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KULTUR/1009: Zehn Jahre Smartphone - Auf den Weiden Digitaliens ... (SB)



Ob 3,5, 4,7 oder 5,5 Zoll groß - die Erde ist eine Scheibe und so flach, wie es die Priester der neoliberalen Marktwirtschaft in ihren kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt hätten. In nur zehn Jahren, die seit Vorstellung des ersten iPhones durch den damaligen Apple-Chef Steve Jobs am 9. Januar 2007 in San Francisco vergangen sind, ist das berührungsempfindliche Glas auf den Displays der Smartphones für Milliarden Menschen die hauptsächliche Kontaktfläche zu der Welt, die sie umgibt, geworden. Daß das, was in unmittelbarer Nähe geschieht, an den Rand ihres kognitiven Universums rückt, während in seinem Zentrum ein von weltweit vernetzten Datenflüssen gespeistes Licht Aufschluß über alles gibt, was nah und fern an Erregendem und Interessantem passiert, hat nicht nur das Bild verändert, das der einzelne Mensch sich vom Leben macht, sondern das Leben selbst.

Auch wenn es zuvor bereits Geräte gab, mit denen man nicht nur telefonieren, sondern auch Daten empfangen und übertragen konnte, wird das iPhone aufgrund seiner fingerkuppengesteuerten Sensortechnik, die als Eingabe- und Steuerschnittstelle fungiert, doch zu Recht als Prototyp dessen bezeichnet, was als Smartphone einen noch rasanteren und produktiveren Siegeszug vollzogen hat als zuvor der Personal Computer oder das World Wide Web. Der sich in diesen Innovationen bereits ankündigende Aufbruch in eine Ära des umfassenden Zugriffs auf Informationen aller Art und einer interaktiven Kommunikation, die die linearen Medien audiovisueller und textlicher Art in Form wie Inhalt massiv in Frage stellen, trat mit der smarten Version der Mobiltelefonie weithin sichtbar aus der heimischen Wohnung auf die Straßen und Plätze, in die Versammlungsorte und Verkehrsmittel der Städte hinaus.

Heute wirkt das mit Kopfhörersteckern akustisch separierte, die Augen fest auf das kleine, von den Fingern mit schnellen Druck- und Wischbewegungen traktierte Glas gerichtete Dasein der IT-Monaden nur noch auf aus der Zeit gefallene Betrachter wie die wahr gewordene Zukunft jener sozialkritischen Science-Fiction-Romane, die sie in ihrer Jugend noch ganz konventionell in Buchform verschlungen haben. Was einst aus imaginativen Welten und abstrakten Schlußfolgerungen an Erlebnisqualität und Erkenntnisgewinn gezogen wurde, läßt sich heute mit ungleich größerer Intensität in audiovisuell erfahrbaren Spielewelten nicht nur erleben, sondern auch beeinflussen. Gaming, Kommunikation und Informationskonsum nehmen den Menschen in der U-Bahn, auf der Parkbank, auf dem Laufband des Fitneßcenters oder im Wartezimmer des Arztes auf eine Weise in Beschlag, daß jede Unterbrechung durch den Versuch, ein Gespräch zu beginnen, einer groben Störung gleichkäme.

An und für sich scheint sich gegenüber den Zeiten, als die Menschen im Bus oder auf dem Amt in eine Zeitung blickten oder auch nur vor sich hinstarrten, nichts geändert zu haben. Wurden damals Buchstaben gefiltert, so werden heute Daten, die audiovisuell oder in Textform in Erscheinung treten, konsumiert. Ganz anders allerdings funktionieren zwischenmenschliche Kontakte. Auf elektronischen Kanälen zu jeder Zeit und an jedem Ort erreichbar zu sein und mit anderen Menschen von dort aus in Kontakt zu treten wirkt auf den ersten Blick wie eine ungeheure Bereicherung des Soziallebens. Doch kann die schiere Quantität der Freundeszahl durchaus zu Lasten des jeweils einzelnen Kontaktes, der in immer enger bemessenen Zeiteinheiten zu bewältigen ist, gehen. Will der Mensch tatsächlich allen an ihn adressierten Interessen neben der Erledigung seiner beruflich wichtigen E-Mails und sonstigen Verrichtungen in sozialen Netzwerken gerecht werden, dann kann die Geschwindigkeit, mit der die Finger auf dem Display tanzen, nicht erstaunen.

Daß das neue Land Digitalien etymologisch der anatomischen Extremität entspringt, die den Menschen mit sensorischen und haptischen Fähigkeiten ausstatten, die ihm eine Art bioorganische Schnittstelle zwischen Geist und Materie an die Hand geben, könnte Gläubigen gar als geheimer Plan eines weitsichtigen Gottes erscheinen. Das lateinische Wort digitus für Finger verweist in seiner modernen Verwendung als Ziffer aber auch auf das den zehn Fingern zweier Hände entsprechende Dezimalsystem, mit dem die Welt quantitativ geordnet wird. So stellt das, was unter Digitalisierung als Verwandlung analoger Größen in binär geschaltete Daten zum Zwecke ihrer Speicherung und Verarbeitung verstanden wird, die als technologische Revolution überhöhte Beschleunigung rechnergestützter Produktivkraftentwicklung auf die Füße einer Veränderung der vorherrschenden Produktionsweise, die vor allem organisatorischen und effizienzsteigernden Zwecken dient.

Nüchtern betrachtet stellt die Nutzung der Smartphone-Hardware als Zugang zu datenelektronisch vermittelter Kommunikation nichts anderes dar als die erfolgreiche Einspeisung menschlicher Tätigkeiten in informationstechnische Systeme, die, von wenigen monopolistisch agierenden Konzernen ausgestattet und betrieben, auf bewährte marktwirtschaftliche Weise bewirtschaftet werden. Indem die Menschen mit jeder Ein- wie Ausgabe auf dem kleinen Schirm, in dem die ganze Welt auf die endliche Zahl einiger tausend Pixel und ihrer milliardenfachen farblichen Variation eingedampft wird, zu Produzenten der als geldwerter Rohstoff begehrten Daten werden, verrichten sie auf ihren Smartphones eine Arbeit, die der Akkumulation informationstechnisch erzeugten Wertes dient.

Da dies stets auf der technischen Basis netzüblicher Protokolle erfolgt, während der ursprüngliche Zweck mobiler Telefonie, die bloße Übertragung analog vermittelter Sprache, in den Hintergrund tritt, findet diese Technologie direkt unter der Oberfläche der Töne, Bilder und Worte, die aus dem Smartphone dringen oder in ihm erzeugt werden, in gleichförmiger Zähl- und Rechenbarkeit ihren Zweck. Die unendliche Vielfalt der Erscheinungen nimmt im binären Code die Form eines technischen Artefakts an, das mit jeder noch so beeindruckenden Repräsentation oder Simulation natürlicher Phänome die Unvereinbarkeit von Sein und Schein ins Werk setzt. Die digitale Alchemie soll nun darin bestehen, durch letzteres hindurch auf ersteres zuzugreifen, um sich auch noch dasjenige anzueignen, was an menschlicher Subjektivität und natürlicher Komplexität bislang unverfügbar erschien.

Eben das macht die Welt so flach, wie sie in den Augen der Vordenker einer kapitalistischen Marktwirtschaft, die keine Vergangenheit und Zukunft, kein Unten und Oben kennt, sondern den Akt des Tausches von Geld gegen Ware gegen mehr Geld zur absoluten Konstante allen zwischenmenschlichen Tuns erheben, als anzustrebendes Ideal erscheint. So divers und komplex alles Geschehen, das zwischen Menschen und Menschen wie auch ihrer stofflichen Umgebung erfolgt, nach wie vor ist, so gleichartig und homogen tritt es in seiner datentechnischen Rohform in Erscheinung. Daß nunmehr auch alle Bewegungen im Raum und viele andere Vorgänge, die mit Hilfe der verschiedenen physikalischen Sensoren der Smartphones quantifizierbar werden, diese vielseitig verrechenbare Gestalt annehmen, ebnet Formen der Kontrolle und des Zugriffs den Weg, die in den Händen der hochintegrierten und -konzentrierten IT-Branche ebenso gut aufgehoben ist, wie es der Zweck jedes kapitalistischen Unternehmens gebietet.

Dabei dreht es sich bei weitem nicht nur um pures Geldmachen, wie anhand der kommerziellen Bewirtschaftung der anfallenden Daten für Werbezwecke gemutmaßt werden könnte. Wenn Milliarden Menschen auf einer einzigen gigantischen Weide informationstechnischer Anwendungen grasen, dann ist die monströse Entwicklung der modernen Massentierhaltung aus der kleinformatigen bäuerlichen Landwirtschaft eine nur schwache Analogie dafür, was die Nutznießer dieser Herde alles mit deren so freiwillig wie begeistert erzeugten Produkten anstellen können. Nicht zufällig wird in den Denkschmieden dieser Unternehmen über die Verwaltung und Steuerung alles gesellschaftlichen Lebens und Arbeitens auf algorithmischer Basis nachgedacht, scheint es doch für jedes Problem eine aus deren Gleichungsoperationen resultierende Lösung zu geben. All dies allerdings findet stets im Rahmen einer staatlichen Ordnung statt, die die privatwirtschaftliche Eigentumsordnung zuverlässig garantiert.

Was als "Fernbedienung des Lebens" [1] maximale individuelle Kontrolle suggeriert, wird schon durch die strukturellen Bedingungen dieses vermeintlichen Zugriffs in den Schatten einer Beherrschbarkeit gestellt, der mit der Ausbildung des nationalen Sicherheitsstaates als logistische Basis internationaler Krisenkonkurrenz auf alle Verrichtungen des täglichen Lebens zu fallen droht. So individuell die jeweilige Nutzung mobiler Datentechnik erscheint, kann sie zum Mittel einer Sozialkontrolle werden, die über Fragten körperlicher Befindlichkeit, sozialer Beziehungen, finanzieller Bemittelung und vieles weitere nicht nur Auskunft erteilt, sondern den klassischen Zweck jeglicher Herrschaftssicherung übererfüllt.


Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar593.html

9. Januar 2017


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