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KULTUR/0874: Assange vs. Zuckerberg ... pro und contra soziale Emanzipation (SB)



Die Wahl der Leser des Time-Magazine war eindeutig. Sie stimmten bei der Kür der Person des Jahres einhellig für Julian Assange. Nicht einmal Lady Gaga konnte, obwohl ihr Name Programm ist und Millionen Anhänger nicht irren können, dem WikiLeaks-Begründer das Wasser reichen. Multimilliardär Mark Zuckerberg verwiesen die Leser auf Platz zehn des öffentlichen Rankings, doch die Redakteure des Blatts trafen die Entscheidung, dem erfolgreichen Unternehmer den Zuschlag vor dem inkriminierten Enthüller zu geben.

Damit wurde einmal mehr demonstriert, daß WikiLeaks von großen Teilen der etablierten Medien als Bedrohung verstanden wird. Krasser hätte man kaum deutlich machen können, daß der Ruf nach Informationsfreiheit keineswegs unabhängig vom jeweiligen Urheber und Adressaten erhoben werden kann. Eben dies behauptet der sogenannte Internet-Philosoph Jaron Lanier, der als Erfinder des Begriffs "Virtuelle Realität" gilt. Der US-Amerikaner, der selbst auf der Time-Liste der wichtigsten 100 Personen steht, bezichtigt WikiLeaks der "digitalen Selbstjustiz" und vergleicht seine Enhüllungspraxis mit der Veröffentlichung privater Daten von Abtreibungsunterstützern oder illegalen Migranten. Assange verfolge die falschen Ziele, kann man heute dem Nachrichtenmagazin Focus entnehmen:

"Anstatt die Welt transparenter und die Menschen freier zu machen, schaffe er eine Welt ohne 'Vertrauen und Anstand'. Die Methode, die Wikileaks anwende, bestrafe jeden, der nicht totale Transparenz liefere. Gleichzeitig werde absurderweise das vollkommene Fehlen von Transparenz belohnt. 'Eine extrem abgeschottete Regierung riskiert keine Veröffentlichungen, eine offene sehr wohl', so Lanier." [1]

Das ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, die Assange bezichtigen, einseitig die USA zu kritisieren und autoritäre Regierungen wie diejenige Chinas ungeschoren zu lassen. Abgesehen davon, daß Assange laut eigener Aussage andere Absichten hegt, läßt sich Transparenz keineswegs als wertfreier Begriff auf alle informationstechnischen Systeme und gesellschaftlichen Verhältnisse anwenden. Nur weil an die Dokumente der chinesischen Regierung nicht so leicht heranzukommen ist kann nicht darauf verzichtet werden, dies in Fällen zu tun, wo es möglich ist. Der häufig heranzitierte Vergleich zwischen Demokratie und Diktatur klammert das konstitutive Gewaltverhältnis aus, in dem die Militärmacht USA zu anderen Staaten wie dem Irak, Iran und Afghanistan steht. Er ignoriert die imperiale Logik, mit der die US-Regierung, wie ihre diplomatische Korrespondenz bezeugt, diktatorische und menschenrechtswidrige Herrschaftspraktiken unterstützt, wenn es ihren Hegemonialinteressen dient. Dieses mit allen Mitteln zu kritisieren ist nicht dasselbe wie die völlige Offenlegung aller Daten einer individuellen Person, es steht letzterem genaugenommen entgegen.

Herrschaftskritik bedarf individueller Handlungsfreiheit, deren verfassungsrechtliche Verankerung sie nicht überflüssig macht, weil jede Freiheit wieder genommen werden kann, wie die sicherheitsstaatliche Entwicklung der letzten zehn Jahre zeigt. Wenn Staaten wie China und Iran ihren Bürgern weniger Freiheiten gewähren als die USA oder Deutschland, dann kann das nicht heißen, daß die Bürger der sogenannten freien Welt sich in demütiger Bescheidenheit üben und auf Kritik an den eigenen Regierungen verzichten. Letztes Jahr nahm Assange unter allgemeiner Anerkennung den UK New Media Award der Organisation Amnesty International für die Dokumentation extralegaler Hinrichtungen in Kenia entgegen. Dieses Jahr bezichtigt ihn die Administration eines Landes, dessen Aggressionskriege Millionen von Opfern gefordert haben, der Gefährdung von Menschenleben durch die Veröffentlichung ihrer Regierungsinterna.

WikiLeaks mit dem Vorwurf zu belegen, sich Transparenz ohne Rücksicht auf die Frage, wem sie abverlangt wird, verschrieben zu haben, führt in die Irre. Es geht der Plattform bekundetermaßen um die Stärkung der Informationsfreiheit durch die Offenlegung von ansonsten unbekannt bleibenden Sachverhalten, die der demokratischen Kritik an bestehenden Machtstrukturen zugutekommt. Als Adressat des Vorwurfs einer Datenexposition um ihrer selbst willen eignet sich indes niemand besser als Mark Zuckerberg. Der Facebook-Chef hat bereits Anfang des Jahres individuellen Datenschutz zu einem kulturellen Anachronismus erklärt und den Nutzern seines sozialen Netzwerks erst entsprechende Schutzeinstellungen zugestanden, nachdem sein Versuch, den umfassenden Zugriff auf die Nutzerdaten Facebooks obligatorisch zu machen, am Protest der Betroffenen scheiterte.

Jüngstes Produkt der stetigen Bemühungen Zuckerbergs, die immerhin von mehr als einem Zehntel der Menschheit bewohnte Facebook-Welt in einen frei zugänglichen Hort von Personeninformationen aller Art zu verwandeln, ist die geplante Einführung der automatischen Gesichtserkennung. Ist dieser Abgleich erst einmal funktionsfähig, dann läßt sich theoretisch jedes Foto einer Person, also auch eine gezielt angefertigte Gesichtsaufnahmen im öffentlichen Raum, hochladen und mit dem vorhandenen Bildmaterial abgleichen, um auf diese Weise die Identität der betroffenen Person in Erfahrung zu bringen. Im mindesten Fall werden mit derartigen Neuerungen individuelle Autonomie aufhebende Entwicklungen angestoßen, die sich als unumkehr erweisen könnten.

Die Arglosigkeit, mit der derartige Entwicklungen allgemein akzeptiert werden, entspricht der Bereitschaft, sich, wie im Falle der von WikiLeaks veröffentlichten US-Diplomatenpost geschehen, durch vorgeschaltete Expertensysteme der Informationsevaluation und -selektion entmündigen zu lassen. Nichts spricht dagegen, wenn sich professionelle Journalisten aus einem auch allen anderen zur Verfügung stehenden Datenpool bedienen, um daraus Schlußfolgerungen zu ziehen und diese zu publizieren. Das ihnen in diesem Fall gewährte Monopol, maßgeblichen Einfluß auf die Auswahl der zu veröffentlichenden Depeschen zu nehmen und das durch die Enthüllungen entstehende Bild entscheidend vorzuformatieren ist allerdings Ausdruck des Bemühens, keine umfassende Transparanz dort herzustellen, wo der Anspruch auf basisdemokratische Einflußnahme durch die Mechanismen einer weitgehend Kapitalinteressen unterworfenen repräsentativen Demokratie eingeschränkt wird.

Den Inhaber eines der größten IT-Konzerne der Welt in der weltweit renommiertesten, seit 1927 jährlich bestimmten Rangliste wichtiger Personen an die Spitze zu setzen, während die eigenen Leser anderer Ansicht sind und die internationale Verfolgung ihres Kandidaten Julian Assange wie die Dämonisierung der Plattform WikiLeaks einem breit orchestrierten, von Regierungen wie Konzernmedien getragenen Angriff auf die die informationelle Selbstbestimmung der Menschen entspricht, geht über einen bloßen Informationskrieg hinaus. Wie die in Anbetracht des zugrundeliegenden Vorwurfs völlig unverhältnismäßige Strafverfolgung Assanges, die menschenfeindlichen Bedingungen der offensichtlich auf Aussageerpressung angelegten Isolationshaft, unter der der angebliche Urheber des Datenlecks Bradley Manning zu leiden hat, die mehr als bloße Rhetorik implizierende Kriminalisierung der WikiLeaks-Aktivisten als Terroristen, der gegen die Webseite offenkundig von der US-Regierung organisierte Finanzboykott belegen, dreht sich der Konflikt im Kern um die Frage, wer das Verhältnis von Staat und Gesellschaft bestimmt. Der Versuch der Kapital- und Funktionseliten, ein Entscheidungsmonopol über zentrale soziale und gesellschaftliche Fragen zu etablieren, soll gegen Interventionen des nominellen Souverän, also der großen Mehrheit der in ihrer Lebensbewältigung immer härteren Bedingungen ausgesetzten Menschen, geschützt werden.

Der Anspruch der Time, die Person des Jahres an deren Einfluß auf die Weltgeschichte zu bemessen, und seine Verkehrung im aktuellen Fall zeigen es ganz deutlich: Die so dringend benötigte Affirmation herrschender Verhältnisse feiert mit Mark Zuckerberg Triumphe, nicht nur weil er eine beispielhafte Karriere als marktwirtschaftliche Ich AG absolviert hat, sondern weil seine Innovation die soziale Substanz der Gesellschaft selbst verwertbar macht. Dieser der Entwicklungslogik der mikroelektronischen Produktionsweise immanente und daher keines besonderen Geniestreichs bedürfende Schritt weitete den Horizont staatlicher Verfügungsgewalt auf eine Weise aus, die der Belohnung bedarf. Julian Assange hingegen wird auf emanzipatorische, nur bedingt im kapitalistischen und sicherheitsstaatliche Sinne verwertbare Weise gesellschaftlich wirksam. Auch wenn offensichtlich Zugeständnisse an herrschende Interessen gemacht wurden, birgt die Unwägbarkeit seines Aktivismus die Virulenz eines sozialen Widerstands, der nicht im Sinne derjenigen liegt, denen die Zementierung bestehender Widersprüche Basis eigener Ermächtigung ist.

Fußnote:

[1] http://www.focus.de/digital/internet/wikileaks-internet-philosoph-lanier-kritisiert-digitale-selbstjustiz_aid_583042.html

19. Dezember 2010