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KULTUR/0962: Habermas - Philosophischer Schmierstoff für das Elitenprojekt EU (SB)




Für den 84jährigen Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas war die Verleihung des Kasseler Bürgerpreises "Glas der Vernunft" am 29. September 2013 im örtlichen Staatstheater nur ein kleiner Fisch in seiner umfangreichen Trophäensammlung. Geehrt mit dem Kyoto-, dem Erasmus- und dem Heinrich-Heine-Preis, um nur drei seiner zahlreichen Auszeichnungen zu nennen, kann sich der bedeutendste noch lebende Vertreter der Frankfurter Schule im Glanz eines Lebenswerks sonnen, das kritischen Geist für sich reklamiert, um ihn desto nachhaltiger in den Schranken der herrschenden Verhältnisse einzuhegen. Er hat bereits in seiner kulturell und sozialpsychologisch argumentierenden Krisentheorie den marxistischen Krisenbegriff durch jenen der "Legitimationskrise" ersetzt und sich damit der bestehenden Gesellschaftsordnung als reformatorischer Sachwalter angedient.

Gewürdigt wurde in Kassel das wissenschaftliche Werk Habermas' als Philosoph und Soziologe sowie sein Engagement für den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Zukunft und die Gestaltung einer kosmopolitisch orientierten Weltgesellschaft. Daß die Auszeichnung, mit der Politiker, Geisteswissenschaftler oder Künstler geehrt werden sollen, die sich in besonderer Weise um die Maximen der Aufklärung verdient gemacht haben, erstmals an einen Philosophen vergeben wurde, kommt nicht von ungefähr. In einem krisengeschüttelten Europa, das in beträchtlichem Maße Skeptiker an diesem Zusammenschluß höchst ungleicher Mitglieder zu Lasten der Schwächeren unter ihnen auf den Plan ruft, ist eine Stimme für "mehr Europa" zweifellos opportun. In seinen "Kleinen Politischen Schriften" und Publikationen wie "Ach, Europa" (2008) und "Zur Verfassung Europas" (2011) hat Habermas ein ums andere Mal die Phantasmagorie eines fortentwickelten europäischen Bündnisses zum Wohle aller beschworen, wollte man denn nur auf seine Ratschläge zu dessen Ausgestaltung hören.

Nils Minkmar, der Leiter des Feuilletons der FAZ, ging in seiner Laudatio auf Wladimir Putins in der New York Times gestellte Frage los, woher der Westen seine moralische Erhabenheit nehme. Entscheidend sei doch, ob ein System zur selbstreflexiven Kritik fähig sei oder nicht. Vor diesem Hintergrund habe sich Habermas als unentbehrlicher Kritiker deutscher und europäischer Politik hervorgetan. Minkmar erinnerte an den im Spiegel veröffentlichten Essay "Ein Fall von Elitenversagen", in dem der Philosoph die Politik Angela Merkels schwer unter Beschuß genommen und ihr unverantwortliches Handeln in der Euro-Krise vorgeworfen habe. Mit einem Unterton des Bedauerns merkt die FAZ in einem Bericht über den Festakt an, daß sich Habermas anders als die Vorredner in seiner Dankesrede eher zurückhaltend gegeben und recht brav in Anekdoten ergangen habe. Freilich sei sein Erscheinen in erster Linie eine freundliche Geste gewesen, doch stelle sich die Frage, was von solchen Veranstaltungen bleibt: Ob sie tatsächlich ein nachhaltiges Bewußtsein für den Erhalt demokratischer Werte schaffen oder nur als "unterhaltsamer und vielleicht informativer Vormittag" im Gedächtnis bleiben.[1]

Daß der Preisträger das Angriffssignal der Laudatio überhört, weil er sein Pulver längst anderswo verschossen hat, muß die FAZ natürlich grämen. Gern hätte man schärferen Tobak konsumiert wie etwa eine Philippika gegen den "Exekutivföderalismus" der EU, dessen fatale Folge sei, daß nationale Regierungen kaum in gesamteuropäischen Zusammenhängen dächten:

Die Regulierungskraft des Nationalstaates reicht längst nicht mehr aus, um ambivalente Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung abzufedern. Was heute als 'europäisches Gesellschaftsmodell' gerühmt wird, läßt sich nur damit verteidigen, dass die Politik den Märkten selbst nachwächst. Allein auf europäischer Ebene kann ein Teil der politischen Steuerungsfähigkeit zurückgewonnen werden, die auf nationaler Ebene so oder so verloren geht.[2]

Hatte Habermas schon in seiner Krisentheorie eine politische Steuerbarkeit des modernen Kapitalismus angemahnt, als handle es sich um zwei grundlegend voneinander getrennte Sphären, die beide bewahrt, aber unter staatlicher Kuratel optimiert werden müßten, so ruft er im Falle Europas nach einer gestärkten überstaatlichen Instanz, die den Krisenverlauf in den Griff bekommen soll. Er gehört zu den bekanntesten Verfechtern der Idee, dem "konservativen" Kapitalismusmodell der USA einen von Sozialdemokratie und Liberalen vorgedachten europäischen Block als bessere Alternative gegenüberzustellen.

Was als progressive EU-Politik daherkommt, ist freilich nur auf den ersten Blick mit einer substantiellen Kritik am Zusammenschluß Europas in den Kapitalinteressen und Marktwirtschaft favorisierenden Bahnen zu verwechseln. Jürgen Habermas, Julian Nida-Rümelin und Peter Bofinger führen in ihrem auf Einladung des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel als Diskussionsbeitrag für das sozialdemokratische Regierungsprogramm gemeinsam erarbeiteten Essay "Einspruch gegen die Fassadendemokratie" (FAZ vom 4.8.2012) eine Vertiefung der Integration im Munde, die sich nicht zu einem Bundesstaat auswachsen dürfe. Um eine demokratische Reform der Union auf den Weg zu bringen, solle ein Konvent einberufen werden, der die Verträge reformiert und den Bevölkerungen eine neue Europäische Konstitution zur Abstimmung vorlegt. Zum Zweck demokratischer Absicherung soll ein europäischer Gesetzgeber die Bürger unmittelbar über das europäische Parlament und nur mittelbar über den Rat vertreten.

Nicht in Frage gestellt wird jedoch die bestehende wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Architektur der Union einschließlich des Vorrangs der Haushaltsdisziplin und liberalisierter Finanzmärkte. Die Alternative beschränkt sich auf eine gemeinsame Haftung für Staatsanleihen des Euroraumes, wofür Fiskaldisziplin wie auch eine stärkere Koordinierung der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik der Mitgliedsländer erforderlich sei. Zwar soll kein europäischer Finanzminister die nationale Haushaltsdisziplin überwachen, doch üben EU-Parlament und Rat ebendiese Funktion aus. Die verhängnisvolle Wettbewerbs- und Finanzmarktordnung bleibt nicht nur unberührt, sie würde sogar auf Grundlage dieser Vorschläge vertieft. Der Einfluß der Finanzmarktakteure wird nicht beschnitten, von einer Überwindung des Sozial- und Steuerdumpings ist nicht die Rede.

Was Habermas, der 2001 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für seinen Einsatz an der Legitimationsfront des Jugoslawienkriegs der NATO erhielt, vorschlägt, läuft auf die sozialdarwinistische Fortentwicklung und autoritäre Absicherung der EU hinaus. Wie die soziale Verelendung der griechischen Bevölkerung durch die Zurichtung ihres Landes auf Wettbewerbsfähigkeit belegt, qualifiziert diese Union ihre globale Handlungsfähigkeit, indem sie sich auf einer höheren Stufe der Zugriffsgewalt und Unanfechtbarkeit zu Lasten der Lohnabhängigen und Versorgungsbedürftigen konsolidiert. Der Ausbau Europas zur wettbewerbfähigsten Region stärkt die führenden Nationalstaaten und Kapitale auf dem Rücken der anwachsenden inner- und außereuropäischen Armutsbevölkerung. So lebte Ende letzten Jahres jeder vierte Europäer an oder unter der Armutsgrenze, das sind 121 Millionen Menschen. Derweil bereichern sich die neofeudalen Eliten um so hemmungsloser. In der Woche vor der Bundestagswahl erreichte der DAX einen historischen Höchststand, obgleich die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr nur um 0,3 Prozent wächst.

Das ist in kurzen Worten die europäische Zukunft und Gestaltung der Weltgesellschaft, wie sie Jürgen Habermas vorschwebt. Für seine sozialwissenschaftlichen Handlangerdienste hat man ihn in Kassel mit dem "Glas der Vernunft" bedacht. Es muß sich wohl um die Ratio der Sieger handeln, die sich des philosophischen Schmierstoffs bedienen, um ihr Vorhaben paßförmiger zu machen.


Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/buergerpreis-fuer-juergen-habermas-hier-gibt-es-keine-rose-fuer-merkel-12596980.html

[2] http://www.redside.tk/cms/barricada/von-gurkennorm-und-superstaat-die-eu-auf-dem-weg-zum-bundesstaat-teil-2/ -weg-zum-bundesstaat-teil-2/

1. Oktober 2013