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KULTUR/0903: "Internetsucht" - Arbeitskraft soll nicht eigennützig verbraucht werden (SB)



Die Durchsetzung informationstechnischer Technologien nicht nur in der Arbeitswelt, sondern der gesamten Sphäre der sozialen und gesellschaftlichen Reproduktion eröffnet dem sozialtherapeutischen Reparaturbetrieb neue Betätigungsfelder. Laut einer repräsentativen Umfrage, die im Rahmen einer Studie der Universitäten Lübeck und Greifswald durchgeführt wurde, sollen 560.000 Menschen in Deutschland internetsüchtig sein. Als Symptome für diese angebliche Erkrankung werden aufgeführt, daß die Betroffenen die Dauer der Computernutzung nicht mehr kontrollieren könnten, daß sie ohne Netzanschluß unter Entzugserscheinungen wie schlechter Laune, Angst und Reizbarkeit litten, daß sie ihr soziales Leben in der realen Welt wie ihre körperliche Gesundheit vernachlässigten. Laut der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Mechthild Dyckmans, seien die Folgen vereinzelt mit denen einer Drogenabhängigkeit vergleichbar [1].

So ganz sicher scheinen sich die Autoren der Studie nicht mit ihrer Diagnose zu sein, geben sie doch zu, daß es eine einheitliche Definition des von ihnen ausgemachten Phänomens noch nicht gebe. Dennoch scheint ein starkes Interesse daran zu bestehen, auffälliges Verhalten am Rechner zu pathologisieren, will die Drogenbeauftragte Dyckmans dieses Thema doch zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit machen. Dabei ist der Versuch, die Verallgemeinerung der mikroelektronischen Produktionsweise sozialtherapeutisch zu begleiten und zu diesem Zweck manifeste Krankheitsbilder zu entwickeln, schon etwas älter, was nicht eben dafür spricht, daß das ausgemachte Problem überhaupt trennscharf von den allgemein akzeptierten sozialen Umständen der Nutzung informationstechnischer Systeme bei Arbeit und Unterhaltung zu differenzieren wäre.

So wurde schon auf der Jahresversammlung der Amerikanischen Gesellschaft für Psychologie 1999 behauptet, daß sechs Prozent aller Nutzer des Internets Anzeichen einer Suchterkrankung aufwiesen. Der Psychologe David Greenfield hatte fast 18.000 Internetnutzer befragt und gelangte anhand von Kriterien, die er der Spielsucht entlehnte, zu dieser Zahl. Greenfield setzte seine Seriosität allerdings selbst aufs Spiel, indem er im Revier der Exorzisten wilderte, wandte er doch den Begriff der "Besessenheit" auf Menschen an, die meinten, nicht vom Internet loszukommen oder auch ohne Schirm vor Augen ständig daran zu denken, online zu sein. Indem der US-Psychologe das ziellose Umherwandern im Netz als pathologisch auswies, setzte er ein Ideal rationalen Handelns voraus, das die meisten Menschen ohnehin nicht erfüllen.

Auch in Deutschland argwöhnte man schon 1999, daß die technologische Innovation des Internets schwerwiegende Folgen für die geistige Gesundheit haben könnte. An der Berliner Humboldt-Universität machte man sich auf, verbindliche Kriterien für die sogenannte Internetsucht aufzustellen. Dabei stand die konventionelle Drogensucht Pate. Die Fixierung der ganzen Aufmerksamkeit auf den Computer, der zeitliche Kontrollverlust bei seiner Nutzung, das Gefühl der Leere, wenn man nicht am Gerät sitzt und weitere negativen Folgen wie Unzufriedenheit, Ärger mit Freunden und Familie, Schlafmangel und Gereiztheit sind allerdings Phänomene, die vielen intensiv am Computer arbeitenden Menschen vertraut sind.

Im Unterschied zum bloßen Unterhaltungskonsum scheint bei der IT-Arbeit kein Anlaß zu bestehen, negative Folgen dieser Art zu pathologisieren. Dabei hätten Psychologen viel zu tun, wenn sie den fremdbestimmten Charakter der Bildschirmarbeit als einen bedenklichen, die Psyche zerstörenden Zwang behandelten. Da der Mensch kein Roboter ist, hat seine Unterwerfung unter die Prozeßlogik der elektronischen Datenverarbeitung völlig unabhängig davon, ob er dies vermeintlich freiwillig oder notgedrungen tut, stets auch Folgen, die als Kontrollverlust in Erscheinung treten.

Diese in einem Fall als Suchterkrankung zu diagnostizieren und Behandlungsbedarf zu postulieren, bedeutet nicht, daß mit dem destruktiven Charakter der Lohnarbeit auf gleiche Weise umgegangen würde. Obwohl die Zahl durch prekäre Erwerbsverhältnisse bedingter psychischer Erkrankungen stetig ansteigt, wird am widersprüchlichen Charakter der Notwendigkeit, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, kaum gerührt. Wo ein durch den Warenfetisch industrieller Unterhaltungsproduktion dynamisierter Konsum suchtähnliche Zerfallserscheinungen hervorbringt, ist der moralische Unterton, daß man es damit nicht übertreiben solle, nicht zu überhören. Wie im Falle des kriminalisierten Drogenkonsums soll der Mensch mit dem Argument, er dürfe sich nicht schädigen, davon abgehalten werden, die ihm zur Verfügung stehende Lebenssubstanz auf eigennützige, nur dem persönlichen Lustgewinn gewidmete Weise zu verbrauchen. Dementsprechend wird der Verstoß gegen das gesellschaftliche Lehen der Anpassungs- und Leistungsbereitschaft als selbstinduzierte Verfehlung stigmatisiert, die im Zweifelsfall Einbußen etwa bei Versorgungsansprüchen zur Folge haben könnte.

Nähmen die Institutionen und Experten des medizinischen Reparaturbetriebs die von ihnen selbst angewendete Empirie ernst, dann kämen sie nicht umhin, die Bedingungen gesellschaftlicher Reproduktion zum eigentlichen Problem zerstörerischer sozialpsychologischer Phänomene zu erheben. Da dies die eigene Aufgabe, diese Bedingungen zu sichern, in Frage stellte, bleibt der Blick auf die sozialpsychologischen Probleme des kognitiven Kapitalismus durch berufständische Interessen verstellt. Daß dieser nicht nur neue Formen des Verschleißes in Arbeit und Konsum mit sich bringt, sondern den Menschen durch eine auf dessen Wahrnehmungs- und Bewußtseinsleistungen konditionierte Produktionsweise regelrecht transformiert, ist für kritische Forscher längst Gegenstand vorrangigen Interesses. Das Postulat einer Internetsucht hingegen bedient den Zweck bloßer Bezichtigung, selbst an seiner sozialen Misere schuld zu sein. Wie im Falle der berüchtigten "Spaßgesellschaft" wird ein Zerrbild der Zwänge und Nöte kapitalistischer Vergesellschaftung errichtet, das den einen Zweck der Disziplinierung ansonsten womöglich unverfügbarer Arbeitskraft verfolgt.

Fußnote:

[1] http://www.zeit.de/digital/internet/2011-09/internetsucht-untersuchung

29. September 2011