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KULTUR/1017: Leitkultur - Katechismus der Staatsräson (SB)



Wenn Bundesinnenminister Thomas de Maizière einen Zehn-Punkte-Katalog zur deutschen Leitkultur vorlegt, bringt er eine in jahrelangen Kontroversen vorgereifte Maßgabe hegemonialer Ambitionen nach innen und außen in Stellung. Die deutsche Vorherrschaft in Europa wurde mit einer brachialen Fragmentierung der Arbeitsgesellschaft und Ausgrenzung der für überflüssig Erklärten erzwungen, die gewachsene Strukturen, ehemals erkämpfte soziale Errungenschaften und nicht zuletzt Potentiale kollektiven Widerstands atomisierte und zerschlug. Auf diese Weise wurde eine hochadministrativ durchdrungene Umsetzung des neoliberal-aggressiven Konzepts "kreativer Zerstörung" praktiziert, das eines Gegensteuerns auf einer höheren Ebene der Kontrollgesellschaft bedarf. Nicht der Zerfall kann das Ziel innovativer Herrschaftssicherung sein, entzöge er doch die ausgestoßenen und verelendeten Bevölkerungsteile tendenziell dem Zugriff staatlicher Verfügung. Vielmehr schlägt nun die Stunde einer ideologischen Verpflichtung auf übergeordnete nationale Dogmen und eine jegliche Klassenwidersprüche für entsorgt erklärende Ratio dessen, was zu denken und zu befolgen sei.

Der Bundesinnenminister formuliert einen Katechismus aus, der die Gebote des Glaubens an den Rechtsstaat, die herrschende Eigentumsordnung und die kapitalistische Verwertung in Alltagshandeln übersetzt. Wie der CDU-Politiker in der "Bild am Sonntag" erklärt hat, gehe es dabei um eine Richtschnur für das Zusammenleben in Deutschland. "Wer sich seiner Leitkultur sicher ist, ist stark." Es gebe über Sprache, Verfassung und Achtung der Grundrechte hinaus Dinge, die uns im Innersten zusammenhielten, uns ausmachten und uns von anderen unterschieden. [1] Angesichts eskalierender Ungleichheit der Lebensmöglichkeiten beschwört er die Einheit, erklärt diese jenseits aller konkreten Widerspruchslagen und möglichen Kämpfe zur verbindenden Identität und fokussiert diese auf Feindbilder.

Wie das gehen soll? De Maizière fällt mit der Tür ins Haus und beginnt mit den Worten: "Wir legen Wert auf einige soziale Gewohnheiten, nicht weil sie Inhalt, sondern weil sie Ausdruck einer bestimmten Haltung sind: Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand. Bei Demonstrationen haben wir ein Vermummungsverbot." Der erste Punkt schließt mit den Worten: "Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka." Kürzer könnte der polizeistaatliche Zwang, jederzeit identifizier- und sanktionierbar zu sein, kaum auf den Punkt gebracht, rabiater die antiislamische Bezichtigung nicht zusammengefaßt werden.

Nachdem der Innenminister im zweiten Punkt die Allgemeinbildung hochgehalten und damit die Überlegenheit deutscher Erziehung unterstrichen hat, hausiert er im dritten unverfroren mit dem Mythos der Leistungsgesellschaft: "Wir sehen Leistung als etwas an, auf das jeder Einzelne stolz sein kann." Leistung und Qualität bringen Wohlstand, so de Maizière. Der Leistungsgedanke habe unser Land stark gemacht. Durch soziale Sicherungssysteme gebe es auch Unterstützung für Hilfsbedürftige - eine Leistung, auf die Deutschland ebenfalls stolz sein könne. Daß sich hierzulande Millionen Menschen zu Hungerlöhnen totschuften, mitten im Überfluß in die Armut fügen und selbst bei extremer Leistungsbereitschaft in mehreren Jobs nicht im geringsten am Wohlstand partizipieren, läßt de Maizière wohlweislich unerwähnt. Wenn er in neofeudaler Manier ein ums andere Mal doziert, was "wir" sehen, meinen und tun, entufert die herrschaftliche Perspektive zur einzig gültigen Räson.

Auch was die Geschichte betrifft, diktiert der Bundesinnenminister einige Eckpunkte unabweislicher Gültigkeit: "Wir sind Erben unserer deutschen Geschichte." Diese sei ein Ringen um die Deutsche Einheit in Freiheit und Frieden mit den Nachbarn, aber auch das Bekenntnis zu den tiefsten Tiefen der deutschen Geschichte. "Dazu gehört auch ein besonderes Verhältnis zum Existenzrecht Israels." Abweichende Meinungen sind nicht nur nicht gefragt, sondern laut de Maizières Katalog offenbar schlichtweg undeutsch. Dann lobt der Minister die Kulturnation, wozu ihm in seiner preussisch-sozialtechnokratischen Art freilich nichts Besseres als "Musikeinlagen bei politischen Festakten" und das "Erscheinen wichtiger Politiker bei der Eröffnung eines großen Konzerthauses" einfallen.

Handfest zur Sache geht es sodann wieder bei der Religion, die in unserem Land "Kitt und nicht Keil der Gesellschaft" sei. Ein solcher Kitt entstehe in der christlichen Kirche, in der Synagoge und in der Moschee, gibt sich der Bundesinnenminister weltoffen, um wenig später mit dem Imperativ nachzulegen, daß unser Land christlich geprägt sei und Kirchtürme unsere Landschaft prägten. Wir lebten in religiösem Frieden, und Grundlage dafür sei der unbedingte Vorrang des Rechts über alle religiösen Regeln im staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenleben. Man braucht nicht einmal zwischen den Zeilen zu lesen, um zu verstehen, mit welcher Stoßrichtung de Maizière solche Allgemeinplätze zitiert.

Auch wenn er die deutsche Zivilkultur bei der Regelung von Konflikten unterstreicht und erklärt, Gewalt sei weder bei Demonstrationen noch an anderer Stelle gesellschaftlich akzeptiert, kann er sich den Tunnelblick des Innenministers einfach nicht verkneifen, der seine Wahrnehmung der Sicherheitslage und ihre Gewährleistung in den Rang eines verpflichtenden Allgemeinguts erhebt. Natürlich darf auch der "aufgeklärte" Patriotismus nicht fehlen, denn "wir hatten Probleme mit unserem Patriotismus", doch die seien vorbei: "Unsere Nationalfahne und unsere Nationalhymne sind selbstverständlicher Teil unseres Patriotismus: Einigkeit und Recht und Freiheit."

Grundsätzlich seien wir natürlich Teil des Westens, da die NATO unsere Freiheit schütze, und als Deutsche immer auch Europäer. Deutsche Interessen ließen sich oft am besten durch Europa vertreten und umgekehrt könne Europa ohne ein starkes Deutschland nicht gedeihen, faßt de Maizière die expansiven, hegemonialen und militaristischen Interessen hiesiger Regierungspolitik in verharmlosende Worte, womit er die Interessen von Staat und Eliten zur Selbstverständlichkeit aller erklärt. Und schließlich darf auch das gemeinsame kollektive Gedächtnis für Orte und Erinnerungen wie das Brandenburger Tor und der 9. November, aber auch der Gewinn der Fußballweltmeisterschaften nicht fehlen.

Abschließend wirft de Maizière eine naheliegende Frage auf, die er gleich selbst beantwortet: Was soll mit jenen Menschen passieren, die nach Deutschland gekommen seien und eine Bleibeperspektive hätten, eine solche Leitkultur im schlimmsten Fall aber ablehnten? "Bei denen wird die Integration wohl kaum gelingen", droht der Innenminister. Im Umgang mit diesen Menschen sollte man sich dann von der Unterscheidung zwischen dem Unverhandelbaren und dem Aushaltbaren leiten lassen. So liest sich Thomas de Maizières Zehn-Punkte-Katalog zur deutschen Leitkultur wie ein offiziöses Pamphlet, das die Akzeptanz bundesdeutscher Regierungspolitik nicht nur einfordert, sondern diese gewissermaßen zu einem identitätsstiftenden weil allgemeinverbindlichen Kulturgut erklärt. Erinnern wir uns an die einleitende Aussage des Bundesinnenministers: "Wer sich seiner Leitkultur sicher ist, ist stark." Was das für die Zweifler, die Kritiker, die Widerständigen bedeutet, läßt sich erahnen.


Fußnote:

[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/de-maizieres-zehn-punkte-plan-14994262.html

2. Mai 2017


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