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KULTUR/0777: "Appeasement" ... Tschecheslowakei 1939, Jugoslawien 1999 (SB)



Vor 70 Jahren, am 16. März 1939, wurde mit der Errichtung des "Protektorats Böhmen und Mähren" die Besetzung der Tschecheslowakei und deren Integration ins "Großdeutsche Reich" abgeschlossen. Dem Ende der Tschechoslowakischen Republik (CSR) war eine Politik der gezielten Unterminierung des Landes vorausgegangen, bei der sogenannte Sudetendeutsche die Rolle der fünften Kolonne des großen Nachbarn übernommen hatten.

Eine entscheidende Wegmarke dieser Entwicklung war das Münchner Abkommen, das am 30. September 1938 zwischen Deutschland, Italien, Britannien und Frankreich zu Lasten der CSR abgeschlossen wurde. Die darin erteilte Zustimmung des britischen Premierministers Arthur Neville Chamberlain und des französischen Ministerpräsidenten Édouard Daladier zum Anschluß des sogenannten Sudetenlandes an das Deutsche Reich bereicherte den Wortschatz der Politik mit dem Schlagwort des "Appeasements". Die damit gemeinte Beschwichtigung des deutschen Diktators Adolf Hitler, dessen Expansionsdrang die CSR zugunsten der vermeintlichen Verhinderung eines Krieges geopfert wurde, wird bis heute gerne dazu genutzt, politische Schwäche gegenüber aggressiven Potentaten anzuprangern.

Bezeichnenderweise waren es meist Vertreter des stärksten Militärbündnisses der Welt, die den Begriff auf demagogische Weise verwendeten, um die Unabdinglichkeit der kriegerischen Bezwingung des irakischen Präsidenten Saddam Hussein und des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic zu unterstreichen. Stets wurde dabei Bezug auf das Münchner Abkommen genommen, um das Führen vermeintlich gerechter Krieges gegen aggressive Gewaltherrscher zu legitimieren.

Insbesondere im Fall Jugoslawiens liefen die Politiker der NATO-Staaten mit ihren plakativen Analogien, die sie als mutige Kämpfer gegen faschistische Willkür darstellen sollten, zu Hochform auf. Neben der Gleichsetzung des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic mit Adolf Hitler sowie einem unterstellten Völkermord im Kosovo, der vom deutschen Außenminister Joseph Fischer gar als Wiederholung von Auschwitz dargestellt wurde, rekurrierte man mit dem Begriff des Appeasements auf die Bezwingung Hitlerdeutschlands durch die Alliierten des Zweiten Weltkriegs.

Schon im Golfkrieg 1991 fungierten "München" und die Jahreszahl "1938" als selbstevidente Signaturen einer Kriegführung, deren Grausamkeit gegenüber der irakischen Bevölkerung nichts von ihrem vorgeblich freiheitlichen und menschenfreundlichen Anspruch übrigließ. Im Frühjahr 1999 feierte das historische Abkommen erneut Auferstehung, als der britische Premierminister Tony Blair die "bittere Erfahrungen" beschwor, aus denen man gelernt habe, nicht wie vor 60 Jahren "Diktatoren gewähren zu lassen" (Newsweek, 16.04.1999). Im neuen Jahrtausend kämpfe man für "Werte" eines "neuen Internationalismus", behauptete der Mann, der Britannien vier Jahre später am Überfall des Iraks teilhaben ließ, damals

Entsprechende Vergleiche diverser Regierungsmitglieder aus anderen NATO-Staaten waren gang und gäbe und sind bis heute von Belang, da die Appeasement-Rhetorik nichts von ihrer legitimatorischen Wirksamkeit eingebüßt hat. So feuerten neokonservative Propagandisten vor sechs Jahren im Vorfeld des Irakkriegs ganze Breitseiten von Vergleichen Saddam Husseins mit Adolf Hitler ab, während Kritiker des geplanten Angriffs auf den Irak rundheraus als Verfechter einer Appeasement-Politik gegeißelt wurden. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2006 warnte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dieser Analogie davor, den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinejad zu unterschätzen.

Gerade im Fall Jugoslawiens, das am 24. März 1999 von der NATO überfallen wurde, stellt der unvoreingenommene Betrachter schnell fest, daß das der NATO militärisch um ein Vielfaches unterlegene Land mit der Besetzung als Wiedergänger Hitlerdeutschlands hoffnungslos überfordert war, während das Auftreten der NATO auf dem Balkan höchst unvorteilhafte Parallelen mit dem "Großdeutschlands" gegenüber der Tschecheslowakei aufwies.

So ähnelt die nach dem Auseinanderbrechen Österreich-Ungarns 1918 gegründete CSR als Vielvölkerstaat durchaus Jugoslawien, wurde sie doch zu diesem Zeitpunkt von 6,5 Millionen Tschechen, 3,25 Millionen Deutschen, 3 Millionen Slowaken, 700.000 Ungarn, 400.000 Ruthenen und 70.000 Polen bewohnt. Bei Staatsgründung wurde zwar versäumt, den einzelnen Volks- und Sprachgruppen eine angemessene Autonomie zuzusichern, die Deutschen standen jedoch in ihrem Minderheitenstatus zum größten Teil loyal zur Prager Regierung, in der sie auch Minister stellten.

In den 1930er Jahren kam es in der CSR aufgrund der andauernden Wirtschaftskrise zu vermehrten Spannungen. Konrad Henlein gründete die Sudetendeutsche Partei (SdP), die mehr Unabhängigkeit von der Zentralregierung forderte, aber alle antitschechischen Töne vermied. Seit 1935 übten die NSDAP und die Berliner Regierung starken Einfluß auf die SdP aus, indem sie ihr durch verschiedene Organisationen und Ämter Finanzhilfe sowie logistische Unterstützung zukommen ließen.

Wirtschaftliche Probleme waren auch im Jugoslawien der 1980er und 1990er Jahre Anlaß zur Provokation dessen, was dann als ethnischer Konflikt ausgewiesen wurde. So litt die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien unter der restriktiven Finanzpolitik des Internationalen Währungs-Fonds (IWF), in Folge dessen das Solidarprinzip zwischen den Regionen ausgesetzt wurde. Die dabei entflammten Verteilungskämpfe wurden von nationalistischen Kräften genutzt, um Feindseligkeiten entlang ethnischer Grenzen, die unter wirtschaftlich besseren Bedingungen relativ bedeutungslos waren, zu provozieren. Der Kosovo erhielt als ärmste Region Jugoslawiens zusätzliche Hilfe, die jedoch durch den starken Bevölkerungszuwachs der Kosovo-Albaner wie auch die Zuwanderung aus Albanien aufgezehrt wurde. Zudem haben nationalistische Albaner frühzeitig serbische und jugoslawische Institutionen boykottiert, gleichzeitig aber auch staatliche Leistungen etwa der Energieversorung kostenlos in Anspruch genommen.

Die Entwicklung des albanischen Nationalismus zu einer das Geschick der Kosovo-Albaner beherrschenden Kraft ist in ihrer gegen die staatliche Zentralgewalt gerichteten Wirkung durchaus mit der Instrumentalisierung der SdP durch Hitler zu vergleichen, der nachweislich spätestens im November 1937 den Plan zur Eroberung der Tschecheslowakei gefaßt hatte. Die separatistische UCK erhielt frühzeitig Hilfe aus den NATO-Staaten in Form politischer und propagandistischer Unterstützung als auch durch Waffenlieferungen, die von westlichen Diensten organisiert wurden.

Das zwangsläufige Ergebnis eines ausgewachsenen Kriegs der UCK und schließlich der NATO gegen den serbischen und jugoslawischen Staat um die Rechte eines Volkes, das wie viele andere Minderheiten, die für die NATO nicht von Belang sind, Ansprüche auf Autonomie stellte, wurde als Reaktion auf angeblich genozidale Absichten der Belgrader Regierung verkauft. Aus heutiger Sicht lassen sich diese Vorwürfe weniger denn je belegen. Statt dessen dominiert das Bild eines Bürgerkriegs, primär hervorgerufen von einer separatistischen Miliz und unterstützt durch Dritte, zumindest diejenigen Analysen, die sich nicht damit begnügen, die damalige NATO-Propaganda zu reproduzieren.

Adolf Hitler verstand es geschickt, die Bewegung der Sudetendeutschen vor den Karren seiner Eroberungspläne zu spannen. Nachdem Henlein am 28. März 1938 in der Berliner Reichskanzlei von ihm, seinem Stellvertreter Rudolf Heß, der die Umwandlung der SdP in eine propagandistische und politische Waffe über die ihm unterstellte Auslandsorganisation der NSDAP, den Volksdeutschen Rat und die Volksdeutsche Mittelstelle besonders intensiv betrieben hatte, sowie Außenminister Joachim Ribbentrop ins Gebet genommen worden war, dienten seine Aktivitäten nur mehr dem "Anschluß" des Siedlungsgebiets der Sudetendeutschen ans Reich. Hitler verlangte von ihm, stets Forderungen an die Prager Regierung zu stellen, die diese nicht erfüllen konnte, wollte sie nicht den Bestand der Republik gefährden.

Nachdem Prag deutsche Truppenbewegungen an der Grenze gemeldet worden waren, rief Staatspräsident Edvard Benes am 20. Mai 1938 die Teilmobilmachung aus. Großbritannien wirkte auf Hitler ein, den Frieden zu bewahren, und Frankreich bekundete, bei einem Grenzübertritt deutscher Truppen einzugreifen, warnte gleichzeitig jedoch die Sowjetunion davor, ihrerseits Truppen zur Unterstützung der Tschecheslowakei zu schicken. Da Hitler glaubhaft machen konnte, daß es sich bei den Meldungen deutscher Truppenbewegungen um einen Irrtum handelte, ging er in die Offensive und lastete Prag eine "unerhörten Provokation" an. Ausgerechnet Winston Churchill, später als glorreicher Überwinder der Appeasement-Politik gefeiert, ergriff in einem Zeitungsartikel Partei für Hitler: "Ohne die Anwaltschaft eines starken Deutschland könnte den sudetendeutschen Beschwerden niemals abgeholfen werden."

Nun bestand die Gefahr, daß Prag einer für die Sudetendeutschen vorteilhaften Regelung der Autonomiefrage zustimmte, so daß deren Wortführer Konrad Henlein der Strategie Hitlers, die Regierung Benes mit unerfüllbaren Forderungen an die Wand zu spielen, mit der Forderung nach einer Neuordnung der Tschecheslowakei im Sinne einer Kantonalisierung nach Schweizer Vorbild erfüllte. Da die Prager Regierung, wie erwartet, aus Angst vor einer Auflösung der Republik ablehnte, zog sie sich den Vorwurf zu, zwecks Erhalt eigener Dominanz den Sudetendeutschen ihre Rechte zu verweigern.

Das stimmte damals ebensowenig, wie es in Jugoslawien zutraf, daß den Kosovo-Albanern durch Milosevic verfassungsmäßige Rechte vorenthalten wurden, die nicht verhandelbar gewesen wären und die sie einer faktischen Diktatur der Serben unterworfen hätten. Sie waren viel mehr an einer Form der Autonomie interessiert, mit der ein Staat im Staate konstituiert und die Belgrader Regierung weitreichend entmachtet worden wäre. So weigerten sich die Kosovo-Albaner frühzeitig, über demokratische serbische Institutionen ihr Recht auf Partizipation wahrzunehmen, obwohl sie aufgrund ihrer Zahl einigen Einfluß hätten geltend machen können.

Als SdP-Führer Konrad Henlein am 12. Mai 1938 zu Besprechungen nach London reist, gab ihm Hitler folgenden Befehl mit auf den Weg: "Leugnen Sie ab, daß sie auf Weisung aus Berlin handeln. Geben Sie den Briten zu verstehen, daß der Führer lediglich Gerechtigkeit für seine Volksgenossen in der CSR wünscht." Der britische Außenminister Lord Halifax kooperierte wunschgemäß und wirkte auf die Prager Regierung ein, gegenüber den Sudetendeutschen "höchstmögliches Entgegenkommen" zu zeigen. Als man sich in Prag dann zu Verhandlungen bereit zeigt, sattelte Hitler mit der Forderung, präzise Auskünfte über die militärischen Befestigungen der Tschecheslowakei an der deutschen Grenze zu erhalten, drauf. Nur so konnte er erreichen, daß es nicht doch zu einer friedlichen Einigung im Lande kam, denn die Preisgabe dieser gut ausgebauten Verteidigungsstellungen wäre einer Einladung zur Eroberung gleichgekommen.

Nachdem es gelungen war, die deutsche Minderheit durch eine Strategie überzogener Autonomie-Forderungen bei prinzipieller Ablehnung aller Zugeständnisse der Prager Regierung in Konfrontation mit Tschechen und Slowaken zu bringen, begann das 1938 auf Veranlassung Hitlers gegründete Sudetendeutsche Freikorps damit, durch Terrorangriffe auf staatliche Einrichtungen und tschechische Bürger, die zum Nationalitätenkonflikt stilisierte Okkupationsstrategie Berlins in die militärischen Phase überzuleiten.

Hier ist die Parallele zum Holbrooke-Milosevic-Abkommen vom 16. Oktober 1998 augenfällig. Während die jugoslawische Regierung mit weitgehenden Zugeständnissen den Frieden zu sichern versuchte, rückte die UCK in die von den jugoslawischen und serbischen Sicherheitskräften preisgegebenen Gebiete des Kosovo nach. Den Separatisten wurden keinerlei Auflagen seitens des US-Emissärs Richard Holbrooke gemacht, so daß sie der jugoslawischen Seite ohne Einschränkungen der vorgeblich neutralen USA weiterhin militärisch zusetzen konnten. Trotz des an den Tag gelegten Wohlverhaltens Belgrads ließ die militärische Bedrohung Jugoslawiens durch die NATO um keinen Deut nach. Die Strategie, die Belgrader Regierung in eine Zwangslage zu manövrieren, in der sie praktisch nichts weiter tun konnte, als sich entweder gegenüber dem eigenen Land oder der öffentlichen Meinung im Westen schuldig zu machen, trug erheblich dazu bei, daß die NATO Gründe für einen Überfall auf Jugoslawien konstruieren konnte. Signifikant für den Vergleich mit der Tschecheslowakei 1938 ist die systematische, von der stärkeren Seite ausgehende Nötigung, das eigene Land seiner Verteidigungsmöglichkeit zu berauben, so daß der letztmögliche Einspruch gegen fremde Okkupation wirkungslos wird.

Am 12. Juni 1938 bezeichnete Rudolf Heß die Tschecheslowakei als "Gefahrenherd für den Frieden in Europa", weil dieser Staat offensichtlich nicht in der Lage sei, "Ruhe und Ordnung innerhalb seiner Grenzen zu halten". Das erinnert fatal an die Aussagen deutscher Politiker und Journalisten zu Jugoslawien, die vom "Völkergefängnis" bis zum "Brandherd" reichten, ohne auch nur darauf einzugehen, wie sehr internationale Interessen am Zerfall des Vielvölkerstaates Titos beteiligt waren. Für das damalige Europa war die Sache zumindest in den Hauptstädten London und Paris schnell geklärt. "Man kann nicht 10 Millionen Menschen in einem Krieg opfern, um 3,5 Millionen Deutsche daran zu hindern, sich mit Deutschland zu vereinigen", ließ etwa der französischen Außenminister Bonnet verlauten, und Großbritannien entsandte Lord Runciman als Beobachter nach Prag, der für die Sache der Sudetendeutschen Stellung bezog.

Als Präsident Benes den Sudetendeutschen am 5. September 1938 ein Angebot unterbreitete, daß sie nicht hätten abschlagen können, da er ihnen zusagte, all ihre Forderungen zu erfüllen, ließ man die Verhandlungen von Berlin aus abbrechen. Dort hatte man bereits propagandistische Vorkehrungen für eine Eskalation des vermeintlich Minderheitenkonflikts getroffen, den man sich nicht mehr nehmen lassen wollte. Schlagzeilen in der deutschen Presse wie "Die Tschechen erziehen zum Völkerhaß" oder "Furchtbare Greueltaten der tschechischen Mordbanditen" dramatisierten die bisweilen gewalttätigen Auseinandersetzungen und überzeichneten die Sudetendeutschen als Opfer "hussitischer Mordbuben", die auch vor Greueltaten an hochschwangeren Frauen nicht zurückschrecken und die Volksdeutschen zu "Freiwild tschechischer Brutalität" machten.

Dahinter standen Presseanweisungen des Goebbelsschen Propagandaministeriums, die eine Strategie verrieten, die an die einseitige Überzeichnung der Serben als rassistische Völkermördern erinnerte. "Zwischenfälle stark herausstellen. Tendenz: Bei den Deutschen herrscht Ruhe, bei den andern Kopflosigkeit und Terror", hieß es im Mai, "Die Presse muß die Tendenz verbreiten: Es ist nicht vorstellbar, daß ein friedliches Zusammenleben der Volksgruppen im gleichen Staat möglich ist", lautete die Anweisung am 14. September, und zwei Tage später zog man die Agitationsschraube um ein weiteres an:

"Flüchtlingselend groß zeigen ... Berichten, daß viele Haus und Hof im Stich gelassen haben, daß kranke Menschen, hochschwangere Frauen und kleine Kinder usw. sich im letzten Augenblick vor der tschechischen Soldateska retten konnten. Appell an die Welt, solche Zustände nicht zu dulden."

Zwar soll hier nicht die bundesdeutsche Presse und Politik in einen Topf mit dem NS-Propagandaapparat geworfen werden. Dennoch ist daran zu erinnern, daß der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping seine Pressekonferenzen vor an die Wand projizierten Filmen von Flüchtlingen aus dem Kosovo abhielt, daß immer wieder Greuelgeschichten aus zweiter und dritter Hand kolportiert wurden, die jeder Beweiskraft entbehrten, daß in Belgrad angeblich orchestrierter Massenmord regelmäßig als Hintergrund bloßer Behauptungen oder ausgesuchter Einzelfälle angeführt wurde, daß sich die Boulevardpresse zu "Mörder"- und "Schlächter"-Rufen an die Adresse des jugoslawischen Präsidenten verstieg.

Eine Untersuchung deutscher Presseberichte über die Auflösung Jugoslawiens und die Rolle Serbiens dabei erbrächte das bedenkliche Bild einer massiven Schuldzuweisung an die Adresse Belgrads, die die Verantwortung der kroatischen, bosnisch-muslimischen und kosovoalbanischen Akteure an dieser Entwicklung unterschlug und auf der Linie eines historischen Serbenhasses lag, dessen Fortschreibung bei der sich so geschichtsbewußt gebenden rot-grünen Bundesregierung alle Alarmglocken hätte läuten lassen müssen.

Die Kriminalisierung eines ganzen Volkes und seiner Regierung verfing nicht nur in Deutschland, man schloß sich diesem Bild auch in anderen europäischen Hauptstädten an, da die CSR prinzipiell unter Verdacht stand, als potentielle Einflußsphäre der Sowjetunion einen Schwachpunkt im antikommunistischen Konzept der Westeuropäer zu bilden. Natürlich galt es, das immer mächtigere Deutschland in seinem Eroberungsdrang zu bremsen, genauso wollte man es jedoch als Bollwerk gegen das Vordringen des Kommunismus behalten und war daher bereit, das unheilige Spiel um die Aufteilung der Tschecheslowakei mitzumachen.

So riet der britische Vermittler Lord Runciman, der aus seinen Sympathien für Hitler kein Geheimnis machte, Premierminister Chamberlain, die Abtretung überwiegend deutscher Gebiete der Tschecheslowakei an das Deutsche Reich gutzuheißen, da ein Zusammenleben zwischen Tschechen und Deutschen nicht mehr möglich sei. Die Sowjetunion hingegen wäre als Garantiemacht für den Bestand der CSR durchaus bereit gewesen, den deutschen Forderungen entgegenzutreten, das hätte jedoch den Durchmarsch ihrer Truppen durch Polen bedeutet, das auf diese Weise leicht in Moskaus Hände hätte fallen können, so meinte man zumindest in London und Paris. Daher ließ man die Tschecheslowakei fallen und schenkte Hitlers Beteuerungen Glauben, daß dies nach Österreich die einzige und letzte Gebietsforderung des Deutschen Reichs in Europa sei.

"Gesamttendenz: Dieser Staat ist eine Schande für Europa. Er muß von der Bildfläche verschwinden, erst dann wird Friede sein. Meine Herren, Sie sind die schwere Artillerie des Reiches. Sie müssen die Stellung sturmreif schießen. Es darf keine Zeitung ohne ganz große Aufmachung erscheinen. Schon daß äußere Spiegelbild muß wirksam sein."

Dieser Presseanweisung vom 19. September 1938 wurde ganz und gar Rechnung getragen, parallel dazu brach im Sudetenland ein Aufstand aus, SdP-Führer Konrad Henlein floh nach Bayern, wo er die Parole ausgab: "Jetzt gibt es als Lösung nur noch die Abtretung des Sudetenlandes an Deutschland." Die Rechnung Hitlers war aufgegangen, alle Verhandlungsbasis zwischen Sudetendeutschen und Tschechen zerstört und das Land selbst in die Ecke der Gewalttäter manövriert, wo es darauf harrte, aufgeteilt zu werden.

Obwohl Chamberlain Hitler ein weitreichendes Angebot unterbreitet hatte, das nicht nur die Abtretung des Sudetengebiets, sondern auch die Neutralisierung der CSR als potentiellen Teilnehmer an einem Feldzug der Weltkriegssieger gegen Deutschland vorsah, erhöhte Hitler den Einsatz und verlangte die sofortige Besetzung der Sudetengebiete durch deutsche Truppen. Das führte Europa an den Rand des Krieges und die Regierungschefs Großbritanniens und Frankreichs aufgrund einer Intervention des italienischen Staatschefs Benito Mussolini kurz vor Ausbruch eines Kriegs am 29. September 1938 nach München. Dort gab man nicht nur dem deutschen Ansinnen statt, am 1. Oktober die Wehrmacht in die Tschecheslowakei einmarschieren zu lassen, um die Sudetendeutschen "heim ins Reich" zu holen, sondern gestand Hitler zu, alle Gebiete zu annektieren, in denen mindestens die Hälfte der Bevölkerung deutsch sprach. Damit waren sämtliche Grenzbefestigungen der CSR in deutsche Hand geraten, was der Wehrmacht einen verlustreichen Feldzug ersparte.

Da der vom NS-Regime entflammte Nationalitätenkonflikt zudem Gebietsforderungen Polens und Ungarns hatte aufkommen lassen, wurden auch diese zu Lasten der CSR befriedigt. Die Kooperation der britischen Regierung war so total, daß sie sudetendeutschen Gegnern der Nazis, die in den verbliebenen Rumpfstaat flüchteten, die dringend benötigten Visen für eine Ausreise ins britische Exil verweigerten, was für viele Verhaftung und für einige den Tod bedeutete. Hermann Göring zeigte sich vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal erstaunt darüber, wie mühelos Hitlers Forderungen gegen Chamberlain und Daladier in München durchgesetzt wurden. Es war offensichtlich, daß man nicht bereit war, für die Tschecheslowakei in einen Krieg gegen Deutschland zu ziehen, und diese Haltung wurde in Großbritannien mit jubelnder Zustimmung quittiert und der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung, der Presse und des Parlaments geteilt.

Die anschließende Aufspaltung der restlichen Tschecheslowakei im geschickten Zusammenspiel zwischen Deutschland und Ungarn zum Satellitenstaat Slowakei und zum Reichsprotektorat Böhmen und Mähren war lediglich der konsequente Vollzug einer absehbaren Eroberungsstrategie. Dementsprechend gering war der Widerstand Frankreichs und Britanniens gegen diesen letzten Akt der Zerschlagung der CSR. Am 15. März 1939 konstatierte Chamberlain trocken, daß man sich nun den unter eigener Mitwirkung geschaffenen Tatsachen füge: "Die Proklamierung der Selbstständigkeit der Slowakei setzt den Schlußstrich unter die innere Auflösung des Staates, dessen Grenzen zu garantieren wir uns verpflichtet hatten. Seiner Majestät Regierung kann sich daher nicht mehr an diese Verpflichtung gebunden fühlen."

Der britische Premierminister war keinesfalls die opportunistische Taube, als die ihn die heutige Geschichtsschreibung hinstellt. Er verließ sich nicht auf den durch die Preisgabe der CSR erkauften Frieden, sondern trieb die Aufrüstung seines Landes mit verstärkten Kräften voran. Das Münchner Abkommen erfüllte mit der Ausschaltung der Sowjetunion aus den europäischen Angelegenheiten durchaus seinen Zweck, worin eine Parallele zum Krieg der NATO gegen Jugoslawien begründet liegt, die nicht dem Simpelkonzept "Hitler gleich Milosevic" folgt. Die schlußendliche Auflösung Jugoslawiens beraubte Rußland des letzten Vorpostens im Raum der EU und machte daher in geostrategischer Hinsicht durchaus Sinn. Appeasement wurde ausschließlich gegenüber der NATO geübt, zum einen durch ihren ehemaligen Gegner Rußland, zum andern durch die europäischen Staaten, denen keine Vorteile aus diesem maßgeblich von den USA, Großbritannien und Deutschland erzwungenen Krieg erwuchsen.

Wenn es einen diplomatischen Vorwand gibt, der mit dem Münchner Abkommen von 1938 verglichen werden kann, dann ist es der Vertrag von Rambouillet, der durch die Unterzeichnung der Delegation der Kosovo-Albaner und der westlichen Verhandlungsführer Gültigkeit erhielt. Hitler hatte Chamberlain und Daladier mit ultimativer Gewaltandrohung zur Unterschrift genötigt und durch das Zurückdrängen Rußlands auf seine Seite gebracht, während das Opfer Tschecheslowakei keine Stimme besaß. In Rambouillet wurde Serbien ultimativ gedroht, im Falle einer Verweigerung der Unterschrift unter einen Vertrag, dessen in letzter Minute eingefügter militärischer Anhang wesentliche souveräne Kompetenzen des Landes außer Kraft setzte, durch die seit einem halben Jahr per Angriffsbefehl der Mitgliedstaaten ermächtigte NATO angegriffen zu werden. Serbien trat nicht als Verhandlungspartner an, sondern als prospektives Opfer eines Diktats, bei dem die Kosovo-Albaner nur zu gewinnen und Serbien wie Jugoslawien nur zu verlieren hatten.

In Rambouillet gingen die Kosovo-Albaner endgültig ein unheiliges Bündnis mit der NATO ein. Begonnen hatte diese Verbindung damit, daß sich US-amerikanische Politiker mit Führern der kurz zuvor noch vom US-Außenministerium als terroristische Organisation eingestuften UCK präsentierten und so der Demontage der weniger radikalen, auf eine friedliche Lösung des Nationalitätenkonflikts setzenden kosovoalbanischen LDK Ibrahim Rugovas Vorschub leisteten. Das hatte zum Ergebnis, daß die UCK in Rambouillet die Hälfte der Delegation der Kosovo-Albaner stellte, obwohl sie noch ein halbes Jahr zuvor nicht an Verhandlungen mit Belgrad teilnehmen wollte. Die in Rambouillet besiegelte Aufwertung der UCK, deren Mitglieder in Jugoslawien schwere Verbrechen begangen hatten, zu einem der Belgrader Regierung gleichwertigen Verhandlungspartner tat das ihrige dazu, aus Aufständischen, die in vergleichbaren Situationen in NATO-Staaten als Terroristen behandelt worden wären, seriöse Politiker mit legitimen, gegen die jugoslawische Verfassung gerichteten Ansprüchen zu machen.

Die Anfügung des die militärischen Belange betreffenden Anhangs "Annex B" zum Rambouillet-Vertrag, der Jugoslawien praktisch unter hoheitliche Befugnisse der NATO gestellt hätte, geschah ohne Wissen der russischen Mitglieder der Balkankontaktgruppe, die seinen Inhalt verwarfen, als sie Kenntnis davon erhielten. Die Ablehnung der darin vorgesehenen Stationierung von NATO-Truppen im Kosovo wie ihrer rechtlichen Stellung in ganz Serbien und Jugoslawien wurde durch eine Resolution des serbischen Parlaments bestätigt, entsprang also keinesfalls den Ränkespielen des angeblichen serbischen Hitlers. Die Entscheidung der serbischen Volksvertreter signalisierte sogar die Bereitschaft, eine bewaffnete Truppe der Vereinten Nationen im Kosovo zu akzeptieren, was vor einem halben Jahr, als die Interventionsdrohung der NATO Gestalt annahm, noch indiskutabel gewesen war.

Den US-amerikanischen Verhandlungsführern schien es jedoch vor allem darum zu gehen, endlich die Vollmacht zum Losschlagen in die Hand zu bekommen. Die Unannehmbarkeit der Forderungen von Rambouillet, deren Kernpunkte unverhandelbar waren, führte geradewegs zum Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien, der nun hinreichend durch die Weigerung der Regierung Milosevic, sich diesem Diktat zu unterwerfen, legitimiert schien. Der damalige US-Außenamtssprecher James Rubin verwarf noch am 24. März 1999, am Tag des Angriffs, jede Möglichkeit, unterhalb der Stationierung einer NATO-Truppe im Kosovo ins Geschäft zu kommen, was belegt, daß es niemals um den Schutz der Kosovo-Albaner, sondern immer um die Aufwertung von NATO-Interventionen ging.

Dieser klassische Fall einer Nötigung, die nur die Wahl ließ, ein unbeschadetes NATO-Protektorat Jugoslawien durch die eigene Unterschrift, die aufgrund der Abtretung souveräner Rechte an eine fremde Macht Hochverrat bedeutet hätte, zuzulassen oder den angedrohten Krieg in Kauf zu nehmen, weist durchaus Parallelen der Hitlerschen Intrige gegen die Tschecheslowakei auf. Mit diesen soll nicht, wie im Fall Milosevics geschehen, eine Gleichsetzung zwischen dem deutschen Diktator und Politikern der NATO vollzogen werden, taugen solche Vergleiche doch in der Regel nur zu Zwecken, denen gegenüber jede historische Korrektheit kontraproduktiv ist. Zur Widerlegung des gegen die Kritiker des Angriffs der NATO auf Jugoslawien gerichteten Appeasement-Vorwurfs bietet die strukturelle Gegenüberstellung der Außenpolitik des Deutschen Reichs 1938 und 1939 und des von NATO-Politikern erhobenen Vorwurfs, Milosevic habe wie Hitler vor dem Zweiten Weltkrieg gehandelt, einigen Erkenntnisgewinn.

Damals war das Deutsche Reich eine mächtige Industrienation, die bislang vergeblich versucht hatte, in der von Großbritannien, Frankreich und Rußland kolonial aufgeteilten Welt Gebietsgewinne zu machen. Das Jugoslawien des Jahres 1999 war ein kleines, vorwiegend agrarisches Überbleibsel eines Zerfallsprozesses, dessen Bürger nicht etwa aus Rassenhaß gegeneinander vorgingen, sondern durch wirtschaftliche Not polarisiert und äußere Interessen instrumentalisiert wurden. Jugoslawien ist in keinen anderen Staat einmarschiert, sondern im Rahmen eines separatistischen Konflikts militärisch aktiv geworden - ein Recht, daß sich die USA allemal herausnähmen, sollte etwa die mehrheitlich hispanische Bevölkerung von New Mexico die Unabhängigkeit proklamieren.

Wie die Bombardierung des Kosovo, die Errichtung eines wirtschaftlich vollständig von äußerer Hilfe abhängigen Protektorats und die nach dem Einmarsch der NATO-Truppen erfolgte Vertreibung nichtalbanischer Minderheiten zeigte, handelte es sich beim moralisch untadeligen Vorgehen der NATO stets um einen zweckdienlichen Vorwand. Das Militärbündnis hat an Jugoslawien ein Exempel eigener Handlungsfähigkeit und der kontinentalen Hegemonie der USA und EU statuiert, was zu belegen keinesfalls des Vergleichs mit den Großmachtbestrebungen Adolf Hitlers bedarf. Wenn jedoch dessen aggressiver Expansionismus mit der notgedrungenen Verteidigung eines kleinen Landes wie Rest-Jugoslawien gleichgesetzt wird, dann handelt es sich im mindesten Fall um ein Verharmlosung großdeutscher Eroberungspläne zugunsten einer völkerrechtswidrigen Kriegführung, die schon des fleischgewordenen Bösen bedarf, um dennoch legitimiert zu werden.

(alle Zitate, wenn nicht anders angegeben, aus "Ein Volk, ein Reich, ein Führer", Hamburg 1975)

18. März 2009