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REPRESSION/1688: Türkei - das Staatsgefüge ächzt ... (SB)



Istanbul ist einer der am dichtesten besiedelten Orte der Welt. Die Verbreitungsgeschwindigkeit (des Coronavirus, d. Red.) ist sehr schnell. Daher sollte ein Ausgangsverbot beschlossen werden. Wenn wir jetzt nicht mutig sind, kann es morgen schon zu spät sein.
Ekrem Imamoglu (CHP-Bürgermeister von Istanbul) [1]

Wie alle Staatsführungen weltweit, jedoch in zugespitzter Weise auf die spezifischen Zwangsmittel eines autokratischen Regimes fokussiert, stellt auch die Erdogan-Regierung in der Türkei im Umgang mit der Corona-Pandemie die Sicherung der Herrschaft allen anderen Maßgaben voran. Nicht als akute Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung, die es mit allen zu Gebote stehenden Mitteln abzuwenden gilt, wird diese Krise eingestuft, sondern als weitere Herausforderung in einem unablässigen Machtkampf gegen innere und äußere Feinde, die der türkische Staat, wie ihn Recep Tayyip Erdogan und seine Anhängerschaft definieren, gewinnen muß. Angefangen von der Leugnung des Problems über die Geheimhaltung der Fallzahlen und Verfolgung kritischer Stimmen bis hin zum Primat einer funktionsfähigen Wirtschaft auf Kosten schneller und umfassender Maßnahmen zur Eindämmung des Virus führt das Regime einen Krieg nicht so sehr gegen Corona, als vielmehr gegen zahllose Menschen im Land, die wie so viele vor ihnen der Staatsräson geopfert werden.

Wie Donald Trump, Jair Bolsonaro oder Rodrigo Duterte, um nur einige prominente Geistesverwandte des türkischen Autokraten zu nennen, neigt auch Erdogan zu katastrophalen Manövern, die vor allem deshalb aberwitzig anmuten, weil sie in Händen eines einzigen Despoten gebündelt besonders krass hervortreten. Wer als personifizierter Sachwalter der Interessen gesellschaftlicher Eliten nicht nur das Gewaltmonopol exekutiert, sondern auch die Deutungsmacht diktiert, versteigt sich zwangsläufig zur Auffassung, die Pandemie sei eine Erfindung seiner Gegner, die sich gegen ihn verschworen hätten. Eine Pathologisierung des Machthabers wird dennoch der Widerspruchslage nicht gerecht, zumal sich die Kontroverse, wie Corona am besten zu bekämpfen sei, in der Türkei eher graduell als grundsätzlich von der in anderen Ländern unterscheidet.

Anfangs kursierten in der Boulevardpresse und regierungsnahen Medien Gerüchte, besondere Gene der Turkvölker machten diese gegen COVID-19 immun. Mit dieser nationalchauvinistischen Sumpfblüte korrespondierte die amtliche Behauptung, im Lande gebe es keine Infektionen. Wer das öffentlich in Zweifel zog oder gar Fallzahlen vorlegte, wurde mit Repression überzogen. Mehr als 400 Personen wurden wegen "provokanter und mißbräuchlicher" Informationen über die Corona-Pandemie festgenommen, 1.750 verdächtige Social-Media-Konten identifiziert, wovon die Mehrheit "Terrorgruppen" angehöre, wie der türkische Innenminister Süleyman Soylu erklärte. Die Organisation Reporter ohne Grenzen berichtet von sieben Journalisten, die innerhalb einer Woche verhaftet wurden, weil sie über Ansteckungen und Todesfälle berichtet hatten. [2]

Als sich die Krankheitsfälle nicht mehr verheimlichen ließen, sah sich die Regierung zu einer modifizierten Informationspolitik und ersten Maßnahmen gezwungen, die jedoch viel zu spät kamen und nicht weitreichend genug waren. Den offiziellen Zahlen ist aus verschiedenen Gründen nicht zu trauen: Häufig sind die Angaben der Regierung in sich widersprüchlich und weichen erheblich von regionalen Zählungen ab. Zudem wird bislang so wenig getestet, daß keine annähernd relevante Grundlage einer vertrauenswürdigen Schätzung existiert. Alles deutet darauf hin, daß sich COVID-19 unkontrolliert sehr viel weiter ausgebreitet hat, als Regierungskreise angeben und aufgrund vorliegender Daten bekannt ist.

Die Türkei hatte am 11. März ihren ersten Coronavirus-Fall gemeldet, und seither sind in diesem Land mit rund 83 Millionen Einwohnern lediglich etwa 125.000 Tests durchgeführt worden. Im Vergleich dazu werden in Deutschland nach Angaben des Robert-Koch-Instituts derzeit rund 350.000 Personen pro Woche getestet. Da das Nachbarland Iran längst als gefährlicher Infektionsherd für die gesamte Region bekannt war, mußte man schon zum damaligen Zeitpunkt von einer Verbreitung in der Türkei ausgehen. Die Regierung in Ankara schloß dann zwar Schulen, Universitäten und mit einiger Verzögerung auch Moscheen, doch waren unter anderem Tausende Mekka-Pilger nach ihrer Rückkehr aus Saudi-Arabien ohne Quarantäne nach Hause geschickt wurden, wo sie den Erreger möglicherweise weiterverbreiteten. Erst nach öffentlichen Protesten wurden die letzten 5000 Pilger für zwei Wochen in die Isolation geschickt.

Gesundheitsminister Fahrettin Koca mußte kürzlich einräumen, die Regierung habe anfangs nicht gewußt, wie schnell sich das Coronavirus von einem Menschen auf den nächsten übertragen kann. Obgleich sich SARS-CoV-2 inzwischen in kaum einem anderen Land der Welt so schnell wie in der Türkei verbreitet, wurden dort im Unterschied zu zahlreichen EU-Staaten keine Ausgangssperren oder Kontaktverbote beschlossen. Die Regierung setzt vor allem auf Einschränkungen des internationalen und überregionalen Verkehrs. Zudem ließ sie Bildungseinrichtungen und Parks schließen, Großereignisse wurden abgesagt. Eine Ausgangssperre gilt lediglich für Menschen, die älter als 65 sind, sowie chronisch Kranke, die ebenfalls zur Risikogruppe gehören. Der Rest der Bevölkerung soll sich auf freiwilliger Basis möglichst selbst isolieren.

In der türkischen Öffentlichkeit, aber auch innerhalb der Regierung wird darüber diskutiert, ob gesetzliche Quarantänemaßnahmen für alle notwendig werden könnten. Während Gesundheitsminister Fahrettin Koca für eine Ausgangssperre plädiert, positioniert sich Erdogan dagegen, der offenbar fürchtet, daß die kriselnde Wirtschaft endgültig abstürzt. Wie in anderen Ländern sind auch in der Türkei die Virologen uneins, ob eine Ausgangssperre wirksam und notwendig sei. Zu den bekanntesten Befürwortern einer solchen Maßnahme zählt Ekrem Imamoglu, der oppositionelle Bürgermeister von Istanbul. Er verlangt von der Regierung, sie solle in der 16-Millionen-Metropole eine Ausgangssperre verhängen, die er nicht selbst anordnen darf. In Hinblick auf die Infektionsfälle und Toten ist Istanbul die mit Abstand am schwersten betroffene Stadt des Landes.

Der Neurowissenschaftler und Genetiker Caghan Kizil, Leiter der Helmholtz-Forschungsgruppe an der TU Dresden, hält strenge Quarantänemaßnahmen für unumgänglich: "Wir wissen, dass die schreckliche Situation in Italien, Spanien und teilweise in den USA daraus resultierte, dass nicht ausreichend Social-Distancing-Maßnahmen durchgeführt wurden. Die Türkei hat bis heute keine strikte Quarantäne verhängt. Die Mehrheit der Bevölkerung kann sich immer noch frei bewegen." Auch die unzureichende Zahl der Tests hält er für verhängnisvoll, da eine starke Verbreitung nur verhindert werden könne, wenn die Fälle von Infektionen gründlich registriert würden.

Für zahlreiche Mediziner in türkischen Krankenhäusern ist die Eindämmung des Coronavirus durch Social-Distancing, Tests und Isolation bereits gescheitert. Stattdessen rechnen die Krankenhausangestellten mit einem baldigen Ansturm von Corona-Patienten, der das Gesundheitssystem an seine Grenzen bringt. Die Türkische Ärztevereinigung kritisiert immer wieder, daß zu wenig Schutzausrüstung für das Gesundheitspersonal zur Verfügung stehe. Die türkische Regierung hingegen sieht offiziellen Angaben zufolge keine Gefahr, da die Türkei über genügend Beatmungsgeräte und Intensivbetten verfüge.

Die AKP-Regierung bezichtigt die Opposition, aus der Krise politisches Kapital zu schlagen. Die Antwort Ankaras darauf ist eine maximale Zentralisierung aller wichtigen Entscheidungen, wodurch die ohnehin vorhandenen Gräben im Land weiter vertieft werden. So wurden unabhängige Spendenaktionen von oppositionsgeführten Stadtverwaltungen in Istanbul und anderen Großstädten gestoppt, wogegen Ekrem Imamoglu vor dem Verwaltungsgerichtshof in Ankara Einspruch eingelegt hat. Höchst umstritten ist auch ein geplanter Straferlaß, der bis zu 130.000 Häftlingen in den überfüllten Haftanstalten des Landes die Freiheit bringen soll, um die Infektionsgefahr in den Gefängnissen zu vermindern. Laut den Plänen der AKP könnten davon selbst einige Gewalttäter profitieren, nicht aber die massenhaft unter dem Terrorvorwurf inhaftierten Oppositionellen, Journalisten und Gülen-Anhänger.

Als Erdogan Anfang der Woche nach einem Treffen seines Kabinetts per Videoschaltung vor die Kameras trat, wurde weithin die Bekanntgabe einer landesweiten Ausgangssperre erwartet. Statt dessen rief der Präsident seine Landsleute zu einer "Kampagne der nationalen Solidarität" auf. Jeder solle in einen Fonds einzahlen, der alle diejenigen unterstützen werde, die aufgrund des Kampfes gegen das neuartige Coronavirus ihre Arbeit verlieren würden. Er selbst gehe mit gutem Beispiel voran und spende sieben Monatsgehälter. Dem solle jeder Beamte, jeder Bürgermeister und jeder Funktionär seiner AKP folgen. Den größten Beitrag erwarte er von den Unternehmern und den Philanthropen des Landes, wobei der bekannteste Philanthrop, Osman Kavala, aufgrund fingierter Vorwürfe seit Oktober 2017 in Untersuchungshaft sitzt.

Erdogan, der aus Furcht vor einer Ansteckung nicht mehr im pompösen Präsidentenpalast, sondern in seinem Sommersitz in Istanbul oder in Ankara im früheren Amtssitz Atatürks wohnt, zeigte sich besorgt über die wirtschaftlichen Folgen der Krise. Die Türkei müsse die Produktion aufrechterhalten und die Räder müßten sich weiter drehen, "wie auch immer die Umstände" seien. Die Regierung werde sicherstellen, daß die weiter produzierenden Unternehmen ihre Beschäftigten auch schützten. Daß diese "Solidarität" darauf hinausläuft, die Bewältigung der Krise vom Staat auf die Bevölkerung abzuwälzen, löste einen Sturm des Protestes aus, wie ihn das Regime in dieser Form noch nicht erlebt hat.

Die Vorsitzende der oppositionellen Iyi-Partei, Meral Aksener, forderte Erdogan auf, er solle sein Präsidentenflugzeug vom Typ Boeing 747-8 im Wert von 400 Millionen Dollar verkaufen, das ihm der Emir von Qatar geschenkt habe. In den sozialen Medien hagelte es Spott und Hohn. Deutschland stelle ein Rettungspaket mit 750 Milliarden Euro zusammen, die Türkei gebe hingegen lediglich Iban-Nummern für eine Solidaritätsaktion bekannt, was insofern nicht ganz zutrifft, als die Zentralbank Stützungsmaßnahmen durchführt. Ein Nutzer schlug vor, Erdogan solle doch auf sein Lieblingsprojekt eines Kanals zwischen dem Schwarzen Meer und dem Marmarameer verzichten, dann gebe es genügend Geld für Solidarität. Empört schrieb der angesehene Intellektuelle Murat Yetkin, Erdogan sei nur am Wohlergehen der ihm nahestehenden Unternehmer im Baugewerbe und im Handel interessiert, nicht aber an Menschenleben. Sein "Heldentum" überzeuge nicht. Yetkin will daher wissen, weshalb nicht auf die Arbeitslosenversicherung und die Reserven der Zentralbank zurückgegriffen werde und ob die Staatskassen, für die Erdogans Schwiegersohn und Finanzminister Berat Albayrak verantwortlich ist, leer seien. Er fürchte, daß die Spenden direkt in die Taschen der Unternehmer fließen könnten, die den nun verwaisten Istanbuler Flughafen gebaut haben. [3]

Das Regime hat mit massiver Repression jegliche Opposition im Land unterdrückt, doch niemals völlig zum Schweigen gebracht. Erdogans Umgang mit der Corona-Pandemie führt der Bevölkerung vor Augen, wie wenig ihr Leben wiegt, wenn die Wucht der Staatsräson in Anschlag gebracht wird. Dies ruft Widerstand auf den Plan, der noch anwachsen dürfte, wenn die Todeszahlen in dem befürchteten Maße steigen.


Fußnoten:

[1] www.dw.com/de/coronavirus-in-der-türkei-eine-katastrophe-mit-ansage/a-52972094

[2] www.heise.de/tp/features/Die-Tuerkei-und-das-Coronavirus-4692909.html

[3] www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wie-erdogan-corona-bekaempft-geld-fuer-virus-opfer-spenden-16705421.html

3. April 2020


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