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KRIEG/1307: Anschlag auf Bevölkerung Gazas ... Vorwände und Gründe (SB)



Die große Brutalität, mit der die israelischen Streitkräfte nicht nur gegen die Hamas, sondern gegen die ganze Bevölkerung des Gazastreifens vorgegangen sind, ist vielfältig belegt. Sie wurde durch Aussagen israelischer Soldaten und Offiziere bestätigt, die berichteten, daß sie mit derart aggressiven Mitteln vorgingen, wie sie es bei vorherigen Angriffen auf palästinensische Gebiete nicht erlebt hätten. Sie zeigte sich an der Shock and Awe-Initialzündung, bei der 80 Kampfflugzeuge innerhalb von vier Minuten rund einhundert Ziele angriffen, was zur Folge hatte, daß schon zu Beginn des Krieges über 200 Palästinenser starben. Sie wird durch die Zahl von insgesamt mehr als 2300 Luftangriffe auf das dicht besiedelte Gebiet, die komplette Zerstörung von rund 4000 und die Beschädigung von 17.000 Häusern, den Einsatz von Phosphor als Anti-Personen-Waffe, die zahlreichen Berichten über den gezielten Beschuß flüchtender Zivilisten aus unter Feuer stehenden Wohnhäusern und die Angriffe auf Krankenhäuser, Krankenwagen und Nahrungsmitteldepots dokumentiert.

Das produktive Ergebnis der "Arbeit", die die israelische Kriegsmaschinerie in den Worten ihres Oberbefehlshabers Gabi Ashkenazi in Gaza verrichtete, besteht laut dem Palästinensischen Menschenrechtszentrum (PHRC) in 1285 Toten, die zu 82,6 Prozent als Zivilisten eingestuft werden, darunter 280 Kinder und 111 Frauen. 4336 Personen wurden meist schwer verletzt, darunter 1133 Kinder und 735 Frauen. Laut dem PHRC, dessen konservative Angaben durch andere Zählungen deutlich übertroffen werden, wurden 28 öffentliche Gebäude - Ministerien, Universität, Parlament - 30 Moscheen, 10 Sozialzentren, 121 Werkstätten, 21 Gaststätten und Geschäfte und 5 Zementfabriken zerstört (NZZ, 30.01.2009). Zehntausende von Menschen sind obdachlos, Hunderttausende haben keinen Strom und kein Wasser, der Hunger ist allgegenwärtig.

Kaum quantifiziert werden können die seelischen Schäden, die die Menschen und insbesondere die Kinder davongetragen haben. Wer drei Wochen unter der ständigen Bedrohung lebt, jederzeit von einer Kugel, Bombe oder Granate getroffen zu werden, ohne sich wirksam gegen diese Gefahr schützen zu können, wer Szenen schrecklicher Verstümmelung und Zerstörung erleben muß, wer Angehörige verliert, wer sich von der ganzen Welt alleingelassen fühlt, weil niemand Israel in den Arm fällt, während er weiß, daß Flucht unmöglich ist, weil der Versuch, das Gebiet zu verlassen, mit großer Wahrscheinlichkeit mit dem Leben bezahlt wird, hat beste Voraussetzungen dafür, niemals wieder froh und glücklich, sondern den Rest seines Lebens von schwerwiegenden Depressionen und Symptomen posttraumatischen Stresses heimgesucht zu werden. Nach den Maßstäben, den etwa die Psychologen der Bundeswehr an die in Afghanistan stationierten Soldaten anlegen, sind alle 1,5 Millionen Einwohner des Gazastreifens nach diesem Krieg schwer traumatisiert.

Die Behauptung der israelischen Regierung, man habe sich gegen den Raketenbeschuß aus dem Gazastreifen zur Wehr setzen wollen, ist insofern unglaubwürdig, als daß dieser während des halbjährigen Waffenstillstands monatelang so gut wie eingestellt war und jeder neuerliche Beschuß in direktem Zusammenhang mit israelischen Übergriffen stand. Laut dem Hamas-Sprecher Ussama Hamdan kam es während des Waffenstillstands von Juni bis Dezember 2008 zu 70 israelischen Übergriffen, bei denen 43 Palästinenser getötet wurden (Telepolis, 15.01.2009). Wäre Israel auf die mit dem Waffenstillstand verknüpfte Forderung der Hamas eingegangen, die Blockade des Gebiets aufzuheben und seine vollständige Versorgung wieder zu ermöglichen, dann hätte man in Israel mit großer Wahrscheinlichkeit keinen Anlaß dazu gehabt, sich verteidigen zu müssen.

Eben diesen Anlaß benötigte die israelische Regierung, um die Bevölkerung des Gazastreifens mit beispielloser Härte darüber aufzuklären, daß sie keine Zukunft in Gaza hat. Zu diesem Schluß sind viele Palästinenser gekommen, die sich auf die Intensität der israelischen Zerstörungsgewalt ansonsten keinen Reim machen können. Ältere Bewohner des Gebiets sind häufig der Ansicht, daß dieser Anschlag auf ihr Leben schlimmer war als frühere Übergriffe inklusive des Krieges 1967 und der Vertreibung 1948. Die Menschen im Gazastreifen sind viel gewohnt, da es alle paar Jahre zu größeren Offensiven der israelischen Streitkräfte kommt. Was ihnen nun widerfahren ist, sprengt jedoch alle Vergleichsmaßstäbe, wie der 28jährige Fa'id Abraheem al Daya in einer Reportage aus dem Gazastreifen (Deutschlandfunk, 29.01.2009) erklärt:

"Während dieses letzten Krieges redete mein Vater über 1948 und wie sie aus ihrer Heimat rausgeschmissen worden sind. Er sprach auch über 67. Aber dieses hier war barbarischer. Er verglich es mit dem Irak-Krieg, als die amerikanischen Truppen den Irak besetzten. Es war eine flächendeckende Zerstörung, das wahllose Töten von Zivilisten auf brutaler Art und Weise. Kein Respekt vor Häusern, oder Frauen, oder Kindern. Kein Respekt vor niemandem. Sie wollten nur zerstören, und Zivilisten töten. Das hat nichts mit Widerstand oder Nicht-Widerstand zu tun. Nur mit dem Töten von Zivilisten. Das ist es, was in diesem Krieg geschehen ist."

Wenn Militärexperten behaupten, das israelische Vorgehen resultiere aus dem asymmetrischen Charakter dieses Konflikts, in dem hochgerüstete Streitkräfte auf eine nur leicht bewaffnete Guerilla treffen, dann handelt es sich um eine zynische Rationalisierung des Verbrechens, eine ganze Bevölkerung gewaltsam in Angst und Schrecken zu versetzen und zu dezimieren. Das angebliche Untertauchen der Hamas-Kämpfer inmitten der Bewohner des Gazastreifens zur Rechtfertigung von Angriffen auf alle Menschen zu nehmen liefe in der Konsequenz auf legitime Massenvernichtung hinaus, wäre die Hamas doch nicht mit anderen Mitteln zu besiegen. Daß in diesem Kontext niemals von den politischen Möglichkeiten gesprochen wird, mit denen Israel längst auf einseitige Weise allen Anlaß für weitere Feindseligkeiten aus der Welt hätte schaffen können, entspricht der Absicht, das Vorgehen der israelischen Streitkräfte als alternativlos erscheinen zu lassen. Wenn deren Führung darüber hinaus zugutegehalten wird, sie wolle nach den Erfahrungen im jüngsten Libanonkrieg unter allen Umständen Verluste auf der eigenen Seite vermeiden und greife daher zu um so größerer Feuerkraft, dann wird damit der rassistischen Ansicht stattgegeben, daß das Leben eines Israelis, wie es dem tatsächlichen Verhältnis der Opferzahlen entspricht, hundert Mal so viel Wert ist wie das eines Palästinensers.

Der asymmetrische Charakter dieses Krieges hat nur einen Verwendungszweck - er kann nicht zur Legitimation, sondern nur zur Verurteilung der dafür verantwortlichen Politiker und Generäle herangezogen werden. Die israelische Regierung hat einen Anschlag auf die Bevölkerung des Gazastreifens begangen, zu dessen Rechtfertigung sie es zwar an Gründen nicht hat mangeln lassen, über deren Haltlosigkeit jedoch ebensowenig Zweifel bestehen wie über das Ausmaß der angerichteten Zerstörungen. Der DLF-Journalist Verenkotte, dessen Berichterstattung über das Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern auf respektable Weise mit dem in vielen Zeitungen und Sendern herrschenden Konsens über die einseitige Fürsprache für Israel bricht, liefert mit einer Aussage des Palästinensers Fa'id Abraheem al Daya eine der plausibleren Erklärungen über das strategische Ziel dieses Krieges:

"Israel habe jetzt eine zweite Nakba durchgeführt, um den heute lebenden palästinensischen Generationen unmissverständlich klar zu machen, dass sie ihre völkerrechtlichen Ansprüche auf die Räumung der besetzten Gebiete und einen eigenen Staat auf lange Zeit vergessen könnten und sie allenfalls mit einem rudimentären Restgebilde rechnen dürften."
(Deutschlandfunk, 29.01.2009)

31. Januar 2009