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KULTUR/0980: Gerhard Zwerenz zum Gedenken ... mit dem Wort gegen die Wirklichkeit (SB)



Gerhard Zwerenz ist tot. Der heute, am 13. Juli 2015, nach längerer Krankheit verstorbene Schriftsteller war bis ans Ende seiner Tage ein unbestechlicher Kritiker gesellschaftlicher und dabei insbesondere deutscher Zustände, wie er immer seltener im Buche steht. Sein 90 Jahre währendes Leben führte ihn, wie er selbst in dem 2004 zusammen mit seiner Lebensgefährtin Ingrid Zwerenz verfaßten Buch "Sklavensprache und Revolte" erklärte, durch "vier Sorten Deutschland (..). Drei gingen unter. Das vierte übt noch".

Mit diesem letzten, eine Reihe von über hundert Romanen und zeitkritischen Schriften abschließenden Buch war Gerhard Zwerenz jedoch längst nicht ans Ende seiner Karriere eines vor allem unbequemen, die saturierten Eliten in Bonn und Berlin in ihrer gleichermaßen als Schild und Schwert eigener Herrschaft fungierenden Geschichtslosigkeit immer wieder rüde störenden Zeitkritikers angelangt. Was einen wachen Geist und eine spitze Feder seinesgleichen nicht ruhen läßt, bedarf nicht der besonderen Herstellung zu schöpferischen Höchstleistungen stimulierender Umstände. Ganz im Gegenteil, die sozialen und gesellschaftlichen Widersprüche sorgten stets für ein Übermaß an Anlässen, denen sich ein in der Weimarer Republik aufgewachsener, vom NS-Staat an diverse Kriegsfronten entsandter, zu DDR wie BRD stets ein dissidentes Verhältnis pflegender Mensch gar nicht entziehen konnte.

Sich dem Weg des geringsten Widerstands zu verweigern und sein Heil nicht im Frieden der Paläste zu suchen, unterliegt keiner besinnungslos hingenommenen Fügung eines wie auch immer gearteten Schicksals. Wer wie Gerhard Zwerenz nicht damit aufhört, den Krieg der Hütten in weltgeschichtlicher Konsequenz zu antizipieren, bezieht Position auch und gerade dann, wenn die Angebote, es im Schlaf der Selbstgerechten leichter zu haben, verlockender nicht sein könnten. Als Deserteur, der im August 1944 in Anbetracht der mörderischen Niederschlagung des Warschauer Aufstands durch Wehrmacht und SS die Seiten wechselte, lernte er, was es heißt, sich von der Herde abzusondern und eigener Wege zu gehen:

"Du bist da ein armes Schwein zwischen den feuerspeienden Fronten, nirgendwo zugehörig, voller Ungewißheit, was der nächste Tag bringen wird, Stillstand von Zeit und Leben. Wollte ich es Trauma nennen, müßt ich andere Traumata bagatellisieren, die der Infanterist verdrängen muß, will er sich nicht der Überlebensfähigkeit berauben. Geblieben ist über inzwischen achtundfünfzig Jahre hinweg die jederzeit plötzlich ausbrechende Wut. Es gibt eine so reale wie wahnwitzige Verlassenheit, die dich alles vergessen läßt, auch dich selbst. (...) Fragt sich nur, ob einer seine höllische Wut im Leibe zum kalten Zorn zu keltern versteht." (S. 241)  

Dies verstand Gerhard Zwerenz zweifellos, wie die Aufregung belegt, die diverse Wortmeldungen im Kultur- und Politikbetrieb der BRD auslöste. Erwähnt sei etwa das 1988 erschienene, ein berühmtes Tucholsky-Zitat im Titel tragende Buch "Soldaten sind Mörder - Die Deutschen und der Krieg". Da alle Versuche scheiterten, es auf dem Rechtswege zu verbieten, war der DDR-Dissident, der den Kommunismus nicht verleugnen wollte, nun auch als Nestbeschmutzer deutscher Kriegstradition in aller Munde. Der einzige Deserteur, der es je ins Parlament der Bundesrepublik schaffte, lieferte den Mehrheitsparteien als Abgeordneter der PDS in Verteidigung des als Mandantenverräters in der DDR stigmatisierten Gregor Gysi allen Grund, ihn ganz persönlich zum Feind zu erklären. In seiner Pressemitteilung vom 22. Juni 1995 bezichtigte er "Hitlers Kinder", sich an "Hitlers Opfern" zu rächen, entstamme Gysi doch einer "kommunistisch-jüdischen Familie, die 18 Verwandte im Dritten Reich verlor". Die von ihm angesichts des "intriganten Zusammenspiels von Gauck, Bohley und rechten Bundestagsabgeordneten" aufgemachten "Parallelen zur Affäre Dreyfus" wurden am 30. Juni 1995 in einer öffentlichen Sitzung des Bundestages durch dessen Ältestenrat empört zurückgewiesen.

Immer wieder zwischen allen Stühlen sitzend entwickelte Zwerenz ein Urteilsvermögen, das sich jeder ideologischen Pflicht enthob, um sich mit denjenigen solidarisch zu zeigen, die sich - wechselnden zeitgeschichtlichen Umständen geschuldet - urplötzlich im falschen Lager wiederfanden. Wiewohl aus der DDR geflohen waren ihm die Nachstellungen, die die Mitglieder und Anhänger ihrer Regierung und Behörden in der antikommunistischen BRD zu erleiden hatten, ein Greuel. Im Herzen stets Kommunist trotzkistischer Prägung geblieben wollte er weder über jugendliche Opfer der NS-Indoktrination noch fahnentreue DDR-Intellektuelle den Bannfluch falscher Gesinnung verhängen. "Schuldig ist nicht, wer guten Glaubens das Falsche vertritt, was aus vielerlei Gründen geschehen kann. Schuldig wird, wer etwas erkennt und sich verweigert." (S. 212)

Mit Ernst Bloch, als dessen Schüler er sich nicht bezeichnet wissen wollte, obwohl er in Leipzig bei ihm studierte und sein philosophisches Credo der "konkreten Utopie" stets hochhielt, führte er eine intensive Auseinandersetzung, die viel über die politische Lebenspraxis dieses unter Linken in aller Welt legendären Philosophen verrät. Als "verhinderter revolutionärer Reformator des Sozialismus" habe Ernst Bloch versucht, "Luther und Müntzer in einer Person zu sein". Wie tief Zwerenz trotz aller Differenzen mit Ernst Bloch verbunden war, davon zeugt nicht zuletzt seine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema "Sklavensprache", das ihm von diesem ans Herz gelegt wurde. Sie als Autor zu überwinden war ihm denn auch Richtschnur und Verpflichtung in einem, wie einer Stellungnahme anläßlich des Eklats um seine Person im Bundestag zum zeitgemäßen, damals auf die PDS abzielenden Antikommunismus zu entnehmen ist:

"Es tat wohl, offen und direkt auszusprechen, was Sache war. Von wegen verordneter Antifaschismus, den sie uns ständig ankreideten. Den brauchte uns keiner zu verordnen. Da klebten Schweiß und Blut dran, der war schwer genug errungen. Schon das Wort verordnet ist Verrat. Die PDS trat viel zu wenig selbstbewußt auf. Es galt, ein plurales Deutschland durchzusetzen gegen den Trend zur rechtsgeneigten Einheit, wie sie die nationalen Banalitätenhändler erstreben. Jetzt zum Jahrhundert-Ende wollten sie immer noch nicht akzeptieren, was der Mord von 1919 an Luxemburg und Liebknecht bedeutete und welche Folgen er nach sich zog: 1933 - 1939 - 1945. Wir bleiben dabei: Wer ins fremde Haus eindringt, ist ein Einbrecher. Wer die Bewohner tötet, ist Mörder. Kein Grund, es anders zu sehen, ist das fremde Haus ein fremdes Land. Die DDR unseligen und seligen Angedenkens war der verzweifelte Versuch, im Reich blauäugiger Judenmörder und Linken-Liquidatoren ein Gegen-Land zu schaffen, ein Bloch-Land, wie viele sich erhofften. Die Morde von 1919 hatten auf Umwegen zu einer DDR in babylonischer Gefangenschaft geführt. Eingeklemmt zwischen Moskau und Adenauers Weststaat sollen die Ostdeutschen noch im Nachhinein abbüßen, was Monarchie, Weimarer Republik, Drittes Reich und Bonner Republik angerichtet hatten." (S. 484 f.)  

Gerhard Zwerenz hat die Kontinuität gescheiterter Revolutionen, zu denen er auch die unterlassene Revolution nach 1945 zählte, nicht mit dem Siegel der Endgültigkeit verschlossen, sondern blieb im Blochschen Sinne dem "Noch-Nicht" künftiger Aufbrüche verpflichtet. In "Sklavensprache und Revolte", dem die hier verwendeten Zitate entnommen sind, zieht er die Linie linken Versagens weiter in die Zukunft kommender Generationen, ohne jedoch den Mut zur Überwindung herrschender Verhältnisse sinken zu lassen:

"1914: Burgfriedenspolitik. 1918: Revolutionsverrat. 1933: autoritäre Einheit für erneuten Kriegskurs. 1945: unterlassene Revolution und Beginn der Teilung. 1989/90: Einheit mit einprogrammiertem Bedeutungsverlust aller Opponenten. Aussichten ab 2000: Die selbstverschuldete Alternativlosigkeit führt in krisenhafte innere und äußere Konflikte, für deren friedliche und demokratische Lösung jede Voraussetzung fehlt. Feigheit und autoritäre Vorlieben sind Mentalität geworden. Prägungen der Vergangenheit gerinnen zum künftigen Schicksal ewiger Wiederholungsprozesse, als führten alle deutschen Wege nach Stalingrad. Denn die unterlassene Revolution mündet im Krieg. Und Krieg ist Konterrevolution. Wenn aber erst entgegen aller Verhinderungsanstrengungen Krieg herrscht, dann gilt: 'Nur Messer kann Geschwüre vertreiben ... nicht das unbewaffnete Herz ... ohne die der Gewalt homogenen Hilfsmittel ...' So Ernst Bloch in Kampf, nicht Krieg (1918). Das Messer heißt hier Revolution." (S. 454 f.)  

Was in Sicht auf die heutige Krisenentwicklung und die Ohnmacht einer Bevölkerung wie der Griechenlands, die noch so laut Nein sagen kann, um dennoch zu neokolonialer Knechtschaft verurteilt zu werden, so unabgegolten wie zur Zeit seiner Niederschrift ist, war für Zwerenz auch eine Verpflichtung marxistischer Analyse und Kritik. Sei der Marxismus wie das Urchristentum die Hoffnung der Beleidigten und Unterdrückten, so gelte es zu verhindern, daß er im Falle seiner erfolgreichen Durchsetzung wie das Christentum zur Staatsreligion verkomme. Weil Marxisten zum einen die Revolution voranbringen müßten und sie zum andern vor dem Rückfall in frühere Unterdrückungsmechanismen zu bewahren hätten, würden sie "im Kapitalismus wie Sozialismus zum Feind erklärt werden. Ihre Subversion gilt jedweder überschüssigen Herrschaft." (S. 41)

Als subversiv könnte auch bezeichnet werden, was Gerhard Zwerenz in der letzten Wirkungsphase seines literarischen Schaffens publizierte. In dem elektronischen Literaturmagazin poetenladen.de veröffentlichte Gerhard Zwerenz seit 2009 bis Anfang diesen Jahres seine politische Autobiographie. "Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte" schildert in drei Abteilungen und mehr als 250 reichhaltig mit zeitgeschichtlichen Dokumenten illustrierten Beiträgen den persönlichen, literarischen und politischen Werdegang dieses streitbaren Geistes. Wer sich für die Zeitläufte der politischen Diskurse und den Wellenschlag der kulturellen Debatten in beiden deutschen Staaten interessiert, wird dort auf höchst befriedigende Weise fündig. Dem üblichen Lagerdenken abhold und stets mit aktuellem Zeitbezug versehen legte Zwerenz Zeugnis von einem Reichtum an intellektueller Reflexion ab, der im Zeitalter perfekt formatierter Medialität und umfassend orchestrierter Talkshowdebatten aller Erregung zum Trotz durch jene geistige Armut abgelöst wurde, die Anpassung und Unterwerfung nun einmal hervorbringen. Nicht zuletzt die anwachsende Kriegsbegeisterung deutscher Eliten nahm Zwerenz in seinem Sächsischen Tagebuch immer wieder aufs Korn, so zum letzten Jahreswechsel unter der Überschrift "Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht".

In einem "Brief an Ernst Bloch im Himmel" vom 13. August 1984 erwies Gerhard Zwerenz dem 1977 in Tübingen verstorbenen Mentor Reverenz, indem er die Philosophen mahnte, darüber nachzudenken, "wie wir dem Dualismus entkommen, der uns umfangen hält, wonach der Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben sei." Gemeint war die akute Gefahr eines Atomkrieges, der sich aus der waffenstarrenden Hochrüstung beider Hauptkontrahenten der Blockkonfrontation ergab. "Das eine wie das andere Denken schafft nichts als Schützengräben, Frontverläufe, Ausgangspositionen: Ich rüste, also bin ich. Es wird Zeit, alter Freund, fürs dritte Denken, für die dritte Position: Ich widerstehe, also kann aus uns noch etwas werden.

Salut, Freunde!

Auf Wiedersehen, Ernst. Droben oder drunten.

Dein Gerhard Zwerenz." (S. 186 f.)

Deshalb an dieser Stelle an Gerhard Zwerenz ... wie sollte es anders sein, als daß wir uns wiedersehen.


Alle Zitate aus:
Ingrid und Gerhard Zwerenz: Sklavensprache und Revolte. Der Bloch-Kreis und seine Feinde in Ost und West. Schwartzkopff Buchwerke, Hamburg - Berlin 2004

Gerhard Zwerenz im Poetenladen:
http://www.poetenladen.de/zwerenz-gerhard-sachsen.htm

Ein Interview des Schattenblick mit Gerhard Zwerenz finden Sie unter:
www.schattenblick.de → Infopool → Die Brille → Report
INTERVIEW/002: Konkrete Utopie - Gespräch mit Gerhard Zwerenz (SB)

13. Juli 2015


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