Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


REPRESSION/1697: Brasilien - Bolsonaros Selbstzerstörung ... (SB)



Es ist erschreckend, nach 30 Jahren Demokratie wieder Demonstrationen für die Rückkehr des Militärregimes zu sehen.
Luis Roberto Barroso (Richter am Obersten Gerichtshof Brasiliens) [1]

In Brasilien droht eine Machtübernahme der Militärs - jedoch nicht unter Führung Jair Bolsonaros, sondern um ihn zum bloßen Strohmann zu degradieren oder seinen Rücktritt herbeizuführen. Wie sein erklärtes Vorbild Donald Trump hat sich auch der brasilianische Präsident im Umgang mit der Coronapandemie als derart unfähig erwiesen, daß wachsende Fraktionen der ihn bislang unterstützenden Eliten des Landes inzwischen eine akute Gefahr in ihm sehen, die ihren Interessen zuwiderläuft. Die um sich greifende Seuche fordert Tausende Todesopfer und hat die Talfahrt der Wirtschaft derart beschleunigt, daß die Profite der einflußreichsten Industriesektoren in den Keller sacken, das Ansehen der politischen Führung dramatisch schwindet und soziale Unruhen ausbrechen könnten. Obgleich die Jahre der Repression unter der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 allen Grund geben sollten, eine historische Lehre daraus zu ziehen und eine Rückkehr militärischer Machthaber zu verhindern, scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Bolsonaro selbst hat die Diktatur offen verherrlicht, seine Administration ist von Militärs durchsetzt, und sein aberwitziger Coronakurs hat eine Situation herbeigeführt, in der erhebliche Teile der Bevölkerung in den Streitkräften den einzig verbliebenen Ordnungsfaktor sehen dürften.

In den zurückliegenden Tagen hat eine Kette von Entlassungen oder Rücktritten wichtiger Kabinettsmitglieder, befeuert durch immer extremere Manöver Bolsonaros, die Regierung an den Rand des Zusammenbruchs getrieben. Nachdem Brasilien zum Epizentrum der Coronapandemie in Lateinamerika geworden war, hatte Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta die Empfehlungen der Wissenschaftler befolgt und unter anderem eine landesweite Ausgangssperre wie auch soziale Distanzierung empfohlen. Bolsonaro, der die durch das Virus ausgelöste Krankheit wochenlang als "kleine Grippe" verharmlost hatte, wollte Mandetta schon zuvor loswerden, war aber zunächst von einigen einflußreichen Militärs davon abgehalten worden. Beide machten ihre konträren Positionen in Pressekonferenzen und Fernsehinterviews deutlich, woraufhin sich ihr Verhältnis rapide verschlechterte. Schließlich schritt der Präsident zur Tat und ersetzte den populären Gesundheitsminister durch Nelson Luiz Teich, wobei er erklärte, daß der Staat derzeit zuviel Geld ausgebe: "Das Leben ist unbezahlbar, aber die Wirtschaft und die Arbeit müssen zur Normalität zurückkehren." Teich kündigte prompt eine Lockerung der Einschränkungen des öffentlichen Lebens an. Darauf schwoll der Protest in zahlreichen Städten abermals an, wo die Menschen auf Töpfe und Pfannen schlugen, während immer wieder der Ruf "Bolsonaro raus!" angestimmt wurde. [2]

Als sich wenige Tage später mehrere hundert Menschen in Brasilia vor dem Hauptquartier der Armee versammelten, wo sie ein Ende jeglicher Isolationsmaßnahmen und ein Eingreifen des Militärs forderten, wandte sich Bolsonaro von der Ladefläche eines Pick-ups aus an die Teilnehmer. Die Zeit der Gauner sei nun vorbei, verkündete er. "Die alte Politik hat ausgedient. Wir wollen nicht verhandeln, wir wollen Taten!" Daß Bolsonaro Bestrebungen offen unterstützte, die eine Rückkehr zum Militärregime forderten, löste heftige Entrüstung unter Gouverneuren und beim Obersten Gerichtshof aus. Bolsonaro und seine Anhänger hatten in den letzten Monaten und Wochen immer wieder den Kongreß und das Oberste Gericht angegriffen, die zuletzt mehrere Vorstöße des Präsidenten blockieren konnten. Hochrangige Armeekreise zeigten sich über die Ansprache des Präsidenten vor dem militärischen Hauptquartier irritiert und erklärten, das Militär diene Brasilien, nicht jedoch einer Regierung. Das läßt darauf schließen, daß nicht nur in der politischen Führung, sondern auch in den Streitkräften verschiedene Fraktionen am Werk sind und das Treiben des aus dem Ruder laufenden Präsidenten keineswegs durch die Bank gebilligt wird.

Die Verwerfungen in der Regierung spitzten sich dramatisch zu, als acht Tage nach der Entlassung des Gesundheitsministers Mandetta mit Justizminister Sergio Moro das populärste und für Bolsonaro wichtigste Kabinettsmitglied seinen Rücktritt erklärte. Hintergrund der Kontroverse waren Ermittlungen der Bundespolizei gegen den Präsidenten und seine Familie. Dabei geht es unter anderem um mutmaßliche Verwicklungen von Bolsonaros Söhnen in korrupte Geschäfte paramilitärischer Milizenbanden in Rio de Janeiro und in Rufmord- und Erpressungskampagnen per Internet. Einige dieser Paramilitärs, mit denen die Bolsonaros geschäftliche und teilweise persönliche Beziehungen pflegten, waren auch in den Mord an der linken Stadträtin Marielle Franco verwickelt, die am 14. März 2018 erschossen wurde, wobei es allerdings bislang keine Beweise gibt, daß die Bolsonaros selbst mit dem Mord zu tun haben. Zudem ermittelt die Bundespolizei gegen Abgeordnete, die dem Präsidenten nahestehen. Sie werden verdächtigt, Demonstrationen gegen den Obersten Gerichtshof und den Kongreß finanziert zu haben. Und nicht zuletzt war Bolsonaros Teilnahme an dem Aufruf zum Umsturz natürlich ein krasser Verfassungsbruch. [3]

Der Präsident wollte den Chef der Bundespolizei, Mauricio Valeixo, seit längerem loswerden, wogegen sich Sergio Moro aber stemmte und sogar seinen Rücktritt androhte, falls sein Vertrauter entlassen würde. Bolsonaro redete dennoch seit Tagen von nichts anderem und machte die Ankündigung wahr, worauf der Justizminister zurücktrat. Anschließend brachte er eine Reihe an Vorwürfen gegen Bolsonaro ans Licht, die eine solche Wucht haben, daß ihre Veröffentlichung offenbar schon geraume Zeit vorbereitet war. Es geht darin um diverse gesetzes- bis verfassungswidrige Vergehen, was binnen weniger Stunden samt einiger Belege bei großen Medien des Landes aufschlug. [4]

Unter anderem soll Bolsonaro die Entlassung des Polizeichefs durch eine Art Urkundenfälschung betrieben und Einfluß auf die Polizeiarbeit gesucht haben, um die Behörde zu einem verlängerten Arm seiner persönlichen Macht zu machen. "Der Wechsel an der Spitze der Bundespolizei ohne echten Grund ist eine politische Einflussnahme, die meine Glaubwürdigkeit und die der Regierung erschüttert", sagte Moro, der als Minister auch für die öffentliche Sicherheit zuständig war. Die Autonomie der Bundespolizei müsse in einem Rechtsstaat geschützt werden. Bolsonaro habe ihm gesagt, er wolle einen Polizeichef einsetzen, "den er anrufen und um Informationen, um Geheimdienstberichte bitten kann". Der Präsident habe sich auch besorgt über bestimmte Ermittlungen geäußert und dies als weiteren Grund für den Austausch des Polizeichefs genannt. Bolsonaro ging zum Gegenangriff über und wies die Vorwürfe zurück. Sein ehemaliger Minister sei "nur um sein Ego besorgt, nicht um Brasilien" und strebe insbesondere einen Sitz am Obersten Gerichtshof an. "Als Präsident muss ich niemanden um Erlaubnis fragen, um den Chef der Bundespolizei auszutauschen." Die Bundespolizei von Sergio Moro habe sich mehr mit Marielle Franco beschäftigt als mit dem Mann, der ihn im Wahlkampf mit einem Messer attackiert hatte. [5]

Das damalige Attentat hatte dazu beigetragen, daß Bolsonaro überhaupt Präsident werden konnte, weil dem langjährigen Hinterbänkler im Parlament erst am Krankenbett schlagartig die volle Aufmerksamkeit der Medien zuteil wurde. Auch mußte er sich nicht länger öffentlichen Auftritten im Wahlkampf stellen, sondern konnte seine von Haßtiraden triefende Propaganda erfolgreich über die sozialen Medien verbreiten. Noch wichtiger für seinen Wahlsieg war jedoch Sergio Moro, der als Untersuchungsrichter den in allen Umfragen deutlich führenden früheren Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva 2017 mitten im Wahlkampf mit auffallend fragwürdigen Beweisen hinter Gitter brachte. Nicht für die Anhängerschaft Lulas, wohl aber einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung verklärte dies Moro endgültig zu einem Helden im Kampf gegen die durch alle Parteien grassierende Korruption, hatte er doch die Ermittlungen zu "Lava Jato" (Autowäscherei), dem größten Korruptionsskandal Lateinamerikas, maßgeblich vorangetrieben.

Bolsonaro ließ sich den Coup nicht entgehen und machte Moro zum Justizminister, wobei er ihm freie Hand in der Personalauswahl gab. Damit bedankte sich der Präsident nicht nur für die Schützenhilfe, sondern verschaffte sich zugleich ein Gütesiegel, da viele Anhänger Moros den Glauben an ihr Idol um keinen Preis verlieren wollten. Dabei hätte dieser den Posten niemals antreten dürfen, wäre er denn "der Unbestechliche", als der er sich verehren ließ. Danach kratzte eine Serie peinlicher Veröffentlichungen am Image des ehemaligen Richters, die von Hackern aus privaten Chats entwendet und dem Investigativorgan The Intercept zugespielt worden waren. Dennoch blieb Moro dank seines Rufs die wichtigste Stütze des Präsidenten, der diesen Rückhalt nun eigenhändig zunichte gemacht hat.

Als nächster potentieller Handtuchwerfer gilt Wirtschaftsminister Paulo Guedes, die zweite Brücke ins bürgerliche Lager. Der in Chicago ausgebildeter Ökonom und Investmentbanker, der große marktliberale Reformen versprach, aber in der Praxis kaum etwas hinbekam, paßt so gar nicht in Bolsonaros Kreis evangelikaler Fundamentalisten, die sich der Wissenschaft und deren Rationalität verweigern. Aus Kreisen von Unternehmern kommen Signale der tiefen Enttäuschung über den Präsidenten, der ihren Geschäften zunehmend abträglich ist. Selbst die unter der Landwirtschaftsministerin Tereza Cristina Correa enorm erfolgreiche Agrarindustrie muß um ihr Image und womöglich auch ihre internationale Position bangen, da die von Bolsonaro forcierte Abholzung im Amazonasgebiet nicht nur von der weltweiten Klimaschutzbewegung heftig kritisiert wird. [6]

Bolsonaro will nun seinen früheren Leibwächter als neuen Chef der Bundespolizei einsetzen, der zudem eng mit seinem Sohn Carlos befreundet ist. Dagegen regt sich Widerstand in der Behörde, die Carlos Bolsonaro soeben als Drahtzieher eines Fake-News-Netzwerkes enttarnt hat, das Haßkampagnen gegen das Oberste Gericht fährt und eine Intervention des Militärs fordert. Das Oberste Gericht ordnete vorsorglich an, daß die Ermittler in den Fällen, die den Präsidenten und seine Söhne betreffen, nicht ausgetauscht werden dürfen.

Nun schlägt die Stunde der Generäle. Schon seit Jahren haben sich hochrangige Militärs wie der damalige Heereschef Eduardo Villas Boas mit auffälligen Äußerungen im Internet und bei Interviews in Nachrichtensendungen übergriffig gezeigt. Man sprach sich für die Amtsenthebung der früheren Präsidentin Dilma Rousseff aus und gegen eine Freilassung des Expräsidenten Lula da Silva aus dem Gefängnis. Man unterstützte den früheren Hauptmann Bolsonaro, in dessen Windschatten auf demokratisch anmutende Weise Macht zu gewinnen war. Militärs bildeten lange vor der Wahl den harten Kern der Planungsmannschaft um Bolsonaro, der frühere General Hamilton Mourao ist sein Vizepräsident, das Kabinett und die Beraterstäbe bestehen zu großen Teilen aus Soldaten und Ex-Soldaten. Manche sind persönliche Freunde aus der Militärzeit Bolsonaros, der sie mit warmen Worten und Privilegien umgarnt. Ob ihn aber das Gros der Generäle vor der Amtsenthebung schützen würde, ist ungewiß.

Teile der Streitkräfte stellen ihre verfassungsmäßige Nachrangigkeit gegenüber demokratisch gewählten Volksvertretern bislang nicht in Frage, andere sehen sich bereits als letzte Garanten der Ordnung im Land, die einspringen müssen, wenn Politiker Brasilien mit Intrigenspielen und Korruption ruinieren. Es entbehrt nicht einer bitteren Ironie, daß ausgerechnet Jair Messias Bolsonaro, der immer wieder mit einer militärischen Machtübernahme gedroht hat, diese Option auslösen und ihr zugleich selbst zum Opfer fallen könnte. Entscheidend für die weitere Handhabung des Desasters werden die Machtkämpfe und daraus resultierenden Weichenstellungen innerhalb der brasilianischen Armee sein. Die Militärs haben sich seit Bolsonaros Antritt weniger als in den Startlöchern stehende Putschisten, denn als Aufpasser positioniert. Figuren wie Moro, Mandetta und Guedes haben in gewissem Umfang verschleiert, wieviel Macht die Militärs unter Bolsonaro gewonnen haben. Angesichts der öffentlichen Demontage des Präsidenten könnten sie sie ganz an sich reißen.


Fußnoten:

[1] www.n-tv.de/politik/Bolsonaro-Fans-fordern-Militaerintervention-article21725029.html

[2] www.jungewelt.de/artikel/376653.brasilien-rauswurf-mitten-in-coronakrise.

[3] www.sueddeutsche.de/politik/brasilien-bolsonaro-demonstration-1.4882459

[4] www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/brasilien-jair-bolsonaro-sergio-moro-militaer-coronavirus

[5] www.t-online.de/nachrichten/ausland/internationale-politik/id_87766844/streit-mit-praesident-bolsonaro-brasiliens-justizminister-moro-tritt-zurueck.html

[6] www.welt.de/politik/ausland/article207509987/Brasilien-Das-Ende-des-Mythos-Jair-Bolsonaro.html

27. April 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang