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REPRESSION/1685: Halle-Attentat - weißer Rassismus ... (SB)



"Unzufriedene weiße Männer"
Stephan B. (Attentäter von Halle über seinesgleichen) [1]

Am 9. Oktober 2019 hatte Stephan B. in Halle/Saale während der Feierlichkeiten zum jüdischen Feiertag Jom Kippur versucht, bewaffnet in die Synagoge der Stadt einzudringen und die dort versammelten Menschen zu töten. Nachdem ihm dies aufgrund einer schweren Holztür nicht gelungen war, erschoß er auf offener Straße eine Passantin, worauf er in einen Dönerimbiß eindrang und dort einen Mann tötete. Auf seiner Flucht verletzte er zwei weitere Menschen schwer. Er filmte seine Taten und übertrug alles live im Internet. In den kommenden Tagen wird der Generalbundesanwalt in Karlsruhe Anklage wegen zweifachen Mordes und neunfachen Mordversuchs aus niedrigen Beweggründen erheben. Er sieht darin Taten, die das Ansehen der Bundesrepublik in der Staatengemeinschaft schädigen.

Die Taten gelten als umfassend ermittelt, bis hin zu einem aufgefundenen Foto, in dem sich der frühere Panzergrenadier der Bundeswehr am Morgen des Anschlags vor einem großen Bodenspiegel selbst aufnahm. Er lächelte sich in voller Kampfmontur zu, die Hand salutierend am Barett. Nach Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung hat der 28jährige ein umfassendes Geständnis abgelegt und über sein Motiv gesprochen. Von entscheidender Bedeutung sind demnach insgesamt vier Vernehmungen, die mit ihm stattgefunden haben. Zunächst hatte er kurz nach der Tat beim Haftrichter des Bundesgerichtshofs noch erklärt, er wolle nichts "beschönigen", aber auch nichts sagen. Es ergebe sich doch alles aus den bei dem Attentat von ihm selbst gefertigten Filmaufnahmen. Dann redete er aber doch, und zwar beim Richter sowie drei weitere Male mit Ermittlern des Bundeskriminalamtes. Schließlich, so erklärte er den Beamten, habe er seine Angaben bei der ersten Vernehmung aufgrund seiner Schußverletzung im Hals nicht "schön" ausformuliert.

Seinen Angaben zufolge war die Ankunft der Flüchtlinge im Jahr 2015 für ihn eine "Zäsur". Er habe entschieden, sich zu bewaffnen, denn wenn keiner etwas tue, dann müsse er es tun. Nachdem er sich zunächst überlegt habe, Muslime zu töten, sei seine Wahl schließlich auf einen Anschlag gegen Juden gefallen, da diese schließlich für Leute wie ihn das größte Problem seien. Auf die Frage, wer Leute wie er seien, antwortete Stephan B.: "Unzufriedene weiße Männer." Er habe gegen diejenigen vorgehen wollen, die ihn aus dem Leben drängen. Als er gefragt wurde, ob er Juden kenne, antwortete B., er kenne auch Angela Merkel und Adolf Hitler nicht, habe sich aber dennoch eine Meinung über sie gebildet.

B. gab an, er sei vor der Tat zweimal an der Synagoge in Halle vorbeigegangen, um den Ort auszuspähen. Er sei davon ausgegangen, daß die Tür am Jom Kippur, einem hohen Feiertag der jüdischen Glaubensgemeinschaft, offen stehen würde. Stephan B. bedauerte nicht etwa die Tat, sondern daß er nicht noch mehr Menschen getötet und keine Migranten getroffen habe. Als er die deutschen Namen seiner Opfer Jana L. und Kevin S. gehört habe, sei er zusammengezuckt, da sie weder Juden noch Migranten waren. Er "bedauere" es, Deutsche getötet zu haben, gab er zu Protokoll. Er habe es in erster Linie auf Juden abgesehen gehabt, dann sei er auf "Nahöstler" im Dönerladen ausgewichen, heißt es in dem Bericht. [2]

Der Täter von Halle machte den Ermittlern gegenüber auch ausführliche Angaben, wie er seine Waffen für den Anschlag aus Metallrohren und mit Werkstücken aus einem 3-D-Drucker selbst zusammengebaut habe. Auch die Molotowcocktails und Splitterbomben, die er bei sich hatte, habe er selbst hergestellt, obgleich er handwerklich eigentlich nicht sonderlich begabt sei. Der finanzielle Aufwand für die Herstellung sei bescheiden gewesen, er habe Zinnfiguren, die er früher gesammelt habe, über eBay verkauft. Die Patronen habe er gebraucht im Internet gekauft und selbst gefüllt. Er habe der ganzen Welt zeigen wollen, daß man Waffen sehr günstig herstellen könne.

Stephan B. hatte nach einem guten Abitur zunächst Chemie in Halle studiert, aber offenbar nach einer schweren Operation nicht ins Leben zurückgefunden. Er lebte zurückgezogen in einem kleinen Zimmer in der Wohnung seiner Mutter in einem Dorf bei Eisleben und sagte selbst über sich, er sei immer ein Einzelgänger gewesen. Seiner Familie zufolge hatte er keine Freunde, keine Partnerin und war auch in keinem Verein aktiv. Teilweise verbrachte er den ganzen Tag in seinem kleinen Zimmer am Computer, nicht einmal zum Staubsaugen durfte seine Mutter hineinkommen. Diese gab in einer Vernehmung an, ihr Sohn habe auf alles geschimpft. Auf Greta Thunberg, den Wetterbericht oder Frauen in der Politik. Immer wieder habe er die Fernsehkanäle durchgezappt, um ihr zu zeigen, daß weiße Frauen ständig mit farbigen Männern zusammen seien. B. erklärte, in Deutschland gebe es keine Redefreiheit, das sehe man schon am Verbot der Holocaustleugnung.

Auf seinem Computer sicherten die Ermittler zahlreiche Videos, auf denen Menschen auf brutalste Art umgebracht werden. Ein Film zeigt, wie der sogenannte Islamische Staat zwei türkische Soldaten bei lebendigem Leib verbrennt. Als Vorbild für seine Tat nannte Stephan B. den Attentäter von Christchurch, der im März 2019 in Neuseeland zwei Moscheen gestürmt, dabei 51 Menschen getötet und sich in der vergangenen Woche vor einem neuseeländischen Gericht schuldig bekannt hat. Über ihn habe er alles gesammelt und gespeichert. Helfer oder Mitwisser hatte Stephan B. offenbar nicht, wohl aber geistige Unterstützung im Internet. Den Angaben zufolge traf er sich im Netz anonym auf sogenannten Image Boards mit Gleichgesinnten vor allem aus den USA, die sich gegenseitig in ihrem Juden- und Frauenhaß bestärkten. [3]

Was Stephan B. mit seinem Bezug auf die "unzufriedenen weißen Männer" zusammenfaßt, ist Ausdruck seiner persönlichen Lebensgeschichte. Es repräsentiert zugleich das im Diskurs über Rechtsextremismus oftmals ausgeblendete Kernelement neurechter Gesinnung, die eine nationalistische, weiße und männliche Identität verabsolutiert und sich gegen Feindbilder wie Frauen, Ausländer und Minderheiten richtet, die sie einerseits als Bedrohung, andererseits als minderwertig einstuft. Im Osten Deutschlands sind dafür oftmals die nach dem Wegzug vieler Frauen in den Westen "zurückgebliebenen" jungen Männer empfänglich, die sich abgehängt fühlen. Das Leitmotov der Identitären Bewegung, in einer bedrohten Lebensweise durch Konstitution angreifbarer Feinde ein Bewußtsein für das Eigene hervorzubringen, das Mann auf keinen Fall verlieren darf, zeichnet sich deutlich in der rassistischen und neonazistischen Denk- und Handlungsweise des Attentäters von Halle ab.

Von Abstiegsängsten gequält und verunsichert oder bereits verarmt, entwürdigt und ohne Perspektive, kann dem Menschen in diesem Lande alles genommen werden, doch eines nicht: Der Stolz, ein weißer deutscher Mann zu sein! Diese ideologische Volte erlaubt die sofortige Feindbildproduktion in Gestalt all jener, die sich als "undeutsch" identifizieren lassen. Das können Frauen sein, die sich dem patriarchalen Anspruch nicht unterordnen, wie auch all jene, die sich dem Schema der Geschlechterzuweisung und Verkehrsformen nicht fügen. Das können geflohene Menschen, Muslime oder Juden, aber auch Kreise in Politik und Gesellschaft sein, die Fremden die Tür öffnen und eine Mischung der Kulturen befördern.

Wo die lebensgeschichtliche Erfahrung, abgehängt und mißachtet zu werden, nach einem Ventil für die aufgestaute Wut drängt, liefert die Rechte irrationale Antworten, es nämlich all jenen zu zeigen, die als vermeintliche Freßfeinde für das eigene Scheitern im erbitterten Konkurrenzkampf verantwortlich gemacht werden können. Daß dies in aller Regel Schwächere sind, ist dem Grundmuster nationalistischer und patriarchaler Selbstvergewisserung inhärent, das seine Stärke daraus zu gewinnen trachtet, für minderwertig befundene Menschen, Kulturen und Nationen zu verachten, zu diskreditieren, zu verfolgen oder gar zu vernichten. Im Land des ökonomischen Siegers zu leben und doch zu den Verlierern zu gehören wird auf diese Weise weit vor einer Analyse der Klassengesellschaft als Widerspruch entsorgt.

Das daraus extrahierte Fanal rechten Aufbruchs kann in verschiedenen Formen vorangetragen werden, die weder pauschalisierend gleichzusetzen, noch strikt voneinander zu trennen sind. Wie allein die AfD zeigt, läßt sich das bislang parteipolitisch erfolgreiche Projekt in eine nationalneoliberale, eine nationalkonservative und eine völkische Strömung untergliedern, deren Machtkampf noch nicht endgültig entschieden ist. Jenseits dieser Partei finden sich zahlreiche Gruppierungen, Netzwerke und Personen, deren Spektrum vom intellektuellen Theoriebilder bis zum Straßenschläger, vom offen agierenden Verlag bis zum konspirativen "führerlosen Widerstand" reicht. Von virtueller Anstachelung und Verschwörung ist der Übergang zu Gewalttaten fließend. Wie das Beispiel Stephan B. zeigt, kann auch und gerade ein sozial isolierter Einzeltäter, der nicht in realen rechtsextremen Strukturen eingebunden ist, wohl aber im Geiste virtuell kommunizierter rassistischer Abrechnungspläne seine Erfüllung sucht, mörderische Wirkung entfalten.


Fußnoten:

[1] www.tagesschau.de/inland/halle-anklage-stephan-b-101.html

[2] www.n-tv.de/politik/Halle-Attentaeter-gesteht-und-nennt-Motiv-article21678033.html

[3] www.jungewelt.de/artikel/375578.rechter-terror-in-halle-balliet-wollte-mehr-menschen-töten.html

31. März 2020


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