Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

KRIEG/1527: NATO feiert den gerechten Sieg ... Kollateralschäden inklusive (SB)



"Mission Accomplished" ... auch wenn NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen nicht die legendäre Parole wählte, mit der US-Präsident George W. Bush die Eroberung des Iraks am 1. Mai 2003 im Vorgriff auf ein bis heute anhaltendes Blutbad feierte, verstieg er sich zu dessen rhetorischem Triumphalismus. Die sogenannte Mission sei "eine der erfolgreichsten der Geschichte der NATO", bilanzierte Rasmussen den am 19. März 2011 begonnenen Überfall auf den souveränen Staat Libyen, dessen Führung das Militärbündnis am 22. März 2011 unter dem Operationstitel Unified Protector übernahm. Geschützt werden sollte eine Bevölkerung, die mit mutmaßlich 30.000 bis 50.000 Toten, noch mehr Verletzten, der umfassenden Zerstörung diverser Städte und einem erheblichen Souveränitätsverlust den Preis für eine Waffenhilfe zu entrichten hat, nach der diejenigen gefragt haben, die sich nun als neue Machthaber in Szene setzen. Objektiv geschützt wurden die strategischen und wirtschaftlichen Interessen der Aggressoren, die nun über eine weit pflegeleichtere Administration in Tripolis verfügen, als es zu Zeiten des Obersten Gaddafi je der Fall sein konnte. Ungeschützt hingegen bleiben die zahlreichen Anhänger der bisherigen Regierung, die erheblicher Verfolgung durch die sogenannten Rebellen ausgesetzt sind.

Im Drehbuch der Aggressoren klafft beim heftigen Widerstand, der den Truppen des Übergangsrat aus den Städten Sirte und Bani Walid entgegenschlug, eine Lücke. Wieso haben sich die dort gesammelten Kämpfer nicht ergeben, sondern sich mit aller verbliebenen Kraft den Angreifern entgegengestellt? Die Antwort darauf ist den angeblichen Racheakten zu entnehmen, denen die Anhänger Gaddafis nach ihrer Niederlage ausgesetzt sind. Die Verteidigung dieser Städte erfolgte auch deshalb mit großer Entschlossenheit, weil die nach ihrer Einnahme begangenen Greueltaten vorprogrammiert waren. Zudem wird gerne übergangen, daß es sich bei den Verteidigern Sirtes und Bani Walids zu einem Großteil um Schwarze handelt, von deren Verfolgung und Mißhandlung durch die sogenannten Rebellen man seit Beginn des Krieges weiß. Insbesondere die Bewohner der Stadt Tawergha, die zu einem besonders hohen Prozentsatz von Schwarzen bewohnt wurde, waren laut einem Bericht der US-Menschenrechtsorganisation HRW [1] schwerwiegenden Nachstellungen ausgesetzt. Wenn Barack Obama in den USA den Ku Klux Klan unterstützte, wäre mit einer gewissen Empörung professioneller Bedenkenträger zu rechnen. Wenn die NATO-Regierungen sich in Libyen für die Interessen ausgemachter Rassisten verwenden, dann ist es nur ein weiterer Kollateralschaden an einer Herrschaftsmoral, an der nicht mehr viel zu zerstören ist.

HRW befürchtet, daß diese Racheakte das "Ziel der libyschen Revolution" gefährdeten [1]. Diese Sorge wirkt angesichts der bereits verübten Massaker insbesondere in der lange belagerten Stadt Sirte, wo vermutlich Hunderte von Loyalisten der libyschen Regierung ermordet wurden, und der Abhängigkeit, in die sich der Nationale Übergangsrat gegenüber der NATO begeben hat, zynisch. Sie zeigt, daß das Projekt des Regimewechsels, um den es den NATO-Staaten von Anfang an ging, alles andere als eine Revolution ist, so damit die soziale Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung zu verstehen ist. In Libyen wurde mit Hilfe von 26.300 Lufteinsätzen der NATO, bei denen 9600 Angriffe geflogen und fast 6000 Ziele bombardiert wurden, die Etablierung einer neokolonialen Ordnung vorbereitet. Welchen Erfolg sonst sollte der NATO-Chef meinen?

Wenn in den PR-Stäben westlicher Regierungen gerechte Kriege propagiert und diese auf den Großbildschirmen der Kriegsmedien als buntrevolutionäre Scharaden illuminiert werden, dann handelt es sich um ein Produkt kulturindustrieller Irreführung, mit dem über die an die Oberfläche drängenden Sozialkonflikte in den eigenen Ländern hinweggetäuscht werden soll. Es ist allemal leichter, in der EU-Peripherie aus sicherer Höhe Menschen umzubringen, als auf dem harten Boden der eigenen Gesellschaften Not und Armut zu bekämpfen. So wird die EU-Bevölkerung mit dem Subtext, Gaddafi habe "unser Öl" unberechtigterweise zum Vorteil der libysche Volkswirtschaft eingesetzt, anstatt es den Zentren innovativer Produktivität in Europa zu Sonderkonditionen zur Verfügung zu stellen, dazu genötigt, auch die erbärmlichsten Kriegsvorwände für bare Münze zu nehmen. Andernfalls könnte sie auf den Gedanken kommen, daß in Libyen nicht Freiheit und Demokratie verteidigt, sondern soziale Rechte vernichtet wurden.

Die Massendemonstrationen, zu denen es nach Kriegsbeginn in Tripolis zugunsten Gaddafis kam, waren Ausdruck einer Zustimmung, die sich in den Erhebungen diverser UN-Organisationen über die positive Entwicklung der Sozialindikatoren in Libyen spiegeln. Eine Lebenserwartung auf europäischem Niveau, eine ausgesprochen niedrige Säuglingssterblichkeit, die höchste Rate an Alphabetisierung und Hochschulabgängern Nordafrikas, kostenlose Gesundheitsversorgung, eine im Vergleich zu anderen islamischen Gesellschaften weitreichende Gleichberechtigung der Frauen - die Libyer hatten einiges zu verlieren, was sie mit friedlichen politischen Reformen möglicherweise hätten erhalten können. Daß diese zu Beginn der libyschen Protestbewegung beabsichtigt waren, ist ebenso zutreffend wie die schnelle Okkupation des demokratischen Aufbegehrens durch Führer, die zum Teil hohe Positionen im Gewaltapparat der libyschen Regierung innehatten oder aus Organisationen stammen, deren autoritärer Charakter mit dem Anliegen der jugendlichen Protestbewegung, die sich explizit gegen eine militärische Intervention aussprach, nichts gemein hatte.

So ist nicht zu erwarten, daß sich mit rachsüchtigen Milizionären, die Schwarze hassen, die Gräber schänden, wie es im Falle der Mutter und Großmutter Gaddafis geschehen sein soll [2], die den geschändeten Körper ihres Feindes wie eine Trophäe vorführen, nachdem sie ihn zuvor möglicherweise gepfählt haben [3], die Frauen auf ihren angeblich gottgegebenen Platz zurückverweisen wollen, eine Gesellschaft errichten läßt, die die demokratischen und menschenrechtlichen Mängel der vorherigen überwindet. Wer sich heute in Libyen als Anhänger des von Gaddafi initiierten Gesellschaftssystems zu erkennen gibt, muß das Schlimmste befürchten. Von daher bleiben diejenigen Libyer, die die neuen Herren fürchten, in der Deckung. Davon auszugehen, daß nun eine Zeit des Friedens, der Demokratie und Gerechtigkeit anbricht, könnte unter diesen Bedingungen nicht abwegiger sein.

Auf Zeit Online [4] wird unter dem Titel "Dieser Krieg war gerecht" unter anderem mit der Behauptung Bilanz gezogen: "Nach allem, was man weiß, sind das vereinzelte Aktionen und in ihrem Ausmaß absolut nicht zu vergleichen mit der Repression des Regimes, das nun gestürzt worden ist. Solche Racheaktionen stellen auch nicht per se eine humanitäre Intervention infrage." Kollateralschäden allerorten, so auch in den Redaktionen deutscher Zeitungen, die dem FDP-Außenminister immer noch nicht verziehen haben, beim fröhlichen Siegen nicht mit von der Partie gewesen zu sein. Man darf sich auf weitere Kriege unter tatkräftiger Beteiligung mit Gewinnaussichten gedungener Fußtruppen einstellen, denn repressive Regimes gibt es überall auf der Welt. Nicht zuletzt dort, wo der Hort besagter Gerechtigkeit vermutet wird, denkt man etwa an den Justizmord an Troy Davis, an die jahrelange Isolationsfolter in Hochsicherheitstrakten, an den Hunger von Millionen im Angesichte luxuriösen Reichtums, und, nicht zu vergessen, an die Kriege gegen Länder des Südens.

Am 1. November ist der Kriegseinsatz der NATO in Libyen offiziell beendet. Sie hat sich dafür ein historisches Datum mit Ortsbezug ausgesucht. Der Fahrzeugkonvoi, in dem Oberst Gaddafi und seine Beschützer aus Sirte flohen, wurde von einem AWACS-Aufklärungsflugzeug entdeckt. Nach einer unbemannten Drohne, die mit den Angriffen auf die völlig wehrlosen Flüchtlinge begann, warfen Kampfjets Bomben auf den Konvoi ab und hinderten ihn damit an der Weiterfahrt, so daß die Milizen des Übergangsrats ihr blutiges Werk vollenden konnten. Diese hochentwickelte, bürokratischen Vorschriften wie dem Verbot des Beschusses fliehender Truppen vollständig entbundener Form von Luftkriegführung steht an der Schwelle zur totalen Automatisierung weltweiten Mordens nach Maßgabe der Global Strike-Doktrin. Das System sogenannter extralegaler Hinrichtungen in Pakistan ist nur ein Vorgeschmack auf eine Ermächtigungsjustiz, die am Beispiel des Libyenkriegs neue Rekorde symbolpolitischer Legitimation offener Rechtswillkür feiert.

Am 1. November 1911 warf der italienische Leutnant Giulio Gavotti vier modifizierte Handgranaten auf das Militärkrankenhaus Ayn Zara in der libyschen Wüste ab. Die Regierung in Rom bestritt dieses Kriegsverbrechen, nur um die Terrorisierung von Menschen aus der Luft schon in diesem Kolonialkrieg weiterzuentwickeln. Der von Mark Almond [5] geschilderte Beginn dieser Form der Kriegführung jährt sich auf eine Weise, die ahnen läßt, was mit der angeblichen Verteidigung der westlichen Zivilisation im Kern geschützt werden soll - der Primat absoluter Ermächtigung im Gewand wohlmeinendster Absichten.

Fußnoten:

[1] http://derstandard.at/1319181617502/Milizen-aus-Misrata-terrorisieren-Zivilisten

[2] http://www.stern.de/politik/ausland/tod-des-libyschen-ex-machthabers-gaddafi-wurde-offenbar-nicht-misshandelt-1745235.html

[3] http://www.cbsnews.com/8301-503543_162-20124758-503543/globalpost-qaddafi-apparently-sodomized-after-capture/

[4] http://www.zeit.de/2011/44/Libyen-Intervention/komplettansicht?print=true

[5] http://www.counterpunch.org/2011/04/05/100-years-of-bombing-libya/

31. Oktober 2011