Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

KRIEG/1486: NATO steuert Ausweitung des Bodenkriegs in Libyen an (SB)



Die legalistische Rechtfertigung von Angriffskriegen zur Zerschlagung staatlicher Entitäten, Beseitigung unerwünschter Gesellschaftsordnungen und Regierungen sowie großräumigen regionalen Zugriffssicherung zum Zweck ungehinderter kapitalistischer Verwertung und hegemonialer Okkupation kann als Speerspitze neoimperialistischer Herrschaftssicherung ausgewiesen werden. Seit dem proklamierten Ende der Konfrontation konkurrierender Gesellschaftsentwürfe bedarf es westlicherseits neu definierter Feindbilder und Interventionsvorwände, um die profane Sicherung der Ressourcen mit dem Deckmantel humanitärer Missionen zu kaschieren und zu flankieren. Der selektiv angemahnte Schutz von Menschenrechten und zivilgesellschaftlichen Entwicklungsoptionen befördert im Dienst dieser strategischen Doktrin die Anwendung selbstmandatierter Zwangsmittel der westlichen Führungsmächte, die über die vielfach erprobte und zunehmend komprimierte Abfolge wirtschaftlicher Sanktionen und politischer Delegitimationsverfahren in vorab konzipierte militärische Operationen zur letztendlichen Durchsetzung der Zielvorgaben münden.

Längst verdichten sich die Hinweise, daß der Regimewechsel in Libyen seit dem gescheiterten Luftschlag gegen Gaddafi in der Reagan-Ära ein lediglich aufgeschobenes, aber nie aufgegebenes Vorhaben blieb. Die weitreichende Unterwerfung der Regierung in Tripolis wie insbesondere der erklärte Verzicht auf die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen und die Zusammenarbeit mit Europa bei der vorgelagerten Abwehr von Flüchtlingen hatte zwar aufschiebende Wirkung, doch tilgte sie niemals die Schuld unbotmäßiger Bestrebungen der Vergangenheit wie auch der vom Westen nicht hingenommenen Bestände verstaatlichter Industrien und sozialer Errungenschaften. Offenbar terminierten London und Paris bereits im Spätherbst 2010 die Manöverlage zum Sturz der libyschen Führung für das Frühjahr 2011, um diese durch ein Regime zu ersetzen, das künftig eine reibungslose Umsetzung der Einvernahme Nordafrikas garantieren sollte.

Wie sich jedoch herausstellte, lassen sich tiefgreifende Umwälzungen, die in anderen arabischen Staaten von weiten Teilen der Bevölkerung getragen oder zumindest gutgeheißen werden, nicht taktisch simulieren und problemlos auf die libysche Gesellschaft übertragen. Vieles deutet darauf hin, daß es sich im Kern um einen von langer Hand und mit westlicher Unterstützung implementierten Putschversuch handelt, der sich einer vordergründigen Gleichsetzung mit den Erhebungen in den Nachbarländern bedient, ohne über deren Verankerung und mithin Wirkmacht zu verfügen.

Was augenscheinlich als zügig abgewickelter Staatsstreich unter dem Deckmantel einer vorgeblichen Demokratiebewegung konzipiert war, erwies sich als Fehleinschätzung, die zu übertünchen und wettzumachen selbst brachiale militärische Mittel bislang nicht geeignet waren. Geheime Einsatzkommandos, die geeignete Ziele erkundeten und markierten, die durchgepeitschte Flugverbotszone und die seither geführten Luftschläge vermochten die Streitkräfte der libyschen Regierung zu schwächen, konnten aber deren Gegenoffensive nicht verhindern. Das aktuelle Dilemma der angreifenden Mächte, an die Grenzen des Luftkriegs zu stoßen, doch den Bodenkampf zu fürchten, ist indessen nicht allein das Resultat vom Dünkel westlichen Überlegenheitsdenkens geblendeter Politiker und Militärs.

Die Aufrechterhaltung der Doktrin, man interveniere zum Schutz der Zivilisten, die andernfalls vom Regime massakriert würden, erlaubt zunächst keine blutigen Kämpfe großen Stils, in deren Verlauf dramatisch steigende Opferzahlen in der Zivilbevölkerung als unmittelbare Folge westlicher Kriegführung deren Propagandakonstrukt obsolet machten. Wenngleich die Kriegsbegeisterung in einigen Ländern wie insbesondere Frankreich und England zunächst hohe Wogen schlug, da man sich am erwarteten Blitzsieg berauschte, der mit dem Signum bürgerlicher Rechtschaffenheit abgesegnet schien, bekommen die Menschenrechtskrieger inzwischen kalte Füße, da allen vor einem Feldzug mit unabsehbaren Ende graut.

"Wie lange wird es dauern, bis der Premierminister vorschlägt, britische Bodentruppen zu entsenden, um seine Ziele in diesem immer weiter ausufernden Konflikt zu erreichen?", fragt die konservative Daily Mail. "Dies ist ein gefährlicher Moment für Mister Cameron", schreibt der konservative Daily Telegraph besorgt. "Wir stehen vor einem militärischen Einsatz mit offenem Ende, der darauf hinauslaufen könnte, dass Bodentruppen in ein weiteres riskantes Auslandsabenteuer verstrickt werden." [1]

"Zu Anfang schreit man immer 'Freiheit oder Tod'", schreibt das französische Magazin Le Nouvel Observateur, "und dann überrascht man sich dabei, vergeblich nach dem Gesicht der Revolution zu suchen." Bei seinem Auftritt auf der NATO-Konferenz in Berlin warnte Außenminister Alain Juppé, der militärische Einsatz könne nicht "unendlich" dauern. Am Ende müsse es eine politische Lösung geben. Die Aussicht auf ein zweites Afghanistan im Maghreb läßt die Zustimmung der politischen Klasse für die "humanitäre Intervention" bröckeln. "Erst Verstrickung, dann Uneinigkeit und schließlich Niederlage", warnt Le Monde, "dahin führt eine solche Verkettung von Ereignissen." [2]

Zwangsläufig wird nun über den offenen Einsatz von Bodentruppen spekuliert, obgleich allen klar ist, daß eine Invasion Libyens ein eindeutiger Bruch der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats wäre. In Berlin wich NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen der Frage aus, ob die Allianz mit den Rebellen auch auf militärischem Gebiet zusammenarbeite. Er räumte zwar Kontakte zur Opposition ein, verwies aber die militärische Taktik in die Zuständigkeit der libyschen oppositionellen Gruppen. Inzwischen verlegt man sich darauf, Ausbilder nach Libyen zu entsenden, die die Aufständischen unterweisen sollen. London schickt eigenen Angaben zufolge bis zu 20 Militärexperten zum oppositionellen Nationalrat in Bengasi. Die französische Regierung hat einige Verbindungsoffiziere zur Beratung der Rebellen entsandt, die angeblich der Koordinierung der humanitären Hilfe dienen sollen. Italiens Verteidigungsminister Ignazio La Russa legt mit zehn Militärberatern nach. Libyens Außenminister Abdelati Laabidi erklärte dazu, die Präsenz ausländischer Berater verlängere nur den Konflikt. [3]

Allein am gestrigen Tag sind nach Angaben der amtlichen Nachrichtenagentur Jana bei einem Angriff von NATO-Kampfflugzeugen nahe der Hauptstadt Tripolis sieben Zivilisten getötet und 18 weitere verletzt worden. [4] Sieht so der vielbeschworene Schutz der libyschen Zivilbevölkerung aus? Der Kommandeur des internationalen Militäreinsatzes, General Charles Bouchard aus Kanada, hat die Bürger Libyens aufgefordert, sich im eigenen Interesse so weit wie möglich von den Streitkräften der Regierungstruppen fernzuhalten. "Indem sie dies tun, ermöglichen sie es der NATO, Truppen und Ausrüstung mit größerem Erfolg und geringerem Risiko für Zivilisten zu treffen." Man bemühe sich zwar, beim Angriff auf militärische Ziele die Gefahr für Zivilisten so gering wie möglich zu halten, könne das Risiko aber nicht auf Null reduzieren. [5]

Diese Aufforderung ist an Zynismus kaum zu überbieten, verlangt sie doch der Bevölkerung im Kriegsgebiet eine unmöglich zu bewerkstelligende Handlungsweise ab und lastet ihr überdies die Verantwortung für Schaden an Leib und Leben auf. Die Bezichtigung, die Regierungsstreitkräfte versteckten Soldaten und Waffen absichtlich in unmittelbarer Nähe der Zivilbevölkerung, gipfelt in der Behauptung General Bouchards im kanadischen Fernsehsender CBC, die libysche Armee stationiere ihr verbliebenes schweres Gerät in der Nähe von Schulen, Krankenhäusern und Moscheen. Die Soldaten versteckten sich als Zivilisten verkleidet in der Nähe solcher Einrichtungen und eröffneten von den Dächern aus das Feuer, wobei sie Frauen und Kinder als Schutzschilde mißbrauchten.

Sollte etwas Wahres an diesen Vorwürfen sein, so beschreibt der Kommandeur des internationalen Einsatzes das Szenario eines Guerillakriegs in den umkämpften Städten, den die NATO den weit unterlegenen libyschen Streitkräften mit ihren Luftangriffen aufgezwungen hat. Bestehen die Angriffsmächte darauf, Muammar al-Gaddafi zu stürzen und einen Regimewechsel herbeizuführen, ist dieses Ziel allenfalls mit einer langen Bodenkampagne zu erreichen, die nicht nur gegen die libysche Führung, sondern gegen die gesamte Bevölkerung geführt wird, die diesen Angriffskrieg mit zahllosen Opfern zu bezahlen hätte.

Anmerkungen:

[1] Nato-Einsatz in Libyen. Angst vor einem zweiten Afghanistan (19.04.11)
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,758032,00.html

[2] ebenda

[3] Rebellen in Libyen bitten Westen um Entsendung von Bodentruppen. Paris, London und Rom schicken Militärberater nach Bengasi (21.04.11)
http://www.abendblatt.de/politik/ausland/article1864205/Rebellen-in-Libyen-bitten-Westen-um-Entsendung-von-Bodentruppen.html

[4] Sieben Zivilisten bei NATO-Angriff in Libyen getötet (21.04.11)
http://www.stern.de/news2/aktuell/sieben-zivilisten-bei-nato-angriff-in-libyen-getoetet-1676917.html

[5] Nato fordert Libyer auf: Distanz zum Militär halten (20.04.11)
http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1143708

21. April 2011