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KULTUR/0910: Breiviks Unzurechnungsfähigkeit ... Aufforderung zur Amnesie? (SB)



Wer wird mit dem Gutachten zweier norwegischer Psychiater, laut dem Anders Behring Breivik unzurechnungsfähig ist, vor was geschützt? Der Massenmörder vor einem Strafrecht, das ihm keine Gerechtigkeit widerfahren ließe, wenn es seine Tat als Ausdruck seines freien Willens mit einem ihrer Monstrosität gemäßen Strafurteil quittierte? Oder die Gesellschaft vor der Erkenntnis, daß die Binnenratio der radikalen Rechten weit gefährlicher ist als bislang angenommen?

In dem 243 Seiten langen forensischen Gutachten gelangen die Psychiater Torgeir Husby und Synne Sorheim, die mit Breivik in 13 Sitzungen insgesamt 36 Stunden gesprochen haben, zur Diagnose einer paranoiden Schizophrenie. Ihrer Ansicht nach werde ihr Klient "komplett von bizarren und größenwahnsinnigen Zwangsvorstellungen" beherrscht, die ihm die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod anderer Menschen an die Hand gäben. Breivik halte sich "für den perfektesten Ritter seit dem Zweiten Weltkrieg" und glaube, das Zeug zum "künftigen Herrscher Norwegens" [1] zu haben.

Demgegenüber hatten andere Forensiker wie der Vorsitzende eines Gremiums der norwegischen Vereinigung der Gerichtsmediziner, Tarjei Rygnestad, nach dem Bombenanschlag im Regierungsviertel Kopenhagens und dem Massaker auf der Insel Utoya am 22. Juli 2011 ihrer Ansicht Ausdruck verliehen, es sei angesichts der sorgfältigen Planung der Anschläge unwahrscheinlich, daß Breivik für unzurechnungsfähig erklärt werde. Rygnestad hat diese Stellungnahme zwar unter Verweis darauf, daß er dieses Urteil aufgrund von Informationen aus zweiter Hand getroffen hätte, revidiert [2]. Daß ausgemachte Experten eine ad hoc-Bewertung wie diese trafen, zeigt aber auch die Auslegungsbreite auf, unter der derartige Gutachten zustandekommen können. Bei forensischer Psychiatrie handelt es um alles andere als exakte Wissenschaft, was um so mehr bei einer Straftat gilt, die die Welt erschüttert hat und bei der die Motivation des Täters von erheblicher politischer Sprengkraft ist.

So unterstreichen die hochgradige technische Effizienz und strategische Konsequenz, die Breivik in Planung und Durchführung seiner Tat an den Tag gelegt hat, wie ihr langfristiger Charakter, daß ihr eine sehr durchdachte und damit bewußt getroffene Entscheidung zugrundegelegen haben muß. Auch wenn der ideologische Rahmen, in dem Breivik den Krieg verortet, als den er die von ihm ausführlich beschriebene Auseinandersetzung zwischen christlich-europäischer Wertetradition und ihren angeblichen Feinden, dem Kulturmarxismus und Islam, begreift, eine Art geschlossenes Wahnsystem darstellt, so ist er keineswegs das exotische Produkt individueller Verwirrung. Wie seine 1500seitige Schrift "2083 - A European Declaration of Independence" belegt, standen zahlreiche rechtsradikale, neokonservative, antikommunistische und islamfeindliche Demagogen Pate bei der Entstehung seines Weltbildes. Unter ihnen finden sich Wissenschaftler oder Publizisten, die anzuerkennen mit dem honorigen Selbstverständnis der bürgerlichen Rechten durchaus in Übereinstimmung steht.

An dieser Stelle macht der in seiner Anwendung auf jeden neuen Feind westlicher Hegemonie von neokonservativer Seite überstrapazierte Vergleich mit dem deutschen Diktator Adolf Hitler tatsächlich einmal Sinn. Auch dieser hätte nach Lesart der norwegischen Experten durchaus Chancen gehabt, aufgrund des wahnhaften Charakters seiner völkischen Ideale und seines antisemitischen Hasses für unzurechnungsfähig erklärt zu werden. Das machte jedoch die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs nicht ungeschehen, und vor allem täte es der Begeisterung, mit der Millionen Menschen Hitler zu Füßen lagen, keinen Abbruch. Auch diese müßten demgemäß für unzurechnungsfähig erklärt werden, was die positive Norm geistiger Gesundheit, die derartigen Diagnosen zugrundeliegt, ihrerseits massiv in Frage stellte.

Viel naheliegender erscheint die Frage, ob Breivik nicht einer faschistischen Ideologie folgte, deren Virulenz in Zeiten der Krise so bedrohlich geworden ist, daß die davon gefährdeten Gesellschaften dazu neigen, ihrerseits zu verdrängen, womit sie sich dringend auseinanderzusetzen hätten. So hat Breivik mit der Ermordung von insgesamt 77 Menschen, die meisten von ihnen Jugendliche durch kaltblütiges Erschießen, ein in seiner Unfaßbarkeit desto brutaler alle Beschwichtigung und Rationalisierung sprengendes Beispiel für praktizierten Antihumanismus gegeben. Im Unterschied zur kalten Logik imperialistischer Kriegführung, bei der mit ferngesteuerten Drohnen und anderen Distanzwaffen ganze Familien ausgelöscht werden, hat Breivik ganz persönlich Hand angelegt und aus seiner Sicht ebenso eine Heldentat vollbracht, wie es die Vollstrecker des industriellen Massenmords an den europäischen Juden in deutschen Vernichtungslagern taten, denen ein Heinrich Himmler aufopferungswürdigen Einsatz für die gerechte Sache Deutschlands attestierte.

Die damit vollzogene Auslöschung jeglicher menschlicher Subjektivität für das größere Ganze des Volkes, der Nation, der Kultur ist die faschistische Antithese zur emanzipatorischen Qualität der Erkenntis, daß Leid und Not unteilbar sind und kreatürliche Solidarität gerade mit den Schwächsten selbstverständliche Pflicht jedes Menschen ist, der dem Blutstrom historischer Entwicklung Einhalt gebieten möchte. So ist die integrale Ratio der Weltsicht eines Breivik, die Durchsetzung ihrer Werte unter Einsatz auch grausamster Mittel, ein durchaus vertrautes Merkmal der Herrschaft kapitalistischer Eliten. Wo die Logik unbedingter Rentabilität das Feld beherrscht, verschwinden die Folgen der ihrer Materialität gegenüber gleichgültigen Verwertung in der Virtualität abstrakter Tauschvorgänge. Die millionenfache Verelendung, die aus der eigenen Mehrwertproduktion hervorgeht, die zahllosen Kriegsopfer, die die militärische Durchsetzung der eigenen Investitionsstrategien zeitigt, bleiben mit kapitalistischer Vergesellschaftung unverknüpft, so daß die Frage, ob es sich dabei nicht um ein ausgesprochen wahnhaftes System handelt, gar nicht erst gestellt wird.

Breivik geht es dem eigenen Bekenntnis nach nicht in erster Linie um das Erlangen von Reichtum, was, wenn seine Morde dazu in einem kausalen Verhältnis gestanden hätten, eventuell als nachvollziehbares Tatmotiv erachtet worden wäre. Ihm geht es um kulturelle Identität, um die Apologie eines christlich-westlichen Selbstverständnisses und damit um eine Strategie der Ermächtigung durch den Willen zur Tat, der er sich als heroischer Einzelkämpfer verschrieben hat. Einmal abgesehen davon, daß seine Klassifizierung als Terrorist damit übererfüllt wäre, ohne daß dieser Begriff auf ihn in annähernd gleicher Weise Anwendung findet, als es bei angeblichen Gesinnungstätern linker oder islamistischer Zuordnung von vornherein der Fall ist, weist er damit so viele Anschlußmerkmale zur faschistischen Doktrin der rassistischen Überlegenheit eigener Herkunft und Zugehörigkeit auf, daß es schon abenteuerlich ist, wie wenig hier eins und eins zusammengezählt werden.

Die attestierte Unzurechnungsfähigkeit des Massenmörders macht den Zynismus seiner weißen Suprematie ebenso ungeschehen wie das Leid, daß er verursacht hat. Indem sich Breivik, der sich als Ritter und Elitesoldat inszeniert hat, der Insignien und Symbole etatistischer Macht bedient, indem er behauptet, einen Krieg für die abendländische Kultur zu führen, macht er sich als Exponent eines Gewaltverhältnisses kenntlich, das weit über seinen individuellen Wahn hinaus Geltung besitzt und dort alles andere als wahnhaft erscheint. Gesellschaftlich produktiv im Sinne der Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung, von rassistischer Suprematie und kriegerischer Ermächtigung, wäre es allemal, die mit psychiatrischer Expertise gekappten Verbindungen zu rechtsradikaler und faschistischer Gesinnung aufzunehmen und zum Problem einer Auseinandersetzung zu machen, die jeden angeht, der die drohende Qualifizierung der Herrschaft des Menschen über den Menschen nicht passiv erdulden will.

Fußnoten:

[1] http://www.bz-berlin.de/aktuell/welt/psychose-muss-breivik-nicht-in-haft-article1330076.html

[2] http://www.abendblatt.de/vermischtes/article2110530/Breivik-von-Gutachten-gekraenkt-der-schmollende-Massenmoerder.html

30. November 2011