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KRIEG/1774: Bundeswehreinsatz - fließende Grenzen ... (SB)



Wir sind in der Bundeswehr darauf eingestellt, dass die Bekämpfung der Coronakrise eine lange Strecke ist, ein Marathon. Wir haben gesagt, wir müssen zum einen sicherstellen, dass unser Kernauftrag, Landes-, Bündnisverteidigung, die internationalen Einsätze, weiter durchgeführt werden können, aber dass wir im Rahmen der Amtshilfe auch bereit sind, zivile Strukturen zu unterstützen - dann, wenn sie so unter Stress kommen, dass sie es selbst nicht mehr leisten können.
Annegret Kramp-Karrenbauer im Deutschlandfunk [1]

Wenn dereinst Bilanz gezogen wird, wer im Kampf gegen Corona gewonnen und wer verloren hat, will die Bundeswehr mit auf dem Siegerpodest stehen. Ihr Einsatz im Inneren, so steht zu befürchten, dürfte als voller Erfolg und Türöffner verbucht werden, die Grenze zwischen militärischen und polizeilichen Aufgaben weiter zu perforieren und zu verwischen. Wesentlich ist im Kontext des mit wachsenden repressiven Instrumenten aufgerüsteten Sicherheitsstaats, daß es sich um einen beiderseits vorangetriebenen Zangenangriff handelt: Die Polizeien werden mit exekutiven Vollmachten ausgestattet, wie es sie seit dem NS-Staat nicht mehr gegeben hat, die Streitkräfte ermächtigt, Zug um Zug im zivilen Sektor Präsenz zu zeigen. Szenario ihres letztendlichen Schulterschlusses ist die Aufstandsbekämpfung, die sich der bürgerliche Staat mit den Notstandsgesetzen vorbehält und angesichts multipler krisenhafter Verwerfungen präventiv ins Visier nimmt.

Gelegenheit zu einem Probelauf bot sich beim G-8-Gipfel 2007 in Heiligendamm, zu dem das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern um Amtshilfe der Bundeswehr bat. Sechs Spähpanzer waren in der Umgebung im Einsatz und teilten ihre Beobachtungen der Polizei mit. Aufklärungsflugzeuge des Typs Tornado flogen mehrfach über die Camps der Gipfelgegner und machten dabei Fotos von Personengruppen und Fahrzeugen. Da die Bundeswehr Kriegsgerät einsetzte und klassische Polizeiaufgaben übernahm, versuchte die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen damals, dies vom Bundesverfassungsgericht sanktionieren zu lassen. Sie scheiterte jedoch aus formalen Gründen, da sich die Karlsruher Richter darauf zurückzogen, die Rechtslage sehe keine Zustimmungspflicht des Bundestages bei Inlandseinsätzen vor. Deshalb könne eine Bundestagsfraktion auch keine Klage erheben. Ob die Bundeswehr also in Heiligendamm verfassungswidrig gehandelt hat oder nicht, läßt sich höchstrichterlich nicht feststellen. [2]

Dieser kafkaesk anmutende Winkelzug illustriert den geltend gemachten Bedarf, die verfassungsrechtlichen Schranken eines Bundeswehreinsatzes im Inneren aufzuweichen. Artikel 35 des Grundgesetzes schränkt die strikte Trennung ziviler und militärischer Aufgaben insofern ein, als er die rechtliche Grundlage für eine Amtshilfe im zivilen Bereich schafft. Darin heißt es, die Bundesregierung könne zur "Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall" die Weisung erteilen, Einheiten der Streitkräfte zur Unterstützung der Bundesländer einzusetzen. Von einer Pandemie ist aber nicht die Rede. Vor allem Unionspolitiker sehen in der Coronakrise eine Chance, die von ihnen schon seit Jahrzehnten geforderte Änderung des Grundgesetzes endlich durchzusetzen, um mehr Inlandseinsätze zu ermöglichen. Der Chef des Reservistenverbandes und CDU-Bundestagsabgeordnete Patrick Sensburg plädierte jüngst für eine "Klarstellung" im Grundgesetz, daß die Bundeswehr auch im Fall von Pandemien militärisch eingesetzt werden könne. Dieser Vorstoß rief jedoch bei allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien derart heftigen Gegenwind auf den Plan, daß er schlafende Hunde zu wecken drohte und deswegen umgehend wieder in der Schublade verschwand. [3]

Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer erklärte, daß diese Debatte jetzt nicht nötig sei und nach der Coronapandemie geführt werden könne. Das Grundgesetz ermögliche der Bundeswehr bereits heute, "sehr, sehr viel" auch im Inland zu tun. Grobe Klötze, die Widerstand zu provozieren drohen, werden als kontraproduktiv eingeschätzt. Statt dessen soll die langjährig praktizierte Strategie, auf leisen Sohlen voranzumarschieren, in der Coronakrise zur vollen Blüte gebracht werden. Die Akzeptanz einer in Zeiten einbrechender Ungewißheit als Stärke empfundenen Präsenz der Bundeswehr könnte kaum größer sein, so daß die nun verschobene Grenze unumkehrbaren Bestand verspricht.

Im Deutschlandfunk vermeldete die Ministerin, daß rund 300 Anträge auf Amtshilfe eingegangen und 90 davon auch bewilligt worden seien. Dabei ändere sich die Qualität der Anträge, da am Anfang vor allem Schutzausstattung und medizinisches Fachpersonal angefragt worden sei, das bei der Bundeswehr so knapp wie in zivilen Einrichtungen ist. Inzwischen gingen die Wünsche immer mehr in Richtung "helfende Hände", womit Kramp-Karrenbauer die euphemistische Zauberformel kolportiert, die so arglos daherkommt. Wobei sollen Soldatenhände helfen? Bundeswehrangehörige könnten beispielsweise in Gesundheitsämtern Kontaktpersonen infizierter Fälle telefonisch verständigen oder einfache Tätigkeiten Alten- und Pflegeheimen verrichten, so die Verteidigungsministerin. "Überall dort, wo wir gefragt sind, und überall dort, wo es die Amtshilfe nach Artikel 35 Absatz eins auch erlaubt." Es gehe ausschließlich um Unterstützung, denn hoheitliche Tätigkeiten der Soldaten werde es nicht geben.

Bis auf einige linke Politiker im Deutschen Bundestag, mit denen sie das auch diskutiert habe, sei ihr bisher eine große Offenheit entgegengebracht worden, was den Einsatz der Bundeswehr anbelangt. Die praktische Zusammenarbeit sei überhaupt kein Problem, zumal die Truppe dort zur Verfügung stehe, wo sie gerufen werde. Die Entscheidung darüber, welcher Antrag gestellt wird, treffen die Kreise und Bezirke oder die Krisenstäbe der Länder. Derzeit seien rund 17.000 Soldatinnen und Soldaten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich der Sanität im Einsatz, zudem noch einmal knapp 400 bereits eingesetzte Reservistinnen und Reservisten. Die Bundeswehrkrankenhäuser seien in die zivile Versorgung eingebunden und betreuten zu 70 bis 80 Prozent zivile Patienten. Insofern seien sie genauso ausgelastet wie die zivilen Strukturen.

Das hört sich soweit vergleichsweise moderat und sinnfällig an, spielt aber gezielt herunter, was in den Mobilisierungs- und Einsatzplänen vorgesehen ist. Demnach sind 5.500 Soldaten für "Absicherung/Schutz", 6.000 für "Unterstützung der Bevölkerung", 600 Militärpolizisten der Feldjäger für "Ordnungs-/Verkehrsdienst" und 2.500 Logistiksoldaten mit 500 Lastwagen für "Lagerung, Transport, Umschlag" vorgesehen. Zudem sind 18 Dekontaminationsgruppen mit etwa 250 Soldaten der ABC-Abwehr für Desinfektionsarbeiten abgestellt. Als mögliche Aufgaben für die Soldaten sieht die Planung unter anderem Massenunterbringung, Raum- und Objektschutz, Schutz kritischer Infrastrukturen, Unterstützung von Ordnungsdiensten, Verkehrsdienste, Bereitstellung von Versorgungsflächen und militärischen Flugplätzen vor. [4]

Während sich Unterstützung der Bevölkerung, Logistik und ABC-Abwehr wohl mit Artikel 35 GG rechtfertigen ließen, stößt der Einsatz von Soldaten und Feldjägern für polizeiähnliche Aufgaben im Inland an die Grenzen des Grundgesetzes oder geht darüber hinaus. Was genau ist unter Absicherung/Schutz, Unterstützung von Ordnungsdiensten oder dem Schutz kritischer Infrastruktur zu verstehen? Sollen "systemrelevante" Einrichtungen wie Kraftwerke, Industrieanlagen oder Verkehrsrouten von "helfenden Händen" gesichert werden, die im Zweifelsfall bewaffnete Gewalt anwenden? Der militärnahe Blog "Augengeradeaus" sieht das so, wenn er schreibt, daß "der Einsatz spezifisch militärischer Waffen auf Weisung der Bundesministerin zulässig" sei.

Einzelne Behörden fordern bereits bewaffnete Einsätze an, so etwa ein bayerisches Landratsamt, das zehn Bundeswehrsoldaten für den Schutz eines Lagers des Technischen Hilfswerks haben möchte. In Baden-Württemberg prüft Innenminister Thomas Strobl den Einsatz der Bundeswehr für den Schutz von "Objekten", um beispielsweise vor polizeilichen Einrichtungen Ein- und Auslaßkontrollen vorzunehmen. Sich auf dem Wege der Amtshilfe möglicherweise auch für solche Aufgaben bitten zu lassen, droht einen fließenden Übergang zu einem Einsatz der Bundeswehr mit polizeilichen Aufgaben und zu bewaffneten Einsätzen im Innern zu bahnen.

Der Gewerkschaft der Polizei (GdP) paßt das nicht. Deren Berliner Sektion forderte, sämtliche Parkanlagen in der Hauptstadt zu schließen. Seien Zehntausende von Berlinern bei schönem Wetter im Park, komme die Polizei mit der Kontrolle der Ausgangssperre nicht hinterher. "Dann ist der Weg zur Bundeswehr im Innern nicht mehr weit. Kontrollposten an jeder Ecke. Reihenweise Menschen, die abgeführt und nach Hause eskortiert und bei erneutem Verstoß gegen die Auflagen inhaftiert werden." Das seien "Bilder, die einen überzeugten Demokraten erschaudern lassen", heißt es in einer Pressemitteilung. In diesen Worten klingt nicht zuletzt ein Konkurrenzdenken an, da sich die Polizeien in Ausübung hoheitlicher Aufgaben nicht von der Bundeswehr verdrängen lassen wollen. Die Kritik am Einsatz der Streitkräfte im Inneren greift zwangsläufig zu kurz, wenn sie dieselben Sicherheitsaufgaben bei einer aufgerüsteten "zivilen" Polizei in besten Händen wähnt.

Wie bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr schafft auch deren Einsatz im Inneren Zug um Zug Fakten, die heute umstritten sein mögen, aber morgen für selbstverständlich erachtet werden und die Ausgangsposition für den nächsten Schritt festigen. Daraus folgt nicht zwangsläufig der bloße Abwehrkampf einer Gegenposition, die ihre Kritik mit jeder verlorenen Stellung auf das Machbare reduziert und damit wohl oder übel den jeweiligen Status quo bekräftigt. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan hat nicht zu gepflanzten Bäumen und gebohrten Brunnen, sondern zum Massaker von Kundus geführt. Was wird auf den Telefondienst und die Handreichung im Altersheim im Zuge der Coronakrise folgen?


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/kramp-karrenbauer-zu-corona-massnahmen-kein-umstieg-von.694.de.html

[2] www.jungewelt.de/artikel/375956.testballon-akk-debatte-jetzt-unerwünscht.html

[3] www.jungewelt.de/artikel/375955.bundeswehr-erfüllung-alter-träume.html

[4] www.jungewelt.de/artikel/375819.bundeswehr-im-innern-an-der-grenze-des-grundgesetzes.html

8. April 2020


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