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KULTUR/0917: Wulff muß fallen, um die Ambivalenz bürgerlicher Moral zu retten (SB)



Die Affäre um das Ansehen Christian Wulffs nimmt zusehends den Charakter einer selbsterfüllenden Prophezeiung an. Durch die scheibchenweise erfolgende Enthüllung immer neuer Vorteilsnahmen als Ministerpräsident Niedersachsens und Bundespräsident nimmt der Versuch des Aussitzens den penetranten Geruch eines Klebens am Amtssessel an, der seinerseits für wachsende Aversion gegen die ganze Angelegenheit sorgt. Nach sechs Wochen erregter Debatte um die Frage, inwiefern sein Verhalten mit dem höchsten Amt im Staate vereinbar sei, ist das Publikum ihrer Erörterung zusehends überdrüssig und strebt einer Lösung zu, die dem angerichteten Schaden nach eigentlich nur noch in einem Rücktritt bestehen kann.

Dabei dringt die scheinbar endlose Geschichte um die, je nach Blickwinkel, aktiv betriebene oder selbstverschuldete Demontage des Bundespräsidenten, mit der immer fadenscheinigeren Ambivalenz zwischen honorigem Schein und kleinlichem Sein zu Fragen vor, die für alle Beteiligten von Interesse sein könnten. Indem Wulff die Einhaltung des bürgerlichen Wertekodex, dem er offenkundig nicht genügt, in besonderer Weise abverlangt wird, tritt dieser selbst als moralischer Rigorismus in Erscheinung. Diejenigen Bürger, die dazu neigen, Wulff als Opfer einer Medienkampagne in Schutz zu nehmen, gehen nicht fehl in der Annahme, daß die an den Bundespräsidenten gelegten Maßstäbe nicht nur dem höchsten Amt geschuldet sind, sondern auf eine generelle Verengung der Lebensführung abzielen, aus der sie selbst nicht unbeschadet hervorgehen.

So hat der neoliberale Charakter der Arbeitsgesellschaft keineswegs zu einer Liberalisierung im Bereich des persönlichen Verhaltens geführt, ganz im Gegenteil. Die inzwischen an den einzelnen Menschen gestellten Forderungen zur Optimierung seiner Arbeitskraft machen auch vor bloßen Äußerlichkeiten wie der physischen Erscheinung und Lebensführung nicht halt. Sich unter anwachsender Konkurrenz erfolgreich zu verwerten ruft Ansprüche an Anpassungs- und Leistungsbereitschaft auf den Plan, mit denen schon Kriterien wie Enthaltsamkeit beim Konsum von Tabak und Alkohol, das Treiben von Sport oder der Erhalt körperlicher Idealmaße maßgebliche Bedeutung für die Jobsuche erhalten.

Während der Ich-AG soldatische Disziplin zur Steigerung der Produktivität abverlangt wird, wird die individuell angelegte Verhaltensmoral in den gesellschaftlich relevanten Bereichen politischer und ökonomischer Entscheidungsgewalt zusehends einer instrumentellen Nutzen- und Sachzwanglogik unterworfen. Ob bei der Sicherung kapitalistischer Rentabilität Armut, Elend und Krieg herauskommt, ist von nicht annähernd demselben Gewicht wie der moralische Furor, mit dem die läßlichen, im Geflecht privilegierter Vorteilsnahme fast normalen Sünden des Bundespräsidenten verurteilt werden. Ob in demokratisch kaum kontrollierten Bereichen staatlicher Verfügungsgewalt eine administrative Praxis vorherrscht, die, wie im Fall der Zwickauer Zelle, Menschen das Leben kostet, sie, wie im Falle der Guantanamohäftlinge, der Verschleppung und Folterung preisgibt oder, im Falle abzuschiebender Flüchtlinge, in den Selbstmord treibt, steht in keinem Verhältnis zum Insistieren auf eine bürgerliche Moralität, die so widersprüchlich ist wie alle von außen aufoktroyierten anstatt von innerer Überzeugung getragenen Werte.

Verschärfend für die Ambivalenz bürgerlicher Vergesellschaftung kommt in diesem Fall hinzu, daß sich die Bild-Zeitung zu einer moralischen Instanz aufschwingt, deren Urteile Menschen ganz nach Belieben erhöht oder stürzt. So hat sie dem Christdemokraten mit der von ihr gewährten Absolution beim moralisch anrüchigen Wechsel seiner Ehefrauen erheblich unter die Arme gegriffen, was dieser dem Springer-Blatt durch mancherlei Vorteil bei der Exklusivität seiner Berichterstattung vergolten hat. Man betrieb ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, wie es einem kapitalistischen Verlagskonzern und einem bürgerlichen Karrierepolitiker im wortwörtlichen Sinne gut zu Gesicht steht. Daß Wulff den ausschließlich geschäftlichen Charakter dieser Beziehung nicht begriffen zu haben scheint, wird ihm zu Recht als Schwäche ausgelegt, die man sich in den luftigen Höhen eines solchen Amtes nicht leisten kann.

Dort gilt es, die charakterlichen Erwartungen an Solidität und Integrität so perfekt zu inszenieren, daß der Anspruch auf individuelle Gesetzestreue mit der angeblichen Kohärenz staatlicher Normenkontrolle legitimiert werden kann. Der Instinkt des Bürgers, die Wucht eines sozialfeindlichen Legalismus zu fürchten, der ihn schon bei kleinen Unregelmäßigkeiten die berufliche und damit gesellschaftliche Existenz kosten kann, trifft ebensosehr ins Schwarze, wie er davor zurückschreckt, die ganze Tragweite des herrschenden Gewaltverhältnisses zu antizipieren. Die Abgründe der Moral, als deren Sachwalterin sich eine zutiefst sozialrassistische Boulevardpresse aufspielt, führen an den Kern kapitalistischer Herrschaftsicherung und werden desto wirksamer versiegelt, je größer der symbolpolitische Wert der Köpfe ist, die auf ihrem Altar rollen.

Es geht um nichts geringeres als den produktiv verwertbaren Zusammenhalt eines Gemeinwesens, dessen Bruchlinien mit der Krise des Kapitals unaufhaltsam an die Oberfläche gesellschaftlicher Befriedung drängen. Am Beispiel der Person des Bundespräsidenten wird die Haltbarkeit einer bürgerlichen Moral beschworen, deren Tragfähigkeit aus objektiven Gründen so sehr in Frage gestellt ist, daß die Durchsetzung ihrer Normen am wirksamsten in der abstrakten Sphäre staatlicher Unantastbarkeit gewährleistet werden kann. Je mehr diese von den persönlichen Machenschaften eines Amtsträgers profanisiert wird, desto deutlicher zeigt sich die prinzipielle Unvereinbarkeit von kapitalistischer Vergesellschaftung und konstitutionellem Werteuniversalismus. Wulff muß über seine kleinen, alltäglichen Lügen, den kleinbürgerlichen Charakter seiner Praxis ökonomischer Reproduktion stolpern, um die propagierte Wahrheit des Staates, Kapitalinteressen zu Gunsten und nicht zu Lasten der Bevölkerung zur Durchsetzung zu verhelfen, aufrechtzuerhalten.

15. Januar 2012