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KULTUR/0938: "Die Märkte" ... numinose Letztbegründung inakzeptabler Herrschaftsverhältnisse (SB)




In den erbitterten Auseinandersetzungen um die Rettung des Euro - und nicht etwa der Menschen, die immer weniger dieser Währung in ihrer Tasche haben - wird ein Akteur von gottgleicher Unberührbarkeit von allen Kontrahenten unterschiedslos angebetet. "Die Märkte" fungieren als ein Numinosum der Letztbegründung, dessen Macht in den Debatten um die Frage, wie und in welchem Ausmaß die Europäische Zentralbank (EZB) die Refinanzierung der Banken und Staatshaushalte garantiert, nicht zur Disposition steht. Warum sich die Bevölkerungen und Staaten dem Auf und Nieder der Zinsaufschläge für Kredite und der Börsenkurse nachordnen sollen, bedarf keiner weiteren Erklärung. Selbstredend stellt der Finanzmarkt die zentrale Achse ökonomischer Reproduktion dar, bestimmt die Kosten und Preise für das, was als Realwirtschaft denjenigen Teil ökonomischer Aktivitäten bezeichnet, die mit der Herstellung all der Dinge befaßt sind, derer der Mensch für den Erhalt seines physischen Lebens und seiner sozialen Praxis bedarf.

Man nennt es Arbeit, und das auch nur dann, wenn die jeweiligen Tätigkeiten vergolten werden durch ein Geld, in dem die dabei produzierten Güter und Dienstleistungen rückstandslos als Tauschwerte aufgehen. Womit der Mensch sein Leben fristet, ob er seine Arbeit mit Freude an dem, was aus ihr hervorgeht, oder unter dem Zwang des Erwerbs nur widerwillig verrichtet, soll nicht die mindeste Bedeutung haben gegenüber seiner Verpflichtung, den Interessen des Kapitals Genüge zu tun. Sein Verhältnis zu den "Märkten" wird von einer Ohnmacht bestimmt, in der das archaische Verhältnis des Menschen zu ihm wohl- oder übelgesonnenen Göttern Urständ feiert. Wo das Tauschwertäquivalent Geld das Wunder der kreditgetriebenen Schöpfung von immer mehr Geld zum Normalfall alltäglicher Irrationalität macht, steht die Masse der Menschen fassungslos davor, daß ihr Leben immer schwieriger zu bewältigen wird, obgleich vor aller Augen ein ungeheurer Akt pekuniärer Reichtumsmehrung stattfindet.

Doch schaut man genauer hin, dann zeigt sich, daß das in Medien und Politik kolportierte Bild, "die Märkte" müßten wie argwöhnische Götter durch das nie versiegende, weil im Ernstfall von der physischen Substanz der Bevölkerung zehrende Füllhorn der Steuereinnahmen besänftigt werden, ein ganz und gar interessengebundenes Fantasma ist. Obgleich die Suggestion einer Prosperität, die aus einem selbstgenerativen Geldwachstum gespeist wird, spätestens mit der Immobilien- und Bankenkrise 2008 widerlegt wurde, dauert das Prinzip des aus Geld geschöpften Geldes in seinem untoten Dasein an. Wer über Eigentum in Form von Geld, Boden oder Wertgegenständen verfügt, welches nicht zur Sicherung des eigenen Lebens verbraucht wird, der kann das seinige auf nämlichen Märkten mehren, gerade weil der Mangel an existenznotwendigen Ressourcen für das Gros der Menschen immer drängender wird.

Fernab jenes namensgebenden Ortes, auf dem Anbieter und Käufer von Waren aufeinandertrafen, um im unerreichten Idealfall die Ergebnisse ihrer arbeitsteiligen Produktionsweise in allgemeine Bedürfnisbefriedigung zu überführen, wurden "die Märkte" zum Synonym von Tauschverhältnissen, in denen die materielle Not der Menschen zur Verfügungsgewalt über ihre Arbeit ins Verhältnis gesetzt wird. Die "unsichtbare Hand", die angeblich alles zum Besten aller ordnet, weil die Waren stets dorthin gelangen sollen, wo der ihnen innewohnende Nutzen in Gebrauch genommen wird, war als Faust der Herrschenden allemal sichtbar. Die vielzitierte Win-Win-Situation gleichwertigen Tausches ist ein an der Eigentumsordnung zerbrechender Modellfall, das zur Wirklichkeit erklärt wird, um vergessen zu machen, daß dem eigenen Gewinn der Verlust des anderen stets vorausgeht.

Vollständig zur Kenntlichkeit eines Instruments kapitalistischer Klassenherrschaft entstellt agiert diese Faust heute auf der Ebene nationalstaatlicher Gemeinwesen und ihrer suprastaatlichen Regulationsebene, um den Bestand einer Elite aus Kapital- und Staatsmacht zu sichern, die das Beschwören numinoser Kräfte nicht minder hoch entwickelt hat, als es die Priesterkasten feudaler Reiche und klassischer Imperien seit jeher taten. Wer danach fragt, wessen Interessen sich konkret durch die vom Ort des Handels zum Gattungsbegriff entuferten "Märkte" artikulieren, dem wird zu verstehen gegeben, daß unser aller Leben ihrem Wohl und Wehe geschuldet ist. Und Schuld ist ganz wörtlich zu verstehen als all das Geld, über das der lohnarbeitende Mensch nicht verfügt, weil es, vom Mehrwert kostenlos erbrachter Produktivität prozessiert zum arbeitsfreie Früchte tragenden Investivkapital der Finanzwirtschaft, gegen sein Interesse an einem auskömmlichen Leben in Stellung gebracht wird.

Selbst wo "die Märkte" noch mit dem konkretem Handel von Gütern und Dienstleistungen befaßt sind, werden diese wertvoll durch ihre Unverfügbarkeit für eine anwachsende Zahl von Menschen. Dies gilt um so mehr für eine Kapitalakkumulation, deren abstrakte Ungreifbarkeit im umgekehrten Verhältnis zu dem konkreten Mangel steht, dessen sie sich nicht nur bedient, sondern den sie aktiv verschärft. Zwar ist es dem Kapital im Wortsinne der tauschwertäquivalenten Vergleichbarkeit der Waren gleichgültig, wie es sich verwertet, doch entwickelt sich seine Gewinnerwartung desto steiler, je größer der Mangel ist, dessen kaufkräftige Befriedigung als Nachfrage immer nur denjenigen Teil beziffert, der nicht in die Bodenlosigkeit unumkehrbarer Verelendung fällt.

Nicht die Gier der Kapitaleigner nach immer mehr von etwas, das sie nur zu einem Bruchteil in konkreten physischen Gebrauch nehmen können und das ihnen ansonsten bei Strafe seiner Entwertung zu lösende Anlageprobleme beschert, treibt "die Märkte". Die moralische Forderung nach Zügelung eigenen Gewinnstrebens im Angesicht krasser Not taugt nur dazu, sich mit noch größerer Finesse über sie hinwegzusetzen, etwa indem mit ethisch wertvollem und ökologisch nachhaltigen Investment die Fata Morgana des menschenfreundlichen Kapitalismus illuminiert wird. Ohne den konstitutiven Mangel derjenigen, deren Einkommen unterhalb des Mindestmaßes zur Reproduktion erforderlichen Konsums liegt, kann kein Verwertungssystem Bestand haben, das sich mit abstrakten Prinzipien der Wertschöpfung über die konkreten Interessen der Menschen hinwegsetzt.

Die Organisation des Mangels zu Lasten derjenigen, die sich zu seiner versprochenen, aber nie eingelösten Überwindung versklaven lassen, die von den stacheldrahtbewehrten Grenzen postindustrieller Metropolengesellschaften, von den elektronisch überwachten Mauern der Gated Communities, den Türstehern erlesener Restaurants und dem Sicherheitspersonal wohlklimatisierter Konsummeilen abgewiesen werden, weil ihnen das Kainsmal der Not unauslöschlich in die reale wie biometrische Haut gebrannt ist, sichert die Lebenschancen derjenigen, die in der Abstraktion der "Märkte" die Beherrschbarkeit und Teilbarkeit des Menschen gegen jeden Anspruch auf die angebliche Rationalität der Marktsubjekte kehren. Die ihnen zugeschriebene Vernunft, stets den eigenen Vorteil im Sinn zu haben und damit die angebliche Selbstregulation der Märkte zum Nutzen aller zu ermöglichen, beweist in der Überlebensratio, die das Mehr eigenen Gewinns am Weniger des Verlustes anderer bemißt, ihren instrumentellen Charakter.

Die Herrschaft der "Märkte", denen sich vermeintlich mächtige Personen und Institutionen so bereitwillig unterwerfen, wie sie die Forderung der Ausgebeuteten und Unterdrückten nach angemessenen Lebensbedingungen spätestens dann, wenn sie wirkmächtig artikuliert werden, als terroristisches Verbrechen stigmatisieren, ist mithin schon durch solidarisches Handeln zu unterbrechen. Antikapitalismus tritt mangels positiver Entwürfe, die nicht von der Widersprüchlichkeit fremdverfügter Verhältnisse eingeholt wurden, zuerst einmal als Negation herrschender Verhältnisse in Erscheinung. Wo "die Märkte" die Atomisierung des Individuums zur notwendigen Voraussetzung seiner Reproduktion als konkurrenzgetriebenes Marktsubjekt erheben, treibt die Negation dieser ganz und gar nicht kreativen Zerstörung erste Risse in die Totalität ihres Gültigkeitsanspruches. Den zivilreligiösen Charakter der Marktdoktrin herauszuarbeiten und ihren irrationalen Charakter anzugreifen bietet sich gerade in einer Zeit, in der die Haltlosigkeit wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Glaubenssätze im Streit der Experten nicht frappanter hervortreten könnte, als probates Mittel der Überwindung herrschender Definitionsmacht an.

"Die Märkte" zerbrechen an sozialen Verhältnissen, in denen Menschen ihre Interessen selbstbestimmt verwirklichen, anstatt sich der abstrakten Verfügungsgewalt ihrer Inwertsetzung zu unterwerfen und damit aus der Hand zu geben, was in der Konsequenz ohnmächtiger Schicksalsgläubigkeit ein fatales Eigenleben entfaltet. Sich nicht mit letztinstanzlichen Antworten auf die eigene Misere zufriedenzugeben und dem Kommando des Verwertungszwanges streitbar entgegenzutreten hingegen verkehrt die demütige Bescheidenheit, die die Priester der Marktreligion verlangen, wenn sie behaupten, man habe über Verhältnisse gelebt, die nicht dem geringsten ihrer Götter zuzumuten wären, in die rebellische Unbescheidenheit, den Glaubenskodex ihrer Kirche zum Einsturz zu bringen.

3. August 2012