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REPRESSION/1636: G20-Prozesse - allein es fehlt die Absicht ... (SB)



Im Mai 2017 fällte der Bundesgerichtshof ein Urteil, das einem weiteren Dammbruch an der Front der Unschuldsvermutung im deutschen Strafrecht gleichkam. In bezug auf eine verabredete Konfrontation zwischen Hooligans des 1. FC Köln, von Borussia Dortmund und des FC Schalke in Köln wertete das Gericht das "ostentative Mitmarschieren", also ein bewußt herausforderndes Mitlaufen in einer Gruppe, als psychische Beihilfe für die gewalttätigen Hooligans. Dadurch wurde eine Verurteilung möglich, ohne daß den Angeklagten eigenhändige Straftaten nachgewiesen werden mußten. Wenngleich der BGH in seinem damaligen Urteil eine Anwendung auf Demonstrationen ausdrücklich ausschloß, stand zu befürchten, daß sich dieser Beschluß als Türöffner für eine entsprechende Strafverfolgung insbesondere nach Versammlungen linker AktivistInnen erweisen würde.

Auf dieses BGH-Urteil stützt sich die Staatsanwaltschaft im laufenden Prozeß gegen Teilnehmer an den Protesten gegen den G20-Gipfel am Morgen des 7. Juli 2017 auf der Elbchaussee. Dort war es innerhalb von knapp 20 Minuten zu zahlreichen Angriffen auf Autos und Geschäfte gekommen, Handy-Videos von Anwohnern zeigten brennende Fahrzeuge und Zerstörungen, die weithin verbreiteten Bilder spielten eine zentrale Rolle im Kampf um die Deutungsmacht im Kontext der Gipfelproteste. Bemerkenswerterweise waren in dieser Situation keinerlei Polizeikräfte präsent, was von der Einsatzleitung später damit erklärt wurde, man sei überrascht worden, habe an diesem Ort nicht mit gewaltsamen Übergriffen gerechnet und könne schlichtweg nicht das gesamte Stadtgebiet abdecken. Diese Rechtfertigung wurde seitens der Medien weitgehend akzeptiert und allenfalls unter der Rubrik eines möglichen Versagens der Sicherheitskräfte verbucht.

Auf diese Weise wurde die Frage ausgeblendet, warum ausgerechnet eine Aktion des "schwarzen Fingers", der im Vorfeld als der gefährlichste eingestuft worden war, völlig unbeobachtet geblieben sein sollte. Ebensowenig dürfte jemals geklärt werden, ob möglicherweise verdeckte Einsatzkräfte unmittelbar an den Angriffen beteiligt waren. Sowenig damit die Vorfälle auf der Elbchaussee auf dem Weg nach Altona per se zu einer Aktion von Agents provocateurs erklärt werden sollen, drängt sich doch der Verdacht nach einer gewissen Steuerung des Verlaufs auf. Dies natürlich um so mehr, als bei den Gipfelprotesten an verschiedenen anderen Stellen wie etwa bei den nächtlichen Vorfällen im Schanzenviertel ähnliche Fragen im Raum standen.

Seit Dezember 2018 läuft vor der Großen Strafkammer 17 des Landgerichts Hamburg der bislang einzige Strafprozeß zu den Vorfällen auf der Elbchaussee. Angeklagt sind vier Deutsche und ein Franzose im Alter zwischen 18 und 24 Jahren. Erkenntnisse, daß sie dort eigenhändig Gewalt ausgeübt haben oder bewaffnet waren, liegen Polizei und Staatsanwaltschaft nicht vor. Dennoch wirft die Staatsanwaltschaft den jungen Männern schweren Landfriedensbruch vor. Sie sollen für alle Sachschäden haften, die aus dem Aufmarsch heraus verursacht worden sind, wobei sich die Summe auf rund eine Million Euro belaufen dürfte. Vier der fünf Angeklagten wird keine eigenhändige Straftat vorgeworfen. Sie gaben in ihren Einlassungen an, an der Demonstration auf der Elbchaussee teilgenommen, sie aber vorzeitig verlassen zu haben. Zudem gaben diese vier Angeklagten an, daß sie mit dem Verlauf nicht gerechnet und ihn so nicht gewollt hätten. [1]

Um dennoch eine Verurteilung wegen schweren Landfriedensbruchs zu erwirken, müßte die Staatsanwaltschaft im Sinne des Hooligan-Urteils den Nachweis erbringen, daß es sich um keine bloße Demonstration nach Maßgabe der Versammlungsfreiheit gehandelt hat. Vielmehr müßte eine gemeinsame Planung und Organisation vorgelegen haben, so daß die verursachten Schäden an der Elbchaussee mit dem Wissen und Wollen aller Teilnehmenden verursacht wurden. Angesichts der Bedeutung dieses Prozesses sowohl im Kontext der Bezichtigung der G20-Proteste als auch darüber hinaus einer Rechtsprechung, welche die Versammlungsfreiheit gravierend einzuschränken im Stande wäre, sollte man annehmen, daß die SOKO Schwarzer Block in ihrer mehrmonatiger Arbeit das Verfahren gewissermaßen wasserdicht für die Anklage vorbereitet hätte. Daß das nach Auffassung des Gerichts offenbar nicht gelungen ist, nährt den Verdacht, daß die Beweislage fadenscheinig ist, um es einmal zurückhaltend auszudrücken.

Während ursprünglich ein Urteil im Mai erwartet wurde, wird der Prozeß nun mindestens bis zum September dauern. Dies wurde erforderlich, weil laut der Vorsitzenden Richterin Anne Meier-Göring Zweifel an den schriftlichen Ermittlungsergebnissen der Polizei aufgetaucht sind. Dementsprechende Einschätzungen der Richter sind einem schriftlichen Beschluß des Gerichts vom 1. März 2019 zur Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers für jeden der fünf Angeklagten zu entnehmen. Ursprünglich sei das Oberlandesgericht davon ausgegangen, die Verlesung polizeilicher Ermittlungsvermerke werde die Anzahl der persönlichen Zeugenvernehmungen während der Hauptverhandlung überschaubar halten, so ein Gerichtssprecher. Diese Erwartung habe sich nicht bestätigt. In dem Beschluß heißt es weiter, daß selbst aus Sicht der Polizei "keineswegs alles so klar [sei], wie der Abschlussbericht vermuten lasse". [2]

Ungeachtet der möglicherweise weitreichenden Folgen des Verfahrens wird die Beweisaufnahme unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt. Das Gericht begründete dies unter anderem mit der lautstarken Beteiligung aus dem vollbesetzten ZuschauerInnenraum an den ersten beiden Prozeßtagen. Allerdings hätte auch die Anklage angesichts ihrer dürftigen Beweislage allen Grund, kritische Prozeßbeobachtung fernzuhalten. So steht die Behauptung, die Teilnehmenden hätten sich vorab im Donners Park getroffen, gemeinsam schwarze Kleidung angelegt und seien dann losmarschiert, auf tönernen Füßen. Die Staatsanwaltschaft stützt sich dabei auf angebliche ZeugInnenaussagen wie diese: "Etwa eine halbe Stunde später ging das Drama los. Plötzlich waren sie alle schwarz gekleidet und formierten sich zu einem schwarzen Block." Mehrere ZeugInnen bezeichneten das jedoch als "Quatsch" und bestritten in der Hauptverhandlung, dies gegenüber der Polizei so gesagt zu haben. Das hätten sie gar nicht gekonnt, da sie es nur im Vorbeilaufen wahrgenommen oder gar keine Sicht darauf gehabt hätten. Deshalb will sich das Gericht nicht mehr auf "weitere Polizeivermerke" verlassen und stattdessen deutlich mehr Zeugen vorladen als ursprünglich geplant.

Die Aussagen der geladenen Mitglieder der SOKO blieben so unergiebig, daß die Kammer vorerst auf die Ladung weiterer Beamten verzichten will. So konnte der "Fallführer Elbchaussee" auch unter Vorhaltung ihrer Aussagen nicht erklären, wie Innensenator Grote, Polizeipräsident Meyer, der G20-Einsatzleiter Dudde oder SOKO-Leiter Hieber auf ihre Aussagen im Sonderausschuß des Senats gekommen waren. Die Staatsanwaltschaft machte die Ermittlungsvorgabe, daß der Aufzug von Anfang an gewalttätig gewesen sei und es sich durch den unfriedlichen Verlauf nie um eine Versammlung gehandelt habe. Bis heute wurde jedoch nicht ermittelt, wann und wo sich der Zug denn eigentlich gebildet hat.

Die Richter sind nach der Vernehmung des Ermittlungsführers der Polizei außerdem zu dem Schluß gekommen, daß sich auf dessen Abschlußbericht "nur wenig gestützt werden kann", nachdem der Beamte in seiner Vernehmung selbst eingeräumt hatte, daß es sich bei angeblichen Ermittlungsergebnissen wie etwa einer Angabe zu der sogenannten "Fingertaktik" von G-20-Gegnern lediglich um "Arbeitshypothesen" gehandelt habe, die sich auf "Analyse und Lageeinschätzung" stützten. Die SOKO interpretierte Videos, Luftbilder und anderes Bildmaterial und versuchte Rückschlüsse zu ziehen. Belastbare Beweise, mit denen beispielsweise eine gemeinsame Planung belegt werden könnte, bietet dies kaum. So ließ sich auch das Konstrukt des Verfassungsschutzes nicht bestätigen, daß die italienische "Autonomia Diffusa" für die Straftaten verantwortlich sei. Ein Staatsschutzbeamter, der die SOKO beriet, bezog seine Mutmaßungen demnach aus der Lektüre von Schriften wie "Autonome in Bewegung" oder "Der kommende Aufstand".

Auch die Videos vom Aufmarsch auf der Elbchaussee seien nicht so aussagekräftig, wie es zuerst schien, heißt es weiter. Das gelte besonders dann, wenn man die Videos ohne die aus Sicht der Richter "suggestiven Bearbeitungen" der Polizei anschaue. Für die Identifizierung des angeklagten Franzosen sei nun ein Sachverständigengutachten geboten.

Auf Anfrage bestätigte ein Gerichtssprecher auch die Äußerung der Kammer, daß "auf das in der Akte geschriebene Wort wenig Verlass sei". Der Sprecher betonte, daß der Polizei keine falschen Angaben in den Ermittlungsberichten vorgeworfen würden oder gar der Verdacht im Raum stehe, daß sie schriftlich festgehaltene Aussagen von Zeugen erfunden habe. Die in den Ermittlungsakten beschriebenen Details bedürften jedoch einer intensiveren Nachprüfung als zunächst angenommen.

Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft wollte den Beschluß mit Blick auf die laufende Verhandlung nicht kommentieren. Sie bestätigte aber, daß man Beschwerde gegen die Entscheidung eingelegt habe, die jedoch vom Oberlandesgericht abgelehnt wurde. Daß die Staatsanwaltschaft bereits vor Prozeßbeginn einen Befangenheitsantrag gegen Meier-Göring gestellt hatte, aber damit gescheitert war, zeugt von einem Hauen und Stechen in den Reihen der Justiz, das nicht zuletzt mit dem offenbar wenig geschätzten Umgang der Vorsitzenden Richterin mit der Polizeiarbeit zu tun hat. Bislang zeichneten sich die im Zusammenhang der G20-Proteste eingesetzten Richter wie etwa jene in der Gefangenensammelstelle zumeist dadurch aus, daß es sich bekanntermaßen um Hardliner handelte, die sich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet hatten und entsprechend brachial zu Werke gingen. Im Unterschied dazu kam Meier-Göring ohne eigenes Zutun zum Vorsitz, was auch von jenen Kritikern nicht verhindert werden konnte, denen sie ein Dorn im Auge ist. [3]

Die 50jährige Juristin gilt als erfahrene Richterin, deren Prozeßführung als zugewandt, ruhig und verbindlich beschrieben wird, die sich aber auch von niemandem auf der Nase herumtanzen läßt. So schickte sie beispielsweise im Juni 2018 mit ihrer Kammer die jungen Gruppenvergewaltiger von Harburg hinter Gitter, die in der ersten Instanz mit Bewährung davongekommen waren. Bekannt wurde sie indessen mit dem Prozeß um den sogenannten "Silvester-Sex-Mob". Im November 2016 sprach die Kammer drei junge Asylbewerber vom Vorwurf der sexuellen Nötigung frei, wobei Meier-Göring in ihrer Urteilsbegründung die Polizei scharf kritisierte: Man habe wegen des Drucks der Öffentlichkeit "unbedingt Ermittlungserfolge sehen wollen". Die Polizeiführung empörte sich gegen den "beschämenden Rundumschlag" der Richterin, obgleich sogar die Staatsanwaltschaft auf Freispruch plädiert hatte. Der scharfe Gegenwind hinderte Meier-Göring nicht daran, im Oktober 2018 die Polizei abermals massiv zu kritisieren. Im Verfahren um einen Mordversuch vor 38 Jahren präsentierte die "Soko Cold Case" mit großem Medienwirbel den mutmaßlichen Täter. Doch die Ermittlungen waren schlampig, der Verdächtige wurde freigesprochen, und die Polizei blieb auf einem Debakel sitzen. [4]

Den Befangenheitsantrag vor dem G20-Prozeß begründete die Staatsanwaltschaft damit, daß Meier-Görings Kammer bei einem Haftprüfungstermin die Freilassung zweier Angeklagter aus der U-Haft angeordnet hatte. Die Staatsanwaltschaft ging in Beschwerde und das angerufene Hanseatische Oberlandesgericht (OLG) ordnete an, daß die beiden Verdächtigen sofort wieder inhaftiert werden müßten. Eine Fahndung war nicht nötig, weil sich beide Männer nach Gesprächen mit ihren Anwälten stellten. Diese Konstellation läßt zumindest darauf schließen, daß die Vorsitzende Richterin die fragwürdige Polizeiarbeit auch in diesem Prozeß scharf unter die Lupe nimmt. Daß sie dabei so weit geht, dem vom zitierten Gerichtssprecher ausdrücklich dementierten Verdacht doch in letzter Konsequenz nachzugehen, steht eher nicht zu erwarten.


Fußnoten:

[1] www.unitedwestand.blackblogs.org/zwischenbericht-zum-elbchaussee-prozess-die-anklage-wackelt/#more-2684

[2] www.ndr.de/nachrichten/hamburg/G20-Prozess-in-Hamburg-dauert-deutlich-laenger,gzwanzig398.html

[3] www.abendblatt.de/hamburg/article217026393/G-20-Prozess-Richterin-attackiert-die-Polizei.html

[4] www.mopo.de/hamburg/g20-prozess-hamburgs-beruehmteste-richterin-und-ihr-wichtigster-fall-31752874

26. April 2019


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