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KULTUR/0876: Liebigstraße 14 vor Zwangsräumung - Kampf um urbanen Freiraum und darüber hinaus (SB)



Leben, lieben und leiden jenseits des kapitalistischen Verwertungszwangs, Wohnformen erforschen, die sich vom Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie emanzipieren, konkurrenzdenkenbefreite Produktionsverhältnisse schaffen, in denen Arbeit nicht mehr vergleichbar gemacht und fremdbestimmt ist - gibt es so etwas? Wahrscheinlich nicht. Aber es gibt Menschen, die sich verweigern. Die an irgendeiner Stelle ihres Lebens Nein zu den sie bestimmenden Bedingungen gesagt und sich vorgenommen haben, wenigstens in einem kleinen Bereich etwas anderes zu machen. Unbeholfen womöglich, fehlerhaft, ohne Orientierung an Vorbildern, vielleicht im wohngemeinschaftlichen Zusammenleben mit der vollen Wucht der eigenen herrschaftskonformen Sozialisation konfrontiert, verletzend gegenüber anderen oder von diesen verraten, von Rückschlägen gezeichnet und Hoffnungen betrogen, doch offenbar mit genügend Freiheitsgeruch in der Nase, um den Kurs allen Strömungen und Klippen zum Trotz irgendwie beizubehalten - solche Menschen gibt es. Und, wie sollte es auch anders sein, sie finden einander. Immer. Beispielsweise in der Liebigstraße 14 in Berlin Friedrichshain.

Das im Jahr 1990 besetzte Haus wurde zwei Jahre darauf legalisiert. Die kommunale Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain (WBF) schloß reguläre Mietverträge ab. Dann begann der Berliner Senat, sein Tafelsilber zu veräußern. Dazu gehörte auch die "Liebig14". Das Kaufangebot der Bewohnerinnen und Bewohner wurde nicht angenommen, das Haus ging in den Besitz des TU-Ingenieurs Suitbert Beulker über. Der wollte, daß seine "Geldanlage" etwas einbringt, hat Kündigungen ausgesprochen und schließlich im Jahr 2009 Räumungsklagen eingereicht.

Eigentlich waren die an dem Wohnprojekt Beteiligten nicht angetreten, Jahre ihres Lebens mit Rechtsstreitigkeiten zu verbringen, nur um einen legalen Status ihrer Wohnsituation zu erlangen. Doch der juristische Kampf wurde ihnen aufgenötigt, die Eigentumsfrage darf nicht angetastet werden. Da macht der rot-rote Senat keine Ausnahme. Alle Menschen sind gleich, nur Frau Senatorin und Herr Senator sind gleicher.

Es wäre übertrieben, Liebig14 zu idealisieren und das Projekt als einen in sich abgeschlossenen Gegenentwurf zu etablierten Wohn- und Lebensformen, wie sie dem atomisierten Menschen zwecks seiner besseren Verwertbarkeit zugedacht sind, zu bezeichnen. Das Beispiel Liebigstraße zeigt jedoch, daß die Gesellschaft viele Mittel und Wege kennt, wie die Produktions- und Reproduktionsbedingungen auch nur partiell in Zweifel ziehende Gegenentwürfe zerstört werden. Eine der wirksamsten Waffen der vorherrschenden Ordnung ist das Recht. Das Legale ringt das Legitime nieder, das Kapitalinteresse vernichtet die noch längst nicht gekeimte Saat emanzipativen Strebens. Am Mittwoch, den 2. Februar, wird die Liebigstraße 14 geräumt. Mit einem Großaufgebot an Knüppelbütteln, so ist zu erwarten, will die Obrigkeit ihre Eigentumsordnung durchprügeln.

Die Hausbewohnerinnen und -bewohner samt einer nicht minder zornigen Unterstützerszene haben zur kollektiven Verweigerung aufgerufen und angekündigt, daß sie nicht klein beigeben und die Räumung verhindern werden. Am vergangenen Samstag gerieten bereits Protestierende mit Polizeikräften aneinander. Die Ordnungshüter, von denen offiziellen Angaben zufolge 40 verletzt wurden, sprachen von einer "plötzlichen Entladung der Gewalt, die nicht vorhersehbar war". Sie haben nicht verstanden. Selbstverständlich war der Gewaltausbruch vorhersehbar. Denn hier sollen Menschen, die teilweise seit Jahren zusammenleben, auseinandergesprengt und vertrieben werden. So etwas wie das Friedrichshainer Wohnprojekt könnte ja Schule machen, und die Schulhohheit beanspruchen die Behörden.

Bei der Liebigstraße 14 handelt es sich um einen städtischen Freiraum und damit um einen per se durch seine Einschränkung definierten Bereich. Ein Raum wird stets durch seine Begrenzung bestimmt. Doch in diesem Widerspruch, daß "frei" und "Raum" unvereinbar sind und jemand entweder frei ist oder sich einem Raum zurechnet, liegt etwas, das die herrschenden Kräfte zu fürchten haben: die Entscheidung für eine Seite, die Einseitigkeit. In diesem Fall wäre das die bedingungslose Inanspruchnahme von "frei". Es wäre den Herrschenden lieber, wenn die Menschen jegliche Erinnerung an solche Widersprüche verlören und sich "frei" immer nur in Kombination mit anderen Begriffen, die wie "Frei-raum" oder "Frei-heit" eine zuordnende und daher einschränkende Funktion haben, vorstellen könnten. Diesen Gefallen muß man ihnen nicht tun. Auch wenn die Liebigstraße 14 geräumt werden sollte - die Idee der Befreiung läßt sich nicht aus dem Weg räumen, weder mit schleichender Gentrifizierung noch mit stadtplanerischer Umstrukturierung.

31. Januar 2011