Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


KRIEG/1716: Umkehr der Abrüstung - europaweite Involvenz ... (SB)



In Russland sagt man seit vielen Jahren, dass dieser Vertrag den Bau und die Stationierung von Mittelstreckenraketen verhindert. Mit dem Ende des Vertrages kann man dem Raketenabwehrsystem der USA etwas entgegensetzen. Das bedeutet, Russland wird neue Raketen installieren und die USA auch.
Abrüstungsexperte Alexej Arbatow warnt vor neuem Wettrüsten [1]

Das zu Zeiten des Kalten Krieges durch das "Gleichgewicht des Schreckens" nicht dauerhaft eingehegte, sondern nur mühsam unter Verschluß gehaltene nukleare Inferno droht Mitteleuropa abermals die Verwüstung samt verheerenden Folgen für den gesamten Planeten an. Die seinerzeit geprägte MAD-Doktrin (mutually assured destruction) mit der wechselseitig garantierten Vernichtung im Falle eines Erstschlags wurde in Gestalt verschiedener Verträge kodifiziert, deren Rahmenwerk eine formelle Übereinkunft schuf, die weltweit nie endende Kriegsführung mit konventionellen Mitteln auszutragen. Unterdessen arbeiteten die Vereinigten Staaten bereits seit den frühen 80er Jahren an Militärstrategien, begrenzte Atomkriege unter Ausschaltung der gegnerischen Zweitschlagkapazität zu führen. Die These, eine ihrer Natur nach rationale Machtpolitik schließe den Angriff mit Nuklearwaffen aufgrund der drohenden eigenen Vernichtung aus, operiert auf sehr dünnem Eis.

Die Ankündigung Donald Trumps, er werde den INF-Vertrag einseitig aufkündigen, löst blankes Entsetzen aus und ruft geharnischte Kritik auf den Plan. Mit dem Abkommen aus dem Jahr 1987 hatten die USA und die Sowjetunion ihre Bereitschaft erklärt, sämtliche landgestützten nuklear einsetzbaren Kurz- und Mittelstreckenraketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern zu verschrotten und keine neuen zu beschaffen. Große Demonstrationen der westdeutschen Friedensbewegung im Kontext des NATO-Doppelbeschlusses hatten damals maßgeblichen Anteil am Zustandekommen des Vertrags, der unter gegenseitiger Kontrolle bei der Zerstörung der betreffenden Raketenarsenale umgesetzt wurde. Da es sich dabei um eines der wichtigsten Rüstungskontrollabkommen handelt, steht im Falle seiner Aufkündigung eine Wiederkehr des Kalten Krieges, diesmal jedoch mit finalem Ausgang zu befürchten. [2]

Moskau nannte Trumps Pläne einen "gefährlichen Schritt", der die Welt ins Chaos stürzen könnte. Vize-Außenminister Sergej Rjabkow sprach von Bedrohung und Erpressung, womit die USA lediglich neue Zugeständnisse Rußlands erzwingen wollten. Auch aus China kommt deutliche Kritik: Ein Sprecher des Außenministeriums in Peking sagte, es wäre falsch, wenn sich die USA einseitig aus dem Abkommen zurückzögen, das ein Meilenstein der nuklearen Abrüstung in Europa sei. [3] In der Bundesrepublik schlug die Hiobsbotschaft ebenfalls hohe Wellen. Horst Teltschik, der frühere Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, sprach im Deutschlandfunk von einer "riesigen Katastrophe". Der Staatsminister im deutschen Auswärtigen Amt, Niels Annen, nannte die Entscheidung des US-Präsidenten verheerend. Europa müsse eine neue Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen verhindern. Dabei sei auch Rußland "gefordert, sich an seine Verpflichtungen zu halten".

Der Obmann der Linkspartei im Verteidigungsausschuß des Bundestages, Alexander Neu, warnte, daß die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen die Gefahr eines Atomkrieges in Europa "aufgrund massiv verkürzter Vorwarnzeiten" enorm erhöhen würde. Die Bundesregierung dürfe einer solchen Maßnahme auf gar keinen Fall zustimmen. Der frühere Bundesaußenminister Sigmar Gabriel forderte eine neue Abrüstungsinitiative. "Wenn es nicht gelingt, die atomare Spirale erneut zu stoppen, sind wir in Zentraleuropa und hier in Deutschland wieder Schauplatz des atomaren Wahnsinns". Trump könne den INF-Vertrag zwar einseitig aufkündigen. Um aber neue Atomraketen in Europa zu stationieren, brauche er Staaten, die ihm dies anbieten. An dieser Stelle gebe es "keinen Automatismus", so Gabriel. [4] Die Grünen fordern den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland. "Die Bundesregierung, wenn sie jetzt hier ihre Appelle an die US-Regierung ernst meint, muss jetzt sagen: Wir beenden die deutsche nukleare Teilhabe", so die Parteivorsitzende Annalena Baerbock.

Faßt man die Reaktionen auf seiten deutscher Politik, Experten und Medien mehrheitlich zusammen, zeichnet sich das Bild einer breiten Allianz der Unschuldigen ab, die angesichts eines wahnwitzigen Wechselspiels zwischen Trump und Putin mit allem Nachdruck zur Besonnenheit mahnt und die Eskalation einzudämmen versucht. Als habe Berliner Regierungspolitik den Marsch nach Osten nicht aufgrund eigenständiger expansionistischer Interessen mitgetragen und damit die aktuelle Zuspitzung gleichermaßen zu verantworten, tarnt man sich nun unter Krokodilstränen mit dem Fingerzeig auf Washington und Moskau.

So erklärte der Politologe Oliver Thränert im Deutschlandfunk, die US-Administration habe schon vor Jahren unter Barack Obama gewarnt, daß sich Rußland nicht an das Abkommen halte. Nun habe Moskau Raketen mit einer Reichweite von mehr als 500 Kilometern entwickelt und stationiert, deren Kernwaffen sich sowohl gegen den europäischen Schauplatz richteten als auch für die Abschreckung von südlichen Nachbarn vorgesehen seien. Die Vorhaltung der Russen, daß die NATO Raketenabwehrsysteme in Polen und Rumänien stationiere, die gegen den INF-Vertrag verstoßen, weil man von den dortigen Abschußrampen auch offensive Marschflugkörper einsetzen könnte, halte er hingegen für einen typischen konstruierten Vorwurf der Russen, die damit einen Keil zwischen die Europäer und die Amerikaner treiben wollten. Die Europäer sollten das Gespräch mit den USA so eng wie möglich führen, aber auch darauf hinweisen, daß der Verursacher dieser Problematik auf jeden Fall die russische Seite sei. Deswegen komme es insbesondere darauf an, trotz aller Kritik an der Trump-Administration, die teilweise auch berechtigt sei, den Zusammenhalt über den Atlantik so gut wie möglich aufrechtzuerhalten und sich nicht von Moskau spalten zu lassen. [5]

Die vielfach kolportierte Behauptung, die Vorwürfe Moskaus seien haltlos und ein bloßes Werkzeug strategischer Propaganda, steht auf tönernen Füßen. Die russische Regierung hatte diese Vorhaltungen bereits 2014 zum Ausdruck gebracht und wiederholt sie nun in Reaktion auf die offiziellen Vorwürfe Washingtons, sie treibe falsches Spiel. Die Abwehrbasis in Rumänien, so die russische Position, könne auch offensiv zum Abschuß von Marschflugkörpern dienen. Laut der Stiftung Wissenschaft und Politik verwenden die Vereinigten Staaten dort in der Tat Senkrechtstartanlagen, die geeignet seien, seegestützte Marschflugkörper abzufeuern. Da diese Anlagen sich nun an Land befänden, seien die russischen Anschuldigungen, es handele sich um einen Vertragsbruch seitens Washingtons, "aus technischer Sicht schwer zu entkräften". De facto müßte man schon der treuherzigen Beteuerung der NATO Glauben schenken, daß diese Raketenabwehr nicht gegen Rußland gerichtet sei. [6]

Die Bundesregierung trägt die Wirtschaftssanktionen gegen Rußland mit und beteiligt sich an der Stationierung der NATO-Kampfgruppen in Polen, Estland, Lettland und Litauen. Die Bundeswehr ist mit dem größten Kontingent bei dem in wenigen Tagen beginnenden NATO-Großmanöver "Trident Juncture" präsent, das vorwiegend in Norwegen, aber auch im Luftraum Finnlands, Schwedens und Islands stattfindet und als die größte westliche Militärübung seit Ende des Kalten Krieges gilt. Deutschland hatte beim NATO-Gipfel im Juli keine Einwände gegen die Übereinkunft, daß die USA ihren Verpflichtungen aus dem INF-Vertrag nachkämen. Hingegen habe das russische Verhalten seit Jahren "weitreichende Zweifel" daran geweckt, daß Moskau die Vereinbarung achte. Die Allianz hielt es für eine plausible Erklärung, daß Moskau ein neues, unter der Bezeichnung "9M729" und im internen NATO-Sprachgebrauch unter "SSC-8" firmierendes System entwickelt habe und damit gegen den INF-Vertrag verstoße. Anfang des Monats erhöhten die 28 Mitgliedsstaaten der NATO deswegen den Druck auf Moskau und forderten die Regierung Putin auf, glaubwürdige Angaben zu dem Raketensystem vorzulegen.

Rußland wirtschaftlich und militärisch in die Enge zu treiben wie vordem die Sowjetunion gehörte in den zurückliegenden Jahren zum Kerngeschäft deutscher Außenpolitik. Diese heizte im Gleichschritt mit den NATO-Partnern eine Eskalation an, die Donald Trump nun auf die zwangsläufige Spitze treiben will. Ohne seine Funktion im Kontext US-amerikanischer Machtpolitik auch nur im geringsten zu rechtfertigen, mutet die hiesige Betroffenheit ob seiner jüngsten Ankündigung doch wie der Gipfel instrumenteller Doppelzüngigkeit an. Wenngleich die Bundesrepublik über keine eigenen Kernwaffen verfügt und als mutmaßliches Schlachtfeld des nächsten großen Krieges allerbeste Gründe für eine konsequente Abrüstungs- und Deeskalationspolitik hätte, zündelt sie doch mit am atomaren Feuer, während sie zugleich ihre Hände in Unschuld wäscht.


Fußnoten:

[1] www.tagesschau.de/ausland/usa-inf-mittelstrecken-103.html

[2] www.jungewelt.de/artikel/342041.usa-gegen-russland-spiel-mit-dem-feuer.html

[3] www.spiegel.de/politik/ausland/inf-atomwaffenabkommen-john-bolton-fuehrt-gespraeche-in-moskau-a-1234404.html

[4] www.n-tv.de/politik/Trump-schickt-John-Bolton-nach-Moskau-article20681612.html

[5] www.deutschlandfunk.de/abkehr-von-inf-abkommen-atomwaffen-werden-als-instrumente.694.de.html

[6] www.faz.net/aktuell/politik/ausland/inf-vertrag-mit-ein-wenig-hilfe-aus-dem-weissen-haus-15849526-p2.html

22. Oktober 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang