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KRIEG/1661: Die Militarisierung des Bundestages am Beispiel Incirlik (SB)



Die Sicherung deutscher Offensivpositionen auf den Schlachtfeldern des Nahen und Mittleren Ostens beflügelt die Überwindung der normativen Schranken deutscher Kriegführung. Die aktuelle Debatte um das Besuchsrecht deutscher Parlamentarierinnen und Parlamentarier auf der türkischen NATO-Basis Incirlik nimmt allmählich exemplarischen Charakter an. Auch in Zukunft werden Bundesregierungen immer wieder vor dem Problem stehen, es mit Bündnispartnern zu tun zu haben, die die eigenen Rechtsvorbehalte zu Makulatur werden lassen, wenn man denn mit ihnen zusammen Krieg führen will.

Die de jure dementierte und de facto vollzogene Distanzierung der Bundesregierung von der Armenien-Resolution des Bundestages belegt, wie groß die Bereitschaft ist, das Wertekorsett des deutschen Imperialismus zur Disposition seiner "Einsatzfähigkeit" zu stellen. Bereits im Jugoslawienkrieg 1999 wurde mit der Behauptung, die Bundeswehr müsse sich am Überfall der NATO auf das Land beteiligen, gerade weil dort Wehrmacht und SS grausam geherrscht haben, die operative Einbindung deutscher Kriegsschuld in die Restauration des ihr zugrundeliegenden Militarismus demonstriert. Am 20. Juli 1999 gab Bundeskanzler Gerhard Schröder bei einer Rekrutenvereidigung im Hof des Berliner Bendlerblocks, wo im Widerstand gegen Hitler aktive Soldaten des 20. Juli 1944 hingerichtet worden waren, eine zukunftsweisende Losung für die Bundeswehr aus: "Verantwortung für die Menschenrechte zu übernehmen - auch und gerade dort, wo deutsche Armeen in der Vergangenheit Terror und Verbrechen über die Völker gebracht haben."

Auch in der Armenienresolution des Bundestages fand die Beteiligung deutscher Offiziere an diesem Genozid wenn auch eher verschämte Erwähnung [1]. Wie Bundeskanzlerin Angela Merkel für die Resolution zu stimmen und der dazu abgehaltenen Sitzung des Parlaments fernzubleiben, um schließlich den Regierungssprecher erklären zu lassen, daß die Resolution für die Bundesregierung nicht rechtsverbindlich sei, illustriert exemplarisch, wie auf der Klaviatur aus symbolpolitischer Legitimation und realpolitischer Praxis Marschmusik gespielt werden kann. Obwohl die Relativierung des Armenier-Genozids dankbar von der türkischen Regierung als solche quittiert wurde [2], entblöden sich deutsche Politiker und Journalistinnen nicht, wie Sprechpuppen bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu behaupten, daß es zu keiner Distanzierung der Bundesregierung von der Armenien-Resolution des Bundestages gekommen sei.

Militärische Traditionspflege produktiv zu machen kann aus naheliegenden Gründen nicht mehr heißen, alte Nazigeneräle zwecks Nutzung ihres Erfahrungsschatzes für die Remilitarisierung der BRD zu exkulpieren. Die zeitgemäße Entsprechung bruchloser Kriegsbereitschaft liegt - neben der gut vorankommenden Relativierung deutscher Kriegsschuld im Zweiten Weltkrieg - eher darin, auf den Gräbern der Opfer historischer Massaker für neue Kriege zu mobilisieren, und sei es in offenkundiger Analogie zu früheren Bündnisverhältnissen.

So wie vor hundert Jahren die Achse Berlin-Ankara für den störungsfreien Vollzug einer genozidalen Staatspraxis sorgte, so wird auch heute Krieg auf der Basis von Übereinkünften geführt, von denen beide Seiten wissen, daß sie der formalen Legitimation dessen dienen, was angeblich durch sie verhindert werden soll. Wenn die Ergebnisse der vom NATO-Stützpunkt Incirlik erfolgenden Flüge deutscher Aufklärungsjets mit der Anmerkung versehen werden, daß sie nur für den Kampf gegen den IS genutzt werden dürfen, um sie an die türkischen Streitkräfte weiterzureichen, von denen alle Welt weiß, daß die zentrale Stoßrichtung ihrer Kriegführung gegen die Etablierung einer kurdischen Entität in Nordsyrien gerichtet ist, dann gehen die Reisen der Bundestagsabgeordneten nach Incirlik von vornherein in die Irre. Wollten die Parlamentarier etwas über die Folgen deutscher Beteiligung an der Bekämpfung des IS erfahren, dann müßten sie Zugang zur operativen Planung der türkischen Streitkräfte haben, denn nur dort könnten sie kontrollieren, ob die formale Einschränkung bei der Verwendung deutscher Aufklärungsfotos auch eingehalten wird.

Warum also überhaupt nach Incirlik reisen? Die Erklärung, daß die Bundeswehr eine Parlamentsarmee sei und sich deutsche Abgeordnete dort über ihre Aktivitäten informieren können müßten, läuft in Anbetracht dessen, was alles für die demokratische Partizipation an der deutschen Kriegführung geopfert werden soll, auf die Militarisierung des Bundestages und nicht die Zivilisierung deutscher Außenpolitik hinaus. Indem die Erfüllung dieser Forderung zentrale Bedeutung für die Harmonisierung deutsch-türkischer Beziehungen erhalten hat, wird der Bundestag auf höchst effiziente Weise in die Ziele des deutschen Imperialismus eingebunden. Mußten die Abgeordneten bei den Abstimmungen zur Beteiligung der Bundeswehr an den Kriegen in Jugoslawien und Afghanistan mitunter noch zum Jagen getragen werden, so verteidigen sie - bis auf die meisten Parlamentarier der Linkspartei - heute aktiv das Privileg, neue Kriege nicht nur zu mandatieren, sondern durch tätige Rechtfertigung der Entscheidungen der Bundesregierung auch aktiv an ihnen teilzuhaben.

Das wird nicht nur bei dem wachsweichen Taktieren um die Erklärung der Bundesregierung zur Armenien-Resolution deutlich, sondern auch bei der aufklärungstechnischen Unterstützung türkischer Kriegführung etwa durch den CDU-Politiker Henning Otte [3]. Er versuchte vergeblich, der Kritik des Linken-Politikers Jan van Aken, der die Weitergabe des Aufklärungsmaterials als Waffenhilfe für die Türkei im Krieg gegen die nordsyrischen Kurden kritisiert hatte [4], entgegenzutreten, indem er ein angeblich belastbares Vertrauensverhältnis zu den türkischen Streitkräften unterstellte. Es blieb der Dlf-Moderatorin Bettina Klein überlassen, durch beharrliches Nachfragen zum Kern des opportunistischen Manövrierens Ottes vorzudringen. Was aus angeblich selbstbewußten, nur ihrem Gewissen verpflichteten Volksvertretern wird, wenn sie sich um die Aufhebung der angeblichen Gewaltenteilung von Exekutive und Legislative zur ultima ratio deutschen Hegemonialstrebens verdient machen, war an dieser Stelle in dankenswerter Deutlichkeit mitzuerleben.

Man darf also auf weitere Sternstunden des deutschen Parlamentarismus gespannt sein, zumal mit der absehbaren Präsenz der AfD im Bundestag eine neue Dynamik affirmativer Schadensbegrenzung in Gang gesetzt werden wird. Zwar braucht man die Rechtsaußenpartei zum Führen neuer Kriege nicht, diese werden bereits jetzt in großer Einigkeit beschlossen. Doch zum Erwirtschaften neuen Handlungsbedarfs nach der Logik des kleineren Übels besteht stets Bedarf an der Inszenierung symbolpolitischer Widersprüche.


Fußnoten:

[1] HISTORIE/330: Armenien-Resolution zur deutschen Mitschuld (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/redakt/hist-330.html

[2] KRIEG/1660: Armenienfrage auf dem Altar deutscher Kriegsführung geopfert (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1660.html

[3] http://www.deutschlandfunk.de/bundeswehr-aufklaerungsfluege-in-incirlik-keine.694.de.html?dram:article_id=365155

[4] http://www.deutschlandfunk.de/syrien-konflikt-linke-kritisieren-aufklaerungsfluege-der.694.de.html?dram:article_id=365047

9. September 2016


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