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KRIEG/1373: NATO entlastet Bundeswehr ... auf zu neuen Offensiven! (SB)



Nichts Neues zu vermelden hatte der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, Ulrich Kirsch, als er erklärte, daß in Afghanistan Krieg herrsche. Das gelte auch für die Region Kundus, denn "da wo wir jeden Tag Kampf und Gefechte erleben, wo Tod und Verwundung dazugehört, wo unsere Kameraden töten müssen, da ist Krieg" (NATO/ddp 29.10.2009). Daß die "Kameraden töten müssen" scheint Kirsch ein nicht weiter zu hinterfragender Auftrag zu sein, so daß er sich ungeteilt der Forderung widmen kann, die Truppen in Afghanistan für diesen Zweck besser zu bemitteln, indem sie etwa mit der Panzerhaubitze ausgestattet werden. Daß diese Distanzwaffe dazu diente, sich "wehren" zu können, liegt ganz auf der Linie der Argumentation, laut der die Bundesrepublik am Hindukusch gegen den Terrorismus verteidigt wird.

Diese Standardhaubitze der Bundeswehrartillerie ist alles andere als eine Art Feldgeschütz, mit dem man sich einen angreifenden Gegner vom Leibe hält. Die hochmobile Panzerhaubitze 2000 kann ihre 155-Millimeter-Granaten auf 40 Kilometer mit einer Abweichung von nur zwölf Metern verfeuern, wobei sich die Zielgenauigkeit bei geringeren Distanzen entsprechend verbessert. Mit einem besonderen Verfahren kann sie sechs Granaten so abschießen, daß sie zeitgleich ins Ziel einschlagen. Es handelt sich also um eine ausgemachte Angriffswaffe, mit der Stellungen der Taliban angegriffen werden können, die weit außer Sicht liegen. Im Grunde genommen unterscheidet sich ein solcher Beschuß nicht wesentlich von einem Bomben- oder Raketenangriff aus heiterem Himmel, der den Gegner unvorbereitet treffen und so maximalen Schaden anrichten soll.

Was der Einsatz einer solchen Distanzwaffe in Afghanistan, die dort bereits von den niederländischen Besatzungstruppen verwendet wird und nach der auch andere deutsche Militärs verlangen, für die vorgebliche Absicht bedeutet, unter der afghanischen Bevölkerung Sympathien für die Bundeswehrsoldaten zu wecken, ist leicht ersichtlich. Der von einem deutschen Oberst befohlene Luftangriff auf zwei Tanklastzüge in der Nähe des deutschen Feldlagers bei Kundus Anfang September hat angesichts der zivilen Opfer, die dabei starben, bereits dafür gesorgt, daß eventuell in der Wahrnehmung der örtlichen Bevölkerung noch vorhandene Unterschiede zwischen deutschen und US-amerikanischen Besatzungstruppen weitgehend verschwunden sind. Je aggressiver die Bundeswehr vorgeht, desto eindeutiger wird sie als Besatzer identifiziert, den das Gros der Afghanen lieber heute als morgen abziehen sehen würde.

Die nun von einem Untersuchungsbericht der NATO geleistete Exkulpation der Bundeswehr, die laut Stellungnahme des Generalinspekteurs Wolfgang Schneiderhan angesichts der schwierigen Lage "in operativer Hinsicht" militärisch angemessen gehandelt hat, trägt nicht dazu bei, den angeblich menschenfreundlichen Charakter der deutschen Kriegführung in Afghanistan zu bestätigen. Daß der damals zuständige Kommandant der Bundeswehr, Oberst Georg Klein, laut seinem Vorgesetzten die Lage richtig beurteilt habe und sogar davon ausgehen konnte, daß bei dem Luftangriff keine Unbeteiligten zu Schaden kämen, war als Ergebnis der Untersuchung einer Kriegspartei, die die eigene Vorgehensweise nach Kräften rechtfertigt, nicht anders zu erwarten.

Wenn die NATO zudem erklärt, sie habe die Zahl der Opfer nicht mehr genau ermitteln können, und eine mögliche Bandbreite zwischen 17 und 142 Menschen in Anspruch nimmt, wenn sie die Zahl von 30 bis 40 getöteten und verletzten Zivilisten lediglich als Möglichkeit zugesteht, dann kann an der verharmlosenden Absicht des Berichts kein Zweifel bestehen. Sicher ist jedenfalls, daß die Unterstellung, die entführten Tanklastzüge hätten für einen Angriff auf Stellungen der Bundeswehr verwendet werden sollen, pure Spekulation bleibt. Ebensogut möglich ist, daß man den Taliban unter Schonung eigener Kräfte, die die Verfolgung der aus der Luft observierten LKWs hätten aufnehmen können, die in einem Flußbett festgefahrene Kriegsbeute auf jeden Fall wieder abjagen wollte, um weitere Angriffe auf eine wichtige Nachschubroute der NATO entschieden zu unterbinden. Zu behaupten, der zuständige Offizier hätte bei Nacht davon ausgehen können, daß ein Luftangriff auf zwei Tanklastzüge voller Benzin, das abzuzapfen eine naheliegende Absicht der im Umkreis lebenden bettelarmen Bevölkerung war, ohne Schädigung von Zivilisten erfolgt, spricht für rücksichtslose Ignoranz deutscher Militärs im Umgang mit der Zivilbevölkerung.

Die Mahnung Schneiderhans, man dürfe den "Vorfall" nicht isoliert betrachten, da es in den vorherigen Monaten zu diversen Angriffen auf die ISAF gekommen sei, bei denen Lastwagen und Tanklaster verwendet worden seien, ändert nichts an der unbeantwortet bleibenden Frage, wieso die Bundeswehr, wenn sie schon meint, diese potentielle Waffe unschädlich machen zu müssen, dies nicht mit Bodentruppen getan hat. Die LKWs steckten fest und bewegten sich stundenlang vor dem Bombardement nicht von der Stelle, so daß es für eine hochgerüstete Besatzungsmacht kaum unmöglich gewesen sein kann, eine entsprechende Einheit zusammenzustellen und mit der Rückeroberung oder Zerstörung der Tanklastzüge zu beauftragen.

Signifikant für die Bereitschaft der Bundesregierung, in Afghanistan auf aggressive Weise einen konventionellen Kolonialkrieg zu führen, ist die bei diesem Luftangriff zum Einsatz gelangte Präventivdoktrin. Der bislang den Bundesbürgern als betont defensiv verkaufte Charakter des sogenannten Schutzauftrags der Bundeswehr in Afghanistan wurde mit dem Einsatz von Kampfbombern gegen ein Ziel, von dem keine unmittelbare Gefahr für deutsche Soldaten oder afghanische Regierungstruppen ausging, endgültig widerlegt. Die dort im Speziellen wie ganz allgemein bei der Besetzung Afghanistans zur Anwendung gelangende Präventivlogik hat nicht umsonst zur Legitimation des Terrorkriegs Orwellsche Begriffschöpfungen wie "Vorwärtsverteidigung der Freiheit" hervorgebracht.

Im Kern handelt es sich um eine Aggressionsdoktrin, deren verwinkelte Legitimationskonstrukte und ideologische Überhöhung nichts daran ändert, daß es Soldaten der NATO sind, die Afghanistan besetzen und eine aus dem Land stammende, mit dem Begriff der Taliban in ihrer regionalen, ethnischen und ideologischen Differenziertheit höchst unzureichend dargestellte Widerstandsbewegung bekämpfen. Es sind mit Raketen bewaffnete Drohnen der USA, die in Afghanistan und Pakistan Tod und Zerstörung unter der Zivilbevölkerung säen, obwohl die USA im Nachbarland keinen wie auch immer gearteten Auftrag besitzen, dort militärisch aktiv zu werden.

Wenn der scheidende Verteidigungsminister Franz Josef Jung erklärt, daß Bundeswehrsoldaten, die im Auftrag Deutschlands im Ausland "tätig" seien, nicht mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen konfrontiert werden dürften, und dies auch "ausdrücklich für Oberst Klein" verstanden wissen will, dann gesteht er ein, daß der Luftangriff vom 4. September durchaus Anlaß böte, strafrechtlich verfolgt zu werden. Nach rechtlicher Immunität für deutsche Angriffskrieger zu verlangen ist die logische Konsequenz der Ausweitung des grundgesetzlichen Verteidigungsauftrags auf die ganze Welt.

Angesichts jüngster Berichte über die Absicht der US-Regierung, den Versuch, Afghanistan in der Fläche zu kontrollieren, aufzugeben und sich mit personell deutlich verstärkten Kräften auf die zehn größten Bevölkerungszentren des Landes zu konzentrieren, ist von verstärktem Einsatz von Distanzwaffen wie Kampfbombern, Drohnen und Artillerie auszugehen. Das Land in gutbewachte urbane Zentren und ein weitgehend den Widerstandsgruppen überlassenes Territorium aufzuteilen läuft, da man diesen keineswegs den Aufbau administrativer Parallelstrukturen zugestehen wird, auf eine aus dem Vietnamkrieg bekannte Strategie hinaus. Große Teile des Landes werden zu freien Feuerzonen erklärt, in denen nach Belieben Jagd auf "Aufständische" gemacht werden kann. Wer sich an solchen Strategien beteiligt, braucht keine Rechtsversicherung, weil sich die Frage der Legalität ohnehin nicht mehr stellt.

29. Oktober 2009