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KRIEG/1323: Schwerbewaffneter Sozialkampf in Afghanistan (SB)



Zweifellos ist der afghanischen Bevölkerung nicht zu wünschen, erneut unter die Herrschaft der Taliban zu geraten. Daß die Aktivitäten der NATO dazu geeignet wären, dies zu verhindern, wird jedoch mit jedem militärischen Erfolg der vielen Milizen, die gegen die ausländischen Besatzer kämpfen, unwahrscheinlicher. Das liegt nicht zuletzt daran, daß der Anspruch der NATO, besser als die einheimische Bevölkerung zu wissen, was gut für sie ist, geradezu eine Ausschreibung zu seiner tätigen Widerlegung darstellt.

Wenn der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier beim Besuch zweier verletzter Bundeswehrsoldaten in Mazar i-Sharif erklärt, "die Feinde Afghanistans schrecken auch vor kaltblütigem Mord nicht zurück", dann beansprucht er, im Namen des Landes und seiner Bevölkerung zu sprechen. Er folgt damit der klassischen Kolonialstrategie, sich mit einer ausgewählten Gruppe einer Bevölkerung zu verbünden und allen anderen das Recht abzuerkennen, im Namen ihres Landes zu handeln.

Wenn die afghanische Bevölkerung nicht minder, als sie von Gewalttaten einheimischer Kämpfer auf beiden Seiten der Front betroffen ist, von den Angriffen der NATO in Mitleidenschaft gezogen wird, dann ist Widerstand vorprogrammiert. Wen auch immer Steinmeier mit den "Feinden Afghanistans" meint, so kann dieser Versuch, die NATO als Freund des Landes darzustellen, in der Bevölkerung kaum auf Resonanz treffen. Sie leidet nicht nur unter der Brutalität der diversen bewaffneten Akteure, sie ist zudem völlig verarmt und in einem katastrophalen Ausmaß von Hunger betroffen, wie die Angabe des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) vom Februar belegt, laut der in ganz Afghanistan 2009 knapp neun Millionen Menschen mit Nahrungsmitteln unterstützt werden müssen.

Ginge es den Besatzern tatsächlich um das Wohl der Menschen, dann wäre humanitäre Hilfe in großem Stil das vordringliche Anliegen ihrer angeblichen Befriedungsbemühungen. Der Abschlußerklärung des NATO-Gipfels am 4. April in Strasbourg ist zum Thema Afghanistan jedoch an erster Stelle zu entnehmen, daß "unsere Sicherheit eng mit der Sicherheit und Stabilität Afghanistans verbunden ist". Was die NATO an militärischen und zivilen Mitteln am Hindukusch einsetzt, ist der Bevölkerung des Landes nur insofern zugedacht, als es den Staaten der Besatzer nützt.

Das vorgebliche, von Steinmeier aufgegriffene Ziel "Nie wieder darf Afghanistan der Hort für weltweit agierenden Terrorismus werden" basiert auf dem allerdings sehr fragwürdigen Konstrukt, daß es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Land und in der westlichen Welt begangenen Anschlägen gibt, der nichts damit zu tun hat, daß die USA und ihre Verbündeten es erobert und besetzt haben. Nur wenn nachgewiesen werden könnte, daß die Taliban und die von ihnen geduldeten arabischen Mujahedin direkt daran beteiligt gewesen wären, Attentäter in westliche Staaten zu schicken, ohne daß diese sich ihrerseits aggressiver Handlungen schuldig gemacht hätten, träfe die Unterstellung vom "Hort des Terrorismus" überhaupt zu. Doch auch in dem Fall wäre darüber nachzudenken, ob nicht ganz normale Polizeiarbeit ein weit geeigneteres Mittel zur Verhinderung von Anschlägen wäre als eine militärische Invasion, die in einen langwierigen Krieg gegen Einheimische mündet, die die Okkupation ihres Landes nicht akzeptieren. Wenn nicht der Nachweis erbracht wird, daß der offensive Übergriff der NATO auf Länder jenseits des eigenen Bündnisgebiets keine Vergeltungsakte provoziert, das Vorgehen also die Gefahr von Anschlägen innerhalb des zu verteidigenden Raums erhöht, anstatt sie zu verringern, dann fällt das antiterroristische Legitimationskonstrukt für diesen Krieg in sich zusammen.

Obgleich diese Überlegungen tausendfach durchgespielt wurden, die Frage der völkerrechtlichen Legitimation nicht einmal mehr gestellt wird und acht Jahre Krieg in Afghanistan die Plausibilität der These bestätigt haben, daß militärische Gewalt Gegengewalt erzeugt, rezitieren die Regierungen der NATO-Staaten das Mantra des Terrorkriegs völlig ungerührt von seiner inhaltlichen Haltlosigkeit. Dies verrät - zumindest im Bereich der Vorwandslage - eine Konzeptionslosigkeit, die auch mit dem Beschwören neuer Formen der zivil-militärischen Zusammenarbeit nicht wettgemacht wird.

Derartige Innovationen dienen wie der gesamte Kriegseinsatz der NATO der Ausbildung strategischer Fähigkeiten, mit denen man im nächsten Einsatz hofft, die angestrebten Ziele schneller erreichen zu können. "Sicherheit und Stabilität" lesen sich im Klartext als Unterwerfung Afghanistans unter die handels- und ordnungspolitischen Vorgaben der Besatzer, die ihrerseits inmitten einer systemischen Krise stecken, die die Adaption ihrer Vorstellungen auf andere Länder noch kontraproduktiver erscheinen läßt als bisher schon. Was für eine Wirtschaftsordnung hat die "internationale Gemeinschaft", sprich die kapitalistische Staatenwelt westlichen Zuschnitts, den Afghanen denn anzubieten? Wenn sie das Modell übernehmen sollen, das in seinen Ursprungsländern Anlaß zu wachsender Wut über die räuberischen Praktiken seiner Sachwalter ist, dann steuert die NATO erst recht auf eine Eskalation der Entwicklung zu.

"Sicherheit und Stabilität" stehen für die dauerhafte Etablierung einer Regierung in Kabul, der gegenüber die Besatzer weisungsbefugt sind und die alle Kräfte abwehrt, die eine gegen die NATO definierte Politik verfolgen. Die dazu aufgebauten einheimischen Streitkräfte und Polizeikräfte sollen eines Tages die Rolle der NATO einnehmen und einen Bürgerkrieg fortsetzen, der durch die Einmischung äußerer Kräfte nichts an mörderischer Intensität verloren hat. Währenddessen sehen immer mehr Politiker aus NATO-Staaten ein, daß Freiheit und Demokratie nach westlichem Vorbild in dem Land ohnehin nicht durchzusetzen sind, sprich daß man sich noch mehr als bisher auf die militärische Durchsetzung der eigenen Interessen konzentrieren soll.

Mit der sich in den NATO-Staaten verschärfenden sozialen Lage wird immer unwahrscheinlicher, daß den notleidenden Afghanen auf großzügige Weise geholfen wird. Statt dessen leiden sie unter einer besonders blutigen Form der Krisenbewältigung, die niemanden satt macht außer den Profiteuren des dadurch verteidigten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. In den Metropolen des Imperiums Sozialausgaben zu kürzen und in der Peripherie teure Kriege zu führen ist ein allerdings typisches Beispiel für den Zusammenhang von äußerer und innerer Herrschaftsicherung.

Ob die Angriffe auf die Bundeswehrsoldaten seit längerem geplant waren oder nicht, ist nicht so bedeutsam, wie die Mehrheitsmedien suggerieren. Die Afghanen haben in mehr als einem Krieg gegen fremde Eindringlinge bewiesen, daß sie über einen sehr langen Atem verfügen und auf dem Gefechtsfeld durchaus dazulernen können. Als "systemrelevant" erweist sich die Absicht der NATO, diesen Krieg zum Ausweis eigener militärischer Schlagkraft zu machen und ihn zum bitteren Ende weiterzuführen, wenn man ihn als Regulativ des Sozialkampfs in Afghanistan wie in den NATO-Staaten selbst begreift. Während Millionen Menschen in existentielle Nöte getrieben werden und der Kapitalismus eine tiefe Legitimationskrise erleidet, wird an den Taliban ein Exempel kapitalistischer Überlegenheit statuiert. Damit wird den Menschen in der EU und den USA demonstriert, mit wem sie sich anlegen, wenn sie sich dem Glauben, "Sicherheit und Stabilität" seien etwas anderes als Chiffren für autoritäre staatliche Verfügungsgewalt, nicht unterwerfen.

30. April 2009