www.deutschlandfunk.de/rede-des-tuerkischen-premier-in-oberhausen-akp-politiker.694.de.html

19. Februar 2017


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