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KULTUR/0778: Wo Gewinner regieren, herrscht die Kultur der Sprachlosigkeit (SB)



Wenn der Schwall populistischer Forderungen verebbt ist, stellt sich jene Sprachlosigkeit wieder ein, die durch die aufgeregte Betriebsamkeit nur scheinbar aufgehoben wurde. Die nach Winnenden geführte Debatte um Ursachen und Folgen der dort stattgefundenen Ermordung von 15 Jugendlichen und Erwachsenen ist gezeichnet von der Suche nach Lösungen, die vor allem den Zweck haben, am herrschenden Konzept individualistischer und liberalistischer Vergesellschaftung nichts zu ändern.

Das Paradebeispiel für diese reaktionäre Ignoranz ist das verlangte Verbot von Killerspielen, wodurch der Eindruck erweckt wird, man könne auf symptomatische Weise kurieren, was als Problem des Umgangs miteinander nicht von der herrschenden Verwertungsweise zu lösen ist. Kinder und Jugendliche sind keine Matritzen, die nur mit den zweckdienlichen Anweisungen beschrieben werden müssen, nach denen sie später funktionieren. Sie sind keine Computer, auf denen man das richtige Betriebssystem installieren muß, das jede Schadsoftware vom Rechner löscht, die den Menschen auf falsche Gedanken bringen könnte.

Zu überlegen, wie die bei Schulattentätern immer wieder festgestellte Faszination an zerstörerischen Praktiken zustande kommt, erfordert allerdings mehr Aufwand, als nach Verboten zu rufen. Dabei wäre auch die Frage, woher ihre Begeisterung für militärischen Drill und die entsprechende Ausstaffierung stammt, von Bedeutung. Die vielbeklagte Heroisierung früherer Schulattentäter weist nicht umsonst deutliche Parallelen mit militaristischen Hollywoodproduktionen auf, in denen Einzelkämpfer, die meist eine Ausbildung bei Spezialstreitkräften hinter sich haben, allein gegen eine ungerechte Welt stehen. Der affirmative Charakter dessen, was als antisozial gebrandmarkt wird, bleibt außen vor, weil er im Sinne herrschender Interessen produktiv ist.

Zurückgeworfen auf die eigene Überlebensstärke in der Wettbewerbsgesellschaft werden Gewinner und Verlierer produziert, die sich dem angestellten Vergleich gemäß stets gegeneinander definieren. Die Unterlegenen sollen nicht nur ihre materielle Benachteiligung stillschweigend hinnehmen, sondern auch die Schmach des sozialen Statusverlusts klaglos akzeptieren. Auch wenn, wie vielfach betont, der Attentäter von Winnenden nach seinem familiären und materiellen Hintergrund keine schlechten Voraussetzungen hatte, gehörte er deshalb noch nicht zu den Gewinnern. Nach allem, was über ihn bekannt geworden ist, war er schon als Kind in der Schule isoliert und blieb es bis auf sporadische Kontakte zu Freunden, die, wenn über ihn befragt, erschreckend wenig über seine Person zu berichten wissen, bis heute. Auch das zeugt von einer Sprachlosigkeit, die schon die Kinder von Eltern befällt, die so sehr vom Erfolgsstreben absorbiert werden, daß der Gedanke daran, das Stigma des Verlierers könnte über Qualitäten ganz anderer Art hinwegtäuschen, nicht aufkommen kann.

Worin könnten diese Qualitäten bestehen, wenn sie nicht dazu beitragen, daß Frau und Mann erfolgreich im Beruf, in der Gesellschaft, in der biologischen Reproduktion sind? Sie könnten in einer Kultur der Solidarität mit den Schwachen bestehen, die dem Primat der Stärke nicht aus erlittener Benachteiligung, sondern fundamentaler Kritik an sozialdarwinistischer Ideologie entspringt. Sie könnten zu Widerstand gegen Erwerbslosigkeit, Lohnabhängigkeit und jede Form entfremdeter Arbeit führen. Sie könnten eine Kultur des Sprechens befördern, die sich frei macht von einer gesellschaftlichen Zuweisung, laut der jeder seinen naturgegebenen Platz in der etablierten Ordnung hat.

So regrediert die Gesprächskultur parallel zur Verbreitung einer Vielzahl neuer elektronischer Kommunikationsmittel auf den Abgleich bloßer Chiffren und Symbole, die im Popjargon als "You Know What I Mean" codierte Referenzen einer kulturindustriellen Dominanz durchsetzen, die den Platz eigenständigen Sprechens und Denkens wirksam besetzen. Erzieher und Therapeuten beklagen große Defizite in der ganz konventionellen Vermittlung von Regeln und Normen, mit denen sich der gesellschaftliche Gewalthaushalt regulieren läßt. Wo sich kaum mehr systemkonforme Sozialregulative implementieren lassen, da ist es um die herrschaftskritische Form des Sprechens erst recht schlecht bestellt. Wie sollen Menschen, die im Einprügeln auf "Verlierer" und "Opfer", im Haß auf wohlfeile Feindbilder ihre Idennität finden, sich auf eine Weise begegnen, die nicht einer solchen Unterwerfungsrhetorik unterliegt, die sich aber auch von der Sozialkontrolle verlangter Konsensproduktion emanzipiert?

Sprachlos ist die Trauerarbeit, die von der Sinnlosigkeit des Geschehens klagt und das Fehlen von Antworten in gottesfürchtige Demut umwidmet. Fragen, die weiterführen, werden in den Trauergottesdiensten zu den Opfer von Winnenden nicht gestellt, und sie sind auch nicht in dem offenen Brief der Eltern der Opfer enthalten, die sich darum bemühen, eine Wiederholung solcher Gewaltexzesse zu verhindern. Die Gewinner haben ein aktives Interesse daran, daß keine Diskussion in Gang kommt, die zu Herrschafts- und Systemkritik ermutigt. Um so mehr bleibt es ein zentrales emanzipatorisches Anliegen, daß Menschen miteinander sprechen, die sich mit den Worten die gegen das Rattenrennen gerichtete Streitbarkeit haben nehmen lassen.

21. März 2009