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KRIEG/1701: Türkei - im Orbit der Abhängigkeiten ... (SB)



Erstmals seit zehn Monaten sind die EU-Spitzen wieder zu einem Gipfeltreffen mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan zusammengekommen. Für die EU nahmen an dem Treffen in Warna, einem Ort an der bulgarischen Schwarzmeerküste, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk teil. Das Ergebnis der Zusammenkunft liest sich in etwa so, wie dies der ehemalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel im Vorfeld angemahnt hatte. Man müsse die Türkei trotz ihrer Offensive gegen die YPG/YPJ in Syrien weiter einbinden: "Wir werden den außerordentlich schwierigen Versuch unternehmen müssen, einerseits Kritik nicht zu verschweigen, andererseits alle verfügbaren Angebote zur Zusammenarbeit zu mobilisieren", so Gabriel in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel. Die Türkei sei bereit, für ihre Militärintervention einen hohen Preis zu zahlen - bis hin zum Bruch mit den Vereinigten Staaten, der NATO und dem Westen. Das dürfe Deutschland nicht zulassen. [1]

Dieselbe Doppelzüngigkeit bekam man auf der Pressekonferenz nach dem Gipfeltreffen serviert, als Donald Tusk die Bilanz zog, es habe keine Annäherung in zentralen Streitfragen gegeben. Er habe in dem Gespräch alle Bedenken der EU geäußert, und die Liste sei lang gewesen, mit Themen wie Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und die Lage in Syrien. Geeinigt hätten sich beide Seiten darauf, "den Dialog unter wirklich schwierigen Umständen fortzusetzen". Während der Ratspräsident so die Problemlage betonte, kam Jean-Claude Juncker dem türkischen Präsidenten weit entgegen: "Ich bin Romantiker, Nostalgiker, und ein bisschen traurig über den Zustand der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei", so der Kommissionspräsident. "Ich bin gegen diese simple, oberflächliche, manchmal demagogisch-populistische Idee, dass wir die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbrechen. Nein, ich bin der Garant der Verpflichtungen, welche die EU gegenüber der Türkei eingegangen ist." [2]

Für die Menschen in Afrin ist das eine bestürzende Nachricht, werden sie doch auf dem Altar türkischer wie europäischer Interessen geopfert. Kritik an Erdogan und seinem Regime darf geäußert werden, bleibt aber ohne Folgen. Wer gehofft haben mochte, daß von dem Treffen in Warna zumindest ein klares Signal ausgehen würde, daß die EU dem türkischen Angriffskrieg in die Parade fährt, sieht sich bitter enttäuscht. Von möglichen Sanktionen keine Spur, nichts, was über die bereits gebremsten Prozesse der Integration in die EU hinausgriffe.

Wie Erdogan denn auch betonte, werde die Türkei ihren Kampf gegen den "Terrorismus" im Land ebenso wie außerhalb ihrer Grenzen fortsetzen. Ausdrücklich nannte er dabei den Angriffskrieg im nordsyrischen Afrin. Er forderte von der EU abermals eine "bedingungslose Unterstützung" des türkischen "Kampfes gegen den Terror" und behauptete, die Türkei sei ein demokratischer Rechtsstaat, der Menschenrechte und Grundrechte und Freiheiten respektiere. Erdogan zeigte sich trotz aller Probleme optimistisch, daß sich das seit mehr als eineinhalb Jahren extrem angespannte Verhältnis zwischen der Türkei und der EU wieder verbessern könnte: "Wir hoffen, dass wir in den Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union die schwierige Zeit hinter uns gelassen haben." [3]

Wollte man von einem Sieger des Spitzentreffens sprechen, so heißt dieser Recep Tayyip Erdogan. Und das nicht nur, weil die EU zugesichert hat, auch die im Flüchtlingsabkommen vorgesehene zweite Tranche von 3 Milliarden Euro in die Türkei fließen zu lassen. Der türkische Präsident hat mit der Repression im eigenen Land und dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die nordsyrischen Kurdengebiete vollendete Tatsachen geschaffen, hinter die er nicht mehr zurückkehren will. Wenn er nun die Normalisierung der Beziehungen im Munde führt und versichert, er setze weiter auf einen EU-Beitritt der Türkei, so tut er dies in der Gewißheit, daß die beiderseitigen Prioritäten einander wesensverwandt sind.

So wesensverwandt, daß weit über 100.000 Entlassungen seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 in der Türkei, an die 50.000 Menschen in türkischer Haft, Hunderte getötete Zivilisten und Hunderttausende auf der Flucht in Afrin samt der erklärten Absicht des Präsidenten, eine ethnische Säuberung in den Kurdengebieten zu erzwingen, als nachrangig eingestuft werden. Kreide zu fressen im Umgang mit seinesgleichen kann Erdogan sich leisten, parliert er doch an der herrschaftlichen Tafel. Wie viele er unterdessen mit seinem Stiefeltritt zerquetscht, schert seine europäischen Gesprächspartner nicht.


Fußnoten:

[1] www.faz.net/aktuell/politik/ausland/sebastian-kurz-will-beitrittsgespraeche-mit-tuerkei-beenden-15513402.html

[2] www.huffingtonpost.de/entry/massive-kritik-am-eu-turkei-gipfel-erdogan-hat-alles-erreicht_de_5ab9ce92e4b054d118e6340a

[3] www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article174925397/Erdogan-setzt-weiter-auf-EU-Beitritt-der-Tuerkei.html

27. März 2018


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