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KRIEG/1747: Türkei - alte Feindschaft, neue Chance ... (SB)



Wir haben unseren Standpunkt klargemacht und Vorbereitungen getroffen - wir werden kämpfen. (...) Wir wollten eine Ausweitung des Krieges verhindern und ihn auf Afrin begrenzen. In den Gebieten östlich des Euphrats verhält es sich jedoch ganz anders. Dort würde jeder Angriff der türkischen Streitkräfte zu einem Krieg großen Ausmaßes führen.
Mazlum Kobane (Kurdischer Kommandeur der SDF) [1]

Das türkische Erdogan-Regime hat den Kurdinnen und Kurden im eigenen Land, in Syrien und im Nordirak einen Vernichtungskrieg angesagt, der den kurdischen Widerstand vernichten, seinen Gesellschaftsentwurf zerstören, die kurdische Kultur eliminieren und die kurdische Bevölkerung im Zuge einer ethnischen Säuberung vertreiben soll. Davon zeugen zahllose Aussagen des Staatspräsidenten wie auch die militärischen Angriffe auf die Städte im Südosten der Türkei, auf Regionen im Norden Syriens und die Stellungen der PKK im Irak. Türkische Truppen sind im Zuge der Operation "Schutzschild Euphrat" 2016 in einen Korridor im Norden Syriens einmarschiert und haben sich dort dauerhaft etabliert, um einen Keil zwischen die kurdischen Kantone zu treiben. Der Angriff auf den westlichen Kanton Afrin bei der Operation "Olivenzweig" im Januar 2018 mit Hilfe islamistischer Milizen, die dort ein Schreckensregime errichtet haben, unterstrich das Grundmuster der türkischen Invasion, sich dieser Milizen als Hilfstruppen zu bedienen, die auf ihrem Vormarsch die Vernichtung aller fortschrittlichen gesellschaftlichen Entwicklungen zugunsten eines Gottesstaats repressivster Couleur garantieren.

Die im Namen nationaler Sicherheit von der Türkei angestrebte Pufferzone in Nordsyrien läuft auf eine dauerhafte Besetzung im Nachbarland und einen Austausch der Bevölkerung hinaus. Das Flüchtlingsabkommen mit der Europäischen Union stand aus Perspektive Ankaras nicht zuletzt im Zeichen einer Ansiedlung aus Syrien geflohener Menschen in den Kurdengebieten beiderseits der Grenze. Dies tritt nun immer deutlicher zutage, da die Wirtschaftskrise in der Türkei die Ressentiments der Bevölkerung gegen syrische Flüchtlinge schürt und die Regierung zu Zwangsmaßnahmen greift, sie aus Großstädten wie Istanbul in südliche Landesteile zu verdrängen oder sogar ihre Abschiebung nach Syrien anzudrohen.

Wenn die türkische Führung also Sicherheitsansprüche geltend macht, da kurdische "Terroristen" das Land von Süden her bedrohten, um die Durchsetzung einer Pufferzone in Syrien zu rechtfertigen, kaschiert das nicht einmal notdürftig das expansionistische Okkupations- und Vernichtungsinteresse Ankaras. Die Streitkräfte sind entlang der Grenze in Stellung gebracht und zum Vormarsch bereit, wobei sie insbesondere die US-Lufthoheit in Nordsyrien am sofortigen Angriff hindert. Wenngleich Erdogan mehrfach angedroht hat, daß er auch ohne Rücksicht auf die Interessen Washingtons einmarschieren werde, bleibt das doch angesichts wachsender Spannungen im Kontext des Kaufs des russischen Flugabwehrsystems S-400 durch den NATO-Partner Türkei vorerst in der Schwebe.

Die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) wie auch die kurdisch geführten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) haben ihre Stärke im Bodenkampf hinlänglich unter Beweis gestellt, wo sie beim Sieg über die Milizen des Islamischen Staats (IS) eine entscheidende Rolle spielten. Sie stehen oftmals islamistischen Gruppierungen gegenüber, die unter wechselnden Namen schon in der Vergangenheit gegen sie gekämpft haben, aber von ihren Schutzmächten wie der Türkei immer wieder ins Spiel gebracht werden. Auch die hochgerüsteten türkischen Streitkräfte könnten nur unter hohen Verlusten vorrücken, sofern sie ohne Luftunterstützung blieben. Daß Afrin relativ schnell in die Hände der Okkupationskräfte gefallen ist, verdankte sich dem Rückzug der bewaffneten kurdischen Verbände, die ein Blutbad unter der Zivilbevölkerung im Falle länger andauernder Kämpfe und eine Ausweitung des Krieges auf andere Kantone verhindern wollten.

Aus kurdischer Sicht sind die US-Streitkräfte ein taktischer Partner, auf den sie aufgrund der Kräfteverhältnisse angewiesen sind, aber kein strategischer Verbündeter, auf dessen Unterstützung sie dauerhaft vertrauen können. Die Großmacht USA verfolgt ihre eigenen Interessen in Syrien und hat die kurdischen Verbände erst dann und zunächst nur zögerlich unterstützt, als keine der zahlreichen Milizen im syrischen Krieg in der Lage war, den IS am Boden erfolgreich zu bekämpfen. Wie fragil das Zweckbündnis mit den US-Truppen ist, zeigte sich in aller Deutlichkeit, da die US-Regierung unter Präsident Trump zunächst einen vollständigen Abzug ihrer Truppen aus Syrien ankündigte, dann aber doch fürs erste davon Abstand nahm und nun eine Lösung mit der türkischen Regierung auszuhandeln versucht.

Der US-Sonderbeauftragte für Syrien, James Jeffrey, ist bei seinen jüngsten Vermittlungsversuchen in Ankara am 22. Juli dem Vernehmen nach nur wenig vorangekommen. Vordringliche Streitpunkte sind die Fragen, wie weit sich die YPG/YPJ zurückziehen sollen, welche Waffen in einer Sicherheitszone stationiert und von wem sie verwendet werden dürfen, wer die Zone kontrolliert und ob dort mit der Türkei verbündete islamistische Milizen eingesetzt werden können.

Daß die kurdischen Einheiten auch in bedrängter Lage, der sie sich nun mehr denn je ausgesetzt sehen, einen Entwurf zur Lösung des Konflikts vorgelegt haben, ist als strategischer Ansatz zu würdigen, nichts unversucht zu lassen, ohne dabei entscheidende Positionen preiszugeben. Wie von kurdischer Seite verlautete, wurden bereits im Dezember eigene Vorschläge hinsichtlich einer Sicherheitszone über von den USA vermittelte Kontakte an den türkischen Geheimdienst weitergeleitet, die nun publik gemacht werden, um eine eigene Kompromißlösung auf den Verhandlungstisch zu bringen. Die Vorschläge wurden von dem kurdischen SDF-Kommandeur Mazlum Kobane (aka Ferhat Abdi Sahin, oft auch unter dem Namen Mazlum Abdi oder Ebdi) in einem Interview mit al-Monitor erläutert.

Sie sehen anstelle der von der Türkei geforderten 30 Kilometer breiten Sicherheitszone eine 5 Kilometer breite Pufferzone auf syrischem Staatsgebiet vor, die unter internationale Kontrolle gestellt werden soll. Verpflichte sich Ankara zu einem Verzicht auf weitere militärische Aggression, ließe sich Mazlum Kobane zufolge über den Rückzug der YPG/YPJ aus dieser Zone wie auch einen Abzug schwerer Waffen mit einer Reichweite bis in die Türkei reden. Offen zeigte er sich auch für eine Rückkehr der Syrer, die vor dem Krieg in ihrem Land in die Türkei geflüchtet sind, sofern sie tatsächlich aus Gebieten in dieser Zone stammen. Keinesfalls werde man hingegen den Einsatz islamistischer Milizen in einer Pufferzone zulassen.

Darüber hinaus sieht der Vorschlag eine Rückansiedlung der vertriebenen kurdischen Bevölkerung in Afrin vor, wobei die Zivilisten und Milizen, die sich mit der Einnahme Afrins durch die türkische Militäroperation "Olivenzweig" dort festgesetzt haben, das von ihnen in Besitz genommenen Wohneigentum wieder zurückgeben sollen. Dies soll unter der Kontrolle eines "Zivilen Rates in Afrin" geschehen. Willigt die Türkei auch in diese Forderungen ein und ließe sich eine Umsetzung der Vereinbarung erkennen, könnten auch türkische Soldaten Patrouillen in der Pufferzone übernehmen, an deren Aufsicht aber auch die kurdische Selbstverwaltung beteiligt werden müsse. [2]

Was die Präsenz türkischer Truppen in Afrin betreffe, sei diese nicht Gegenstand des Vorschlags und müsse zu einem späteren Zeitpunkt behandelt werden. Den Vereinigten Staaten komme eine Vermittlungsfunktion zu, doch habe es bislang keine Fortschritte gegeben. Nun sei die Türkei am Zuge, den nächsten diplomatischen Schritt zu machen. Sollte es jedoch zu einem türkischen Angriff kommen, seien die kurdischen Einheiten kampfbereit. Allen Beteiligten müsse klar sein, daß sich dann eine Strecke von 600 Kilometer Länge in ein Schlachtfeld verwandeln würde und dies der Auftakt zum zweiten syrischen Bürgerkrieg wäre.

Angesichts der Erfahrungen, welche die Kurdinnen und Kurden mit dem Erdogan-Regime und den islamistischen Milizen gemacht haben, mutet der Kompromißvorschlag überraschend und weitgehend an. Dennoch dürfte so gut wie ausgeschlossen sein, daß die türkische Regierung auch nur Teile dieses Verhandlungsangebots akzeptiert. Weder wird sie bereit sein, ihr Protektorat Afrin wieder aufzugeben, noch wäre eine sehr viel schmalere Pufferzone, noch dazu unter internationaler Aufsicht, für sie von Interesse. Was sie als Sicherheitszone bezeichnet, soll, wie eingangs ausgeführt, auf einen dauerhaft okkupierten Teil Syriens unter Vernichtung der selbstverwalteten kurdischen Gebiete hinauslaufen. Dafür braucht sie eine massive Invasion unter eigener Lufthoheit und Einsatz schweren Kriegsgeräts wie auch ihrer islamistischen Hilfstruppen, am allerwenigsten jedoch eine internationale oder gar kurdische Beobachtungsmission, welche die dabei verübten Greueltaten dokumentiert.

Der kurdische Kompromißvorschlag könnte unter diesen Voraussetzungen in erster Linie dem Zweck dienen, die türkische Regierung für eine längere Frist an den Verhandlungstisch zu binden und von einer Invasion gegen den Willen Washingtons und möglicherweise auch der französischen Regierung, die ihrerseits Ansprüche als möglicher Verbündeter der YPG/YPJ geltend macht, abzuhalten. Grundsätzlich unterstreicht das Angebot einer möglichen Verhandlungslösung die Bereitschaft auf kurdischer Seite, trotz ihrer Drangsalierung durch das Regime in Ankara und dessen Kumpanei mit islamistischen Kräften dem zutiefst destruktiven Ansturm einen potentiell zukunftsfähigen Entwurf entgegenzusetzen. Sowenig die sporadische Zuwendung in Kreisen europäischer Regierungspolitik und Öffentlichkeit über eine bloße Instrumentalisierung der kurdischen Widerstandskämpfe bei der Überwindung des IS hinauswies, ist doch nicht restlos auszuschließen, daß Menschen in Europa einen verteidigenswerten Gesellschaftsentwurf in Rojava erkennen, den sie in ihren Ländern schmerzlich vermissen.


Fußnoten:

[1] www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/07/turkey-syria-united-states-kurds-have-offer-for-safe-zone.html

[2] www.heise.de/tp/features/Erdogan-droht-USA-mit-Boeing-Boykott-4483746.html

2. August 2019


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