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KRIEG/1662: Erdogans Ausnahmezustand - Kurdische Städte unter Zwangsverwaltung (SB)



Mit Rückendeckung bis hin zu offener Kollaboration der NATO-Partner wie insbesondere der Bundesrepublik und der USA glaubt der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, freie Hand im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung zu haben. Nach dem Putschversuch vom 15. Juli war der Ausnahmezustand vorerst für drei Monate verhängt worden, um gegen die als Drahtzieherin geltende Bewegung des Predigers Fethullah Gülen vorzugehen. Nach Angaben aus Kreisen der Opposition will Erdogan das Instrumentarium legalisierter Repression so schnell nicht wieder aus der Hand geben und den Ausnahmezustand bis 2017 verlängern. Internationalen Druck braucht er nicht zu fürchten, hat doch auch die französische Regierung den Ausnahmezustand verhängt, während er in der deutschen Sicherheitsdebatte ebenfalls nicht ausgeschlossen wird.

Nun hat Erdogan per Dekret in 28 Städten des mehrheitlich kurdisch bewohnten Südostens der Türkei die gewählten Bürgermeister absetzen und die Kommunen unter Zwangsverwaltung stellen lassen. Die Regierung wirft den von der kurdischen Demokratischen Partei der Regionen (DBP) regierten Städten vor, die Arbeiterpartei Kurdistans PKK zu unterstützen, weil sie im Sommer vergangenen Jahres ihre auf Volksräten beruhende Selbstverwaltung ausgerufen hatten. Wie Innenminister Süleyman Soylu dazu erklärte, gehe es "um alles oder nichts". "Wir sind dabei, denjenigen, die sich nicht der Macht des Staates unterwerfen wollen, eine Antwort in einer Sprache zu geben, die sie verstehen." [1]

In einer Rede rechtfertigte der Präsident in Istanbul diese Zwangsmaßnahme nicht nur, sondern erklärte überdies, sie hätte schon viel früher erfolgen müssen. Man müsse verhindern, daß Bürgermeister und Stadträte Terrororganisationen unterstützten, womit er die Gülen-Bewegung und die PKK meinte. "Wichtig bei der Bekämpfung der Terrororganisation ist die Auflösung ihrer Strukturen, die sich im Beamtenapparat breit gemacht haben", so Erdogan. "Im Rahmen des Ausnahmezustands haben wir schnell Maßnahmen ergriffen. Dasselbe gilt für die Strukturen der PKK in öffentlichen Institutionen." Vier der abgesetzten Bürgermeister sollen Verbindungen zu dem umstrittenen Prediger Fethullah Gülen gehabt haben, die 24 anderen zur PKK. [2]

Bezeichnenderweise wurden als erste Kommunen der Altstadtbezirk Sur der Metropole Diyarbakir sowie die nahegelegene Kreisstadt Silvan den jeweiligen Bezirksgouverneuren als Treuhändern unterstellt. Beide Orte gelten als Hochburgen der kurdischen Befreiungsbewegung. Dort hatte die HDP bei der Parlamentswahl im Oktober letzten Jahres überwältigende Siege eingefahren. Nachdem Jugendliche zum Schutz der selbstverwalteten Stadtviertel vor Polizeiübergriffen Barrikaden errichtet hatten, wurden beide Kommunen während wochenlanger Ausgangssperren im Winter von der Armee mit schweren Waffen beschossen und die vertriebenen Bewohner der zerstörten Stadtviertel anschließend per Dekret enteignet.

Der Kovorsitzende der DBP, Sebahat Tuncel, sprach von einem Putsch, gegen den das Volk Widerstand leisten werde. Die PKK erkennt die Treuhänder nicht an und hat gedroht, sie anzugreifen. "Wir können das nicht hinnehmen", erklärte der Parlamentsabgeordnete der Oppositionspartei HDP, Nihat Akdogan. "Das sind die gewählten Bürgermeister der Menschen hier. Es kann nicht sein, dass andere Leute aufgrund zweier Unterschriften zu Bürgermeistern werden." Per Dekret Sachwalter einzusetzen sei nicht demokratisch, kritisiert Kadir Kunuk, stellvertretender Bürgermeister in der lange umkämpften Stadt Cizre. "Dieses Gesetz widerspricht vollkommen den demokratischen Schritten, die unser Land jetzt am dringendsten braucht - vor allem in diesen schwierigen Zeiten." In mehreren Städten der Kurdengebiete im Südosten des Landes an der Grenze zu Syrien und dem Irak kam es zu Protesten. So zogen Demonstranten vor die Rathäuser von Hakkari und Suruc, wo es zu Zusammenstößen mit Sicherheitskräften kam. In der Kurdenmetropole Diyarbakir setzte die Polizei Wasserwerfer ein, um Demonstranten auseinanderzutreiben. [3]

In einer weiteren Zwangsmaßnahme hat das Bildungsministerium kurz vor Beginn des neuen Schuljahres am 19. September 11.285 Lehrer in den mehrheitlich kurdisch bewohnten Landesteilen wegen angeblicher PKK-Verbindungen suspendieren lassen. In Diyarbakir löste die Polizei eine Kundgebung der Bildungsgewerkschaft Egitim-Sen gewaltsam auf, mindestens 30 Lehrer wurden festgenommen.

Vor wenigen Tagen sprach Erdogan von der "größten Militäroperation in der Geschichte" der Türkei gegen die PKK. Indessen stößt die Armee auf heftigen Widerstand der Guerilla. Wie selbst der Oberkommandierende der Militärpolizei, General Yasar Güler, nach verlustreichen Kämpfen in der Bergprovinz Hakkari einräumte, führten die Soldaten einen "Kampf um Leben oder Tod".

Nach Angaben der Nachrichtenagentur DHA sind bei einer erneuten schweren Explosion in der osttürkischen Stadt Van mindestens 48 Menschen verletzt worden. Ein Sprengsatz sei zwischen dem Gouverneursbüro und dem Provinzbüro der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP detoniert. Der AKP-Abgeordnete der Provinz Van, Burhan Kayatürk, sagte dem Sender CNN Türk, es habe sich mutmaßlich um einen Anschlag gegen die AKP und die das Gebäude schützende Polizei gehandelt.

Zu den vielen Fronten, an denen der türkische Staat gleichzeitig gegen die Kurdinnen und Kurden kämpft, gehört inzwischen auch der Angriff im Nachbarland Syrien, der sich vordergründig gegen den IS, vor allem aber gegen die kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG richtet. Diese Operation sei schon vor längerer Zeit geplant worden, erklärte Erdogan in der vergangenen Woche und kündigte die umfangreichsten Operationen gegen die PKK innerhalb und außerhalb seines Landes an.

Wie umfassend und weitreichend die Regierung in Ankara ihre Offensive faßt, unterstreichen die weiteren Worte Erdogans in seiner jüngsten Rede: "Wir sind entschlossen, mit unseren Sicherheitskräften sowie unseren Brüdern und Schwestern in der Region, den PKK-Ärger in der Türkei auszulöschen. Genauso wenig wie die Gülen-Bewegung hat auch die PKK eine Chance gegen unser scharfsinniges Volk und die Macht des Staates. PKK und YPG - der syrische Ableger der PKK - werden das gleiche Schicksal erleiden." Daß Erdogan von "auslöschen" spricht, ist keineswegs einer überzogenen Rhetorik geschuldet, sondern voller Ernst des türkischen Präsidenten, der einen Vertreibungs- und Vernichtungskrieg gegen die kurdische Bevölkerung im eigenen Land wie auch die selbstverwalteten Gebiete im Norden Syriens führt.

Gemessen am Ausmaß und der unverhohlenen Zielsetzung dieses Feldzugs läßt sich die milde Reaktion der USA auf die aktuelle Entwicklung nur als diplomatisch verbrämter Freibrief bewerten. Die US-Botschaft in Ankara äußerte sich besorgt über Zusammenstöße im Südosten des Landes und teilte über den Kurznachrichtendienst Twitter mit: "Wir hoffen, dass die Ernennung von Treuhändern vorübergehend sein wird und dass die Bürger vor Ort bald neue Amtsträger im Einklang mit türkischen Gesetzen wählen können."


Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/2016/09-10/065.php

[2] http://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-buergermeister-103.html

[3] http://www.dw.com/de/erdogan-absetzung-der-bürgermeister-war-überfällig/a-19544220

12. September 2016


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