Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


KRIEG/1659: Militarisierung der EU unter deutscher Führung (SB)



Die im Zuge der Wirtschafts- und Währungskrise etablierte ökonomische Vorherrschaft Deutschlands in Europa wird in zunehmendem Maße von einer Militarisierung der europäischen Politik unter deutscher Führung flankiert und gestützt. Es geht dabei über eine Ausweitung der Bundeswehreinsätze in Afrika wie auch im Nahen und Mittleren Osten hinaus um die Vorbereitung eines Krieges gegen Rußland, der auch Deutschland und Europa in ein Schlachtfeld verwandeln würde. In einem solchen Konflikt zwischen der NATO und Rußland träfen Atommächte aufeinander. Da Washington auf ein atomares Erstschlagsrecht besteht und Moskau warnt, man werde auf territoriale Angriffe mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln einschließlich des Atomwaffenarsenals reagieren, droht die nukleare Katastrophe mit weltweiten Vernichtungs- und Zerstörungsfolgen.

Die deutschen Ambitionen, durch den Auf- und Ausbau eigenständiger militärischer Kapazitäten Europa anzuführen und perspektivisch Augenhöhe mit den USA anzustreben, sind kein Geheimnis. Nachzulesen in Publikationen wie dem "Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr" oder "Neue Macht. Neue Verantwortung" der Stiftung Wissenschaft und Politik, wird eine von Berlin dominierte europäische Außen- und Verteidigungspolitik entworfen und eine massive Aufrüstung der Bundeswehr konzipiert. Angesichts der absehbaren und in Kauf genommenen Folgen aggressiver Expansion wird der Bevölkerung "Resilienz" abverlangt, wie dies im "Konzept Zivile Verteidigung", das Innenminister Thomas de Maizière jüngst vorgestellt hat, zum Ausdruck kommt. Robuste Leidensfähigkeit anstelle des ausgetriebenen Widerstandsgeistes gegen den Feind im eigenen Land wird auch an der Heimatfront dringen vonnöten sein.

Wenngleich hierzulande mit dem Ostausschuß der deutschen Wirtschaft, der Linkspartei und Teilen der SPD durchaus Stimmen zu vernehmen sind, die für engere wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Moskau plädieren, werden sie doch in den Hintergrund gedrängt. Auch auf europäischer Ebene schwinden vor allem seit dem britischen Ausscheiden aus der EU die Vorbehalte gegen eine gemeinsame Militarisierung des Kontinents, bei der sich die Bundesregierung als Hegemon etabliert. [1] Großbritannien begnügte sich angesichts seiner hohen militärischen Schlagkraft mit der NATO und der Ende 2010 intensivierten bilateralen Militärkooperation mit Frankreich, bremste aber eine gemeinsame europäische Hochrüstung aus. Nach dem Brexit eröffnet sich für die Protagonisten der Aufrüstung die Chance, insbesondere über eine Erhöhung des Bundeswehretats das strategische Potential unter deutscher Führung auszubauen. [2]

Die größte Kriegsgefahr zeichnet sich derzeit im Baltikum ab. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich am 24. August in Tallinn ausdrücklich zur Beistandspflicht gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrags im Falle eines Konflikts mit Rußland bekannt. Der estnische Ministerpräsident Taavi Rõivas dankte ihr auf einer gemeinsamen Pressekonferenz persönlich dafür, "dass sie eine Schlüsselrolle bei der Führung Europas durch die Krise" gespielt und den Kontinent "auch in den schwierigsten Augenblicken einig gehalten" habe. In einer Zeit, "in der Europa an Krisen leidet und vor wichtigen Entscheidungen steht", brauche man "ein Europa, das mehr wie Deutschland aussieht".

Den bellizistischen Worten hinken die Taten keineswegs hinterher, hat doch die Bundeswehr am 1. September wieder die Luftraumüberwachung der NATO über Estland, Lettland und Litauen übernommen. Im Rahmen des "Verstärkten Air Policing Baltikum" löst die Luftwaffe mit vier bis sechs Eurofightern auf dem estnischen Luftwaffenstützpunkt in Ämari turnusgemäß die britische Royal Air Force ab. Zeitgleich übt ein verlegefähiger Führungsgefechtsstand der Luftwaffe erstmals unter Einsatzbedingungen in Litauen und überwacht mit Radargeräten einen Teil des Luftraums. Die Übung ist Bestandteil der umfassenden NATO-Offensive Persistent Presence 2016.

Das mächtigste Militärbündnis der Welt treibt seinen Vormarsch bis an die russische Grenze und den Aufbau eines Raketenabwehrsystems in Osteuropa voran. Anfang Juli wurden auf dem NATO-Gipfel in Warschau weitere Kriegsvorbereitungen gegen Rußland beschlossen. Dazu gehört die Entsendung vier zusätzlicher Bataillone mit jeweils mindestens 1000 Soldaten in die baltischen Staaten und Polen, wobei Deutschland die Führung des Bataillons in Litauen übernimmt. Berlin hat eine Zusammenarbeit auch auf militärischem Gebiet mit Frankreich, Dänemark und Polen institutionalisiert und will künftig eine engere Zusammenarbeit mit weiteren osteuropäischen Staaten forcieren.

So hat Angela Merkel in der vergangenen Woche mit den Staats- und Regierungschefs von 15 EU-Staaten Gespräche geführt, in denen nicht zuletzt eine gemeinsame Militärpolitik thematisiert wurde. Die Kanzlerin forderte bei einer Pressekonferenz mit dem französischen Staatspräsidenten François Hollande und dem italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi einen Ausbau der Kooperation im Bereich der Verteidigung.

Die Kanzlerin nahm am 24. August auch am Treffen der Visegrad-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) in Warschau teil, wo sie für eine engere militärische Kooperation warb. "Wir müssen der Sicherheit Vorrang einräumen und den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Armee beginnen", stimmte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán zu. Der tschechische Regierungschef Bohuslav Sobotka forderte ebenfalls, über die Gründung einer europäischen Armee solle "eine Diskussion beginnen". Deren Grundstein ist längst mit Kooperationsprojekten gelegt: So unterstellen die Niederlande Teile ihrer Streitkräfte der Bundeswehr, was auch die tschechische Regierung angeboten hat.

Nägel mit Köpfen sollen auf dem informellen EU-Gipfel gemacht werden, der Mitte September in Bratislava stattfindet. In einer gemeinsamen Erklärung formulierten die Außenminister des "Weimarer Dreiecks" (Deutschland, Frankreich, Polen) bereits das Ziel einer stärkeren EU "mit einer vertieften und wirksameren gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik". Der Europäische Rat solle einmal pro Jahr "im Format eines 'Europäischen Sicherheitsrats' tagen, der sich mit strategischen Fragen der inneren und äußeren Sicherheit befasst, die untrennbar miteinander verbunden sind". Darüber hinaus werden ein eigenständiges Hauptquartier und nicht zuletzt eine "starke und wettbewerbsfähige Verteidigungswirtschaft in Europa" angemahnt.

Hatte die Bundesregierung die Eurozone in der noch längst nicht ausgestandenen Krise bis in die Zerreißprobe drangsaliert und zugleich mit eiserner Hand zusammengehalten, so scheint Berlin nun auch die angesichts ihrer Widersprüche auseinanderdriftende EU auf dem Feld verschärfter Sicherheitspolitik nach innen und außen zusammenzuschweißen. Rief die deutsche ökonomische Übermacht vielerorts Ablehnung auf den Plan, die jedoch in Unterwerfung unter die Führerschaft Berlins mündete, so wird auch eine von Deutschland dominierte Europäische Armee die Gegensätze zuspitzen und Widerstände wachrufen. Wenngleich sich angesichts historischer Erfahrungen niemand auch noch eine militärische Vorherrschaft Deutschlands in Europa wünschen kann, steht doch auch dieser Hinsicht zu befürchten, daß der deutsche Imperialismus abermals Rückendeckung und Gefolgschaft bei seiner Expansion nach Osten erhält.


Fußnoten:

[1] https://www.wsws.org/de/articles/2016/09/03/luft-s03.html

[2] https://www.jungewelt.de/2016/09-03/012.php

3. September 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang