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KRIEG/1801: Zweierlei Maß ... (SB)



"Das Schweigen von Außenministerin Annalena Baerbock zu Ankaras Kriegen gegen seine Nachbarn ist ein Hohn und zeigt die ganze Doppelmoral der angeblich wertegeleiteten deutschen Außenpolitik. Während Russlands Krieg in der Ukraine zu Recht verurteilt wird, hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan freie Hand für Bombardements, Besetzungen und Annexionen im Norden Syriens und im Irak. Erdogans Verbrechen an den Kurden, Jesiden, Alawiten und Christen in Syrien dürfen von der Bundesregierung, der EU und der NATO nicht länger hingenommen werden."
Sevim Dagdelen (Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke für Internationale Beziehungen) [1]


Zweierlei Maß geht deutscher Regierungspolitik leichterdings von der Hand, wenn es gilt, je nach Bedarf die Opfer des Krieges krokodilstränenreich zu beklagen oder aber schlichtweg zu ignorieren. Während der russische Angriff auf die Ukraine den Ruf nach härtesten Strafmaßnahmen befeuert, kräht westlicherseits kein Hahn nach dem Toben der türkischen Kriegsmaschine in Nachbarländern, die mit Rückendeckung durch NATO und EU in neoosmanischem Eroberungsstreben Fakten schafft und den kurdischen Gesellschaftsentwurf zu zerschlagen trachtet. Mag Recep Tayyip Erdogan unter seinen Gegnern im In- und Ausland auch noch so wüten, fällt ihm doch niemand ernsthaft in den Arm, da er sein Regime als Brücke und Puffer zwischen diversen aufeinanderprallenden Wuchten nahezu unentbehrlich zu machen versteht.

Auch in seinem Fall gehen innere und äußere Repression, administrative Gewalt und offene Kriegsführung nahtlos ineinander über, wobei sein expansiver und bellizistischer Furor im Kern derselben Quelle entspringt wie die Konfrontation von Russland und der NATO auf den Schlachtfeld der Ukraine. Die auf Eigentumsordnung, Wachstum und Konkurrenz gestützte profitgetriebene Verwertung ist an ihre Grenzen gestoßen und häuft gigantische Schuldtitel jenseits konkreter Produktionssphären auf. Das Szenario ökonomischer, ökologischer und sozialer Krisen ist derart angeschwollen, dass eine Lösung im Rahmen der herrschenden Verhältnisse unmöglich herbeigeführt werden kann. Um die Blockade der um ihr Wohlergehen wenn nicht gar Überleben kämpfenden Menschen zu brechen und einen neuen Zyklus der Kapitalverwertung durchzusetzen, ist Krieg die Ultima ratio Herrschaft sichernder und fortschreibender Kräfte. Andere Regionen oder Länder unter immensen Opfern zu zertrümmern folgt einer Strategie der Disruption, die als Innovationsoffensive den Phoenix aus der Asche beschwört.

Mag menschliches Schaffen auch heillos an die Wand gefahren sein, bleibt als Urreflex erhoffter Übervorteilung immer noch die Auslöschung des andern und die Zerstörung all dessen, was er aufgebaut hat. Welch überschäumende Euphorie die absurde Hoffnung auf den Sieg in der kommenden Schlacht wachzurufen vermag, zeigt nicht nur die eskalierende Kriegsbegeisterung in erheblichen Teilen der deutschen Bevölkerung, die sich eine Opferbereitschaft verordnen lässt, wie sie noch vor wenigen Monaten undenkbar erschienen wäre. Wenngleich weniger denn je zu erkennen ist, wie das vielgestaltige Verhängnis erodierender Lebensverhältnisse und bedrohter Existenzmöglichkeiten abzuwenden wäre, wird die Perspektive, den Erzfeind in die Knie zu zwingen, zum Königsweg der Befreiung von allem Übel erklärt und als solcher bereitwillig akzeptiert.

Bei diesem Hauen und Stechen geht es natürlich auch um Verdrängungsprozesse beim Zugriff auf schwindende Sourcen des Überlebens und die Wahrung eines Vorsprungs zu Lasten unterworfener und ausgebeuteter Sphären. In der Staatenkonkurrenz werden Nationalismen beschworen und geopolitische wie kulturelle Ansprüche daraus abgeleitet. Unter der Maßgabe, dass es uns um jeden Preis besser gehen soll als den andern, auf deren Schultern wir selbstverständlich reiten, werden innergesellschaftliche Widersprüche brachial negiert und planiert. Nicht zuletzt aber versammeln die Kriegstrommeln das nationale Reservoir vereinheitlichter Kraftanstrengungen unter dem Banner des ideologischen Entwurfs kultureller Überlegenheit und innovativen Fortschritts, wie sie hierzulande im Namen der Menschenrechte und des grünen Kapitalismus eingefordert und vorangetrieben werden.

Krieg als Freischlag aus der Krise

In der Türkei gelingt es dem Erdogan-Regime ein ums andere Mal, seine wankende Vorherrschaft mit jedem weiteren Kriegszug zumindest befristet zu stabilisieren. Kaum geht es gegen die kurdischen Regionen in Syrien und im Irak, die mit dem Terrorverdikt überzogen werden, weil sie sich der türkischen Staatsräson ihrer Auslöschung als kulturell eigenständiger Teil der Bevölkerung mit gewissen Autonomierechten verweigern, läuft die kemalistische Opposition mit fliegenden Fahnen zur kriegstreibenden Regierungspolitik über. Der föderale kurdische Gesellschaftsentwurf ohne Staat, mit Basisdemokratie und Rätestruktur, einer Befreiung der Frauen auf allen Ebenen und der Aufnahme von Menschen jeglicher Herkunft, die sich dem Aufbau dieser Gesellschaft anschließen, ruft den genozidalen Hass des Machthabers auf den Plan. Dem im islamistischen Patriarchat verwurzelten und den türkischen Nationalismus huldigenden Despoten bleibt der Widerstand dieser emanzipatorischen Bewegung ein Stachel im zutiefst reaktionären Fleisch, den er gewaltsam herausreißen will.

Im kommenden Jahr jährt sich die Gründung der türkischen Republik zum hundertsten Mal, was Erdogan mit einem Sieg bei der Präsidentschaftswahl am 24. Juni 2023 zu feiern hofft. Sein langgehegtes Versprechen, er werde das Land bis dahin in den Kreis der wirtschaftlich und politisch einflussreichsten Mächte führen, ist indessen Makulatur. Angesichts immenser ökonomischer Verwerfungen steht das Regime auf tönernen Füßen, ist doch der Lebensstandard dramatisch gesunken. Die Inflation war im Mai mit 73,5 Prozent so hoch wie seit 1998 nicht mehr, wobei Oppositionspolitiker, Ökonomen und Umfragen zufolge auch Verbraucherinnen vermuten, dass sie noch deutlich höher als offiziell angegeben ist. Die Landeswährung Lira hat 2021 im Verhältnis zum Dollar rund 44 Prozent an Wert eingebüßt, und dieser Kursverfall setzte sich in diesem Jahr mit einem weiteren Rückgang von bislang 24 Prozent fort, wodurch die Inflation noch weiter angetrieben wurde. [2]

Die Türkei ist eher ein Schwellenland als ein hochentwickelter Industriestaat, was im internationalen Konkurrenzgefüge zu strukturellen Beschränkungen und Abhängigkeiten führt, die als verschärfte Krisen durchschlagen. Die Aufholjagd mit harten Bandagen hat nur in einigen Sektoren zur Herausbildung einer tragfähigen Entwicklung der Produktivkräfte geführt, vielfach jedoch eine zwangsläufig befristete Scheinblüte wie etwa im Bausektor befördert, dessen Höhenflug den Keim des nachfolgenden tiefen Absturzes in sich trägt. Ein erheblicher Teil des vielbeschworenen türkischen Aufstiegs ist denn auch ein Konglomerat aus nationalem Pathos von Stolz, Ehre und Weltgeltung samt einem aufgeblähten Militärapparat und Instrumentarium der Repression im Inneren.

Die Zauberformel, du hast nicht viel und bist nicht viel, kannst dich aber mit Stolz einen Türken nennen, der Schmähungen nicht länger unbeantwortet hinnehmen muss, funktioniert immer weniger, wo das zum Leben Notwendige für zahllose Menschen wegbricht. Armut und Hunger greifen um sich, während die Regierung mit harter Hand Proteste niederhält. In einer repräsentativen Umfrage der Hacettepe-Universität in Ankara gaben 63 Prozent der jungen Leute zwischen 15 und 24 Jahren an, die Zukunft nicht positiv zu sehen, 35 Prozent machten ihr Kreuz sogar bei "völlig hoffnungslos". 72 Prozent der Befragten gaben zudem an, die Türkei verlassen zu wollen, sobald sich eine Möglichkeit biete. [3]

Ungeachtet der anwachsenden Verelendung und Arbeitslosigkeit wie auch der um sich greifenden Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen aus Syrien und des in den Keller gesackten Zuspruchs zu seiner Regierungsführung hat Erdogan vor allen andern Rivalen seine erneute Kandidatur für die Volksallianz aus AKP und der rechtsradikalen MHP offiziell angekündigt. Angesichts dieser sozialen Talfahrt der Mehrheitsbevölkerung ist aus innenpolitischen Gründen eigentlich eine Wiederwahl so gut wie ausgeschlossen, sofern sich die Opposition nicht komplett spalten lässt. Folglich setzt Erdogan auf die außenpolitische Karte, indem er sein Taktieren zwischen NATO und Russland womöglich als Vermittler im Ukrainekrieg ausreizt, insbesondere aber den ständigen unterschwelligen Krieg in den Nachbarländern zu einem weiteren massiven Angriff ausweitet.

Erdogan kündigt die nächste Invasion in Syrien an

In Ankündigung einer weiteren Offensive entlang der südlichen Grenzen sprach der Präsident bereits im Mai davon, eine 30 Kilometer breite Sicherheitszone zu schaffen, um "terroristische Bedrohungen" zu bekämpfen. "Das Hauptziel dieser Operationen werden Gebiete sein, die Angriffszentren auf unser Land sind", stellte er wie immer die tatsächliche Stoßrichtung militärischer Aggression auf den Kopf. Gemeint ist in diesem Fall der Norden Syriens, den die türkischen Streitkräfte bereits dreimal angegriffen haben, um die kurdische Selbstverwaltung und die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ) zu zerschlagen: Einmarsch in Jarablus im August 2016, Eroberung der kurdischen Region Afrin im Januar 2018 und zuletzt Besetzung des Gebiets zwischen den Städten Serekaniye und Gire Spi östlich des Euphrats im Oktober 2019, nachdem US-Präsident Trump überraschend seine Truppen dort zurückgezogen hatte. Die Türkei wolle die Orte Tall Rifat und Manbidsch von "Terroristen" der YPG "säubern", legte Erdogan kürzlich nach. Damit wolle er eine "neue Phase" im Bürgerkrieg in Syrien einleiten und "schrittweise" auch andere Regionen miteinbeziehen.

Das Regime in Ankara hat im Kontext seiner Expansionspläne nie mit dem Ziel hinter dem Berg gehalten, einen durchgängigen breiten Streifen im Norden Syriens und des Iraks zu erobern und dauerhaft zu annektieren. Die dort lebenden kurdischen, ezidischen, arabischen, assyrischen, armenischen und turkmenischen Menschen sollen vertrieben und im Zuge eines Bevölkerungsaustausches durch aus der Türkei rückgeführte syrisch-arabische Flüchtlinge sowie islamistische Söldner aus den Reihen der Al Qaida, Al Nusra, HTS (Hayat Tahrir al Sham) oder des IS ersetzt werden. Einer Ankündigung Erdogans von Anfang Mai zufolge sollen eine Million syrische Geflüchtete, die bisher in der Türkei gelebt haben, nach und nach in eigens für sie angelegte "Siedlungen" in die türkisch besetzten Teile Nordsyriens zurückgeführt werden. In den bereits okkupierten Gebieten werden Gehälter in türkischen Lira bezahlt, türkischsprachige Schulen eröffnet und eigene Gouverneure eingesetzt. Es handelt sich also um eine dauerhafte Kolonisierung, mit der auch die Stärkung dschihadistischer Milizen einhergeht, die neben den türkischen Soldaten die Besatzung absichern. Viele von ihnen waren früher Teil der IS-Miliz, die im Untergrund nach wie vor existiert und inzwischen wieder zunehmend in der Lage ist, Angriffe durchzuführen, wie der Sturm auf das IS-Gefängnis in Al-Hassaka im Januar gezeigt hat. [4]

In den völkerrechtswidrig besetzten Gebieten werden mit Hilfe von Geldern aus Kuwait und Katar im Grunde genommen riesige Lager für rückgeführte Geflüchtete errichtet, die unter türkischer Kontrolle stehen. Milliarden Euro, welche die EU zur Unterstützung der syrischen Geflüchteten in der Türkei bereitgestellt hat, dürften teilweise auch in die Versorgung dieser "Siedlungen" fließen. Da die angesiedelten Menschen fern ihrer ursprünglichen Wohnorte leben müssen und es ihnen an Erwerbsmöglichkeiten fehlt, werden sie langfristig auf internationale Hilfe angewiesen sein, die sich Erdogan vom Westen bezahlen lässt. Auf diese Weise finanziert und unterstützt die EU also die ethnische Säuberung und den Bevölkerungsaustausch wie auch die dauerhafte türkische Annexion in den südlichen Nachbarländern. [5]

Die auch als Rojava bekannte Selbstverwaltungsregion von Nord- und Ostsyrien wird unablässig in einem Krieg niedriger Intensität von der Türkei und deren dschihadistischen Söldnern angegriffen. Artilleriebeschuss der Zivilbevölkerung gehört dort mittlerweile zum Alltag, Drohnenangriffen fallen ebenso zahlreiche Menschen zum Opfer, Einrichtungen der Infrastruktur werden zerstört, die Wasserversorgung wird unterbrochen. Auf diese Weise forciert Ankara den Druck, um die Selbstverwaltung zu schwächen und die Bevölkerung zu vertreiben. Sollte es zum angekündigten Einmarsch kommen, müssten zwei bis drei Millionen Menschen fliehen. Zudem blieben dann viele Gefängnisse in der Region unbewacht, in denen ehemalige IS-Kämpfer inhaftiert sind, deren Erstarken abermals zur Gefahr für die gesamte Region würde. [6] Dschihadistische Kämpfer der Syrischen Nationalen Armee (SNA), die den Befehlen Ankaras folgen, ziehen bereits verstärkt umher, skandieren "Gott ist groß", demonstrieren Stärke und Kampfbereitschaft. Diese Söldner hat Erdogan nicht nur in Nord-Syrien, sondern auch in Libyen oder Bergkarabach eingesetzt. Die nächste türkische Invasion scheint unmittelbar bevorzustehen.

Türkei braucht grünes Licht der Garantiemächte

Was Erdogan noch zögern lässt, ist der Umstand, dass sich die USA, Russland, Iran und Syrien ungeachtet ihrer sonstigen Differenzen bislang ausnahmsweise einig sind, was ihre Ablehnung einer erneuten türkischen Offensive in Nordsyrien betrifft. Washington kooperiert mit den kurdischen Selbstverteidigungseinheiten im Kampf gegen den IS und verfolgt mit seiner militärischen Präsenz eigene Interessen im Nordosten des Landes, wo 900 US-Soldaten die Ölfelder besetzt halten. US-Außenminister Antony Blinken hat erklärt, Washington unterstütze "den Erhalt der aktuellen Waffenstillstandslinien".

Moskau und Teheran streben an, ganz Syrien wieder unter die Kontrolle der Regierung Assad zu bringen. "Wir hoffen, dass Ankara auf solche Aktionen verzichtet, die zu einer gefährlichen Verschlechterung der ohnehin komplizierten Lage in Syrien führen", sagte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa. Russland äußerte Verständnis dafür, dass die Türkei ihre Sicherheit bedroht sehe, die Sicherheit in der Region sei aber am besten zu gewährleisten, wenn Einheiten der syrischen Regierung dort stationiert würden, hieß es aus Moskau weiter. Für den Iran, einen wichtigen Handelspartner der Türkei, besteht das Konfliktpotential insbesondere darin, dass die vor allem von radikalen Sunniten gebildete SNA bis auf Raketenreichweite an schiitische Ortschaften heranrücken würde. [7]

Um einen möglichen Angriff der türkischen Armee abzuwehren, haben syrische und russische Streitkräfte ihre Stützpunkte entlang der syrisch-türkischen Grenze verstärkt. Präsident Baschar Al-Assad erklärte, sein Land werde sich einem erneuten Angriff Ankaras entgegenstellen. Patrouillen der russischen Militärpolizei entlang der Grenze wurden verstärkt und am Flughafen von Kamischli Flugabwehrgeschütze installiert. Die russischen Streitkräfte haben gemeinsame Beobachtungsflüge mit der syrischen Luftwaffe demonstrativ verstärkt. Die mehrheitlich kurdisch-arabischen Syrischen Demokratischen Kräfte (SDK) zeigten sich bereit, die Verteidigung im Falle einer türkischen Aggression mit syrischen und russischen Einheiten zu koordinieren. [8]

Es gilt jedoch zu bedenken, dass die türkischen Drohnen im von den USA und Russland kontrollierten syrischen Luftraum unbehelligt unterwegs sind und die Artillerieangriffe trotz des offiziell herrschenden Waffenstillstands nicht unterbunden werden. Man kann Russland und den USA als Garantiemächten für das Waffenstillstandsabkommen mit der Türkei vom Oktober 2019 also durchaus zum Vorwurf machen, ihrer Verantwortung nicht nachzukommen. Sie lassen dem Krieg niedriger Intensität seinen Lauf, so dass sich die Frage stellt, was Erdogan ihnen zu bieten hat, um im Gegenzug auch grünes Licht für eine weitere Invasion und Annexion zu bekommen.

NATO-Beitritt spielt Erpressung in die Hände

Der Ukrainekrieg spielt der Türkei in die Hände, die ihren Platz zwischen den Stühlen durch geschicktes Taktieren in eine Position der Stärke verwandeln könnte. Erdogan hat die Steilvorlage aggressiv aufgenommen und klargestellt, dass er dem Beitritt Schwedens und Finnlands in die NATO nur unter der Prämisse zustimmen würde, dass diese Staaten ihre Unterstützung für die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien aufgeben. Schweden hat zwar erklärt, dass nur humanitäre Unterstützung in Rojava geleistet, aber keine politische Bewegung unterstützt wird, doch die türkische Regierung lässt nicht locker. Solange sie sich nicht entscheidet und somit keine der beiden Seiten verprellt, sondern sie gegeneinander ausspielt, könnte sie von Moskau und Washington Zustimmung zur Intervention in Nordsyrien erwirken.

Erdogan hat sein Veto damit begründet, dass die beiden Länder "Terrororganisationen" wie die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unterstützten und Waffenlieferungen an die Türkei ablehnen. Die PKK ist in Schweden und Finnland verboten. Während die Türkei jedoch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) und deren bewaffnete Arme YPG und YPJ mit der PKK gleichsetzt, sind diese in den nordischen Ländern nicht verboten - und auch nicht in der EU oder in den USA. Sie waren sogar gefeierte Helden im erfolgreichen Kampf gegen den IS. Als dann die Streitkräfte des NATO-Mitglieds Türkei in die syrisch-kurdischen Gebiete einmarschierten, ließ man sie bekanntlich gewähren, doch stoppten einige Länder, darunter Schweden, Finnland und der NATO-Staat Norwegen, danach Waffenexporte in die Türkei.

Ankaras Forderungskatalog listet in Schweden und Finnland insgesamt 33 Personen auf, deren Auslieferung verlangt wird, darunter Schriftsteller, Medienschaffende und Aktivisten, die sich kritisch über das türkische Regime geäußert haben. Schweden hatte seit den Siebziger Jahren eine vergleichsweise großzügig gestaltete Asylpolitik, so dass auch viele kurdische Dissidenten aufgenommen wurden und derzeit etwa 150.000 Menschen kurdischer Herkunft im Land leben. Zwangsläufig geht nun unter ihnen die Angst um, Schweden könnte seine Haltung ändern, so dass Schutzsuchende kurdischer Herkunft ihren Aufenthaltsstatus verlieren. Der türkische Botschafter in Stockholm hatte zwischenzeitlich sogar Terrorismusvorwürfe gegen die kurdischstämmige Abgeordnete Amineh Kakabaveh erhoben und deren Auslieferung an die Türkei gefordert, obwohl die schwedische Staatsbürgerin nicht einmal familiäre Wurzeln in diesem Land hat, sondern aus den kurdischen Gebieten des Iran stammt. Botschafter Hakki Emre Yunt bezeichnete die Forderung später als "Missverständnis".

Die 1970 im Iran geborene Amineh Kakabaveh wurde mit 13 Jahren Widerstandskämpferin bei den Peschmerga, floh später nach Schweden, dessen Staatsbürgerin sie heute ist, und hat sich als Aktivistin für Feminismus und gegen Rassismus einen Namen gemacht. 2016 war sie "Schwedin des Jahres". Kakabaveh kam als Abgeordnete der schwedischen Linkspartei 2008 ins Parlament, trat 2019 wegen inhaltlicher Differenzen aus der Partei aus, blieb aber als Unabhängige im Riksdag. Ihre Stimme sicherte der Sozialdemokratin Magdalena Andersson im Herbst 2021 die Wahl zur Ministerpräsidentin, wofür die Sozialdemokraten im Gegenzug eine Zusammenarbeit mit der PYD im kurdisch-selbstverwalteten Rojava zusagten. [9]

Die knappen Mehrheitsverhältnisse im schwedischen Parlament hoben Kakabaveh abermals ins Rampenlicht, als ihre Enthaltung Anfang Juni den Misstrauensantrag gegen den sozialdemokratischen Justizminister Morgan Johansson scheitern ließ. Dabei stellte sie klar, dass sie auf die Einhaltung des Abkommens mit Rojava besteht und man sich den Forderungen Erdogans nicht unterwerfen dürfe. In der Türkei säßen mehr als 15.000 Menschen aus politischen Gründen in Haft, 5.000 davon gehörten der prokurdischen HDP an, darunter gewählte Volksvertreter. Zudem seien fast 100 Journalistinnen und Journalisten inhaftiert. Die Türkei sei einer der aggressivsten Staaten im Nahen Osten, mit Unterstützung der NATO zerstöre ihre Armee Kurdistan. Dagegen verteidigten sich die Kurdinnen und Kurden.

Ungeachtet der Absprache mit Magdalena Andersson zur Unterstützung der kurdischen Bevölkerung habe der schwedische Geheimdienst in Kollaboration mit dem Geheimdienst der Türkei viele Freiheitskämpfer aus Rojava, die nun als politische Flüchtlinge in Schweden leben, als Terroristen gelistet. Deswegen hätten diese Menschen, die mitgeholfen haben, die christliche Minderheit ebenso wie die Eziden zu retten, nun Probleme bei ihrer Einbürgerung in Schweden. Amineh Kakabaveh spricht sich gegen den Beitritt zur NATO aus, die keinen Frieden bringe, sondern die bestehenden Konflikte verschärfe. Schweden solle seine zweihundertjährige Neutralität beibehalten. Was die Welt brauche, sei mehr Friedensdiplomatie. [10]

Tückischer Kettenhund der NATO und EU

Indem Recep Tayyip Erdogan unentwegt den tobenden Kettenhund gibt - unersetzlich in Konfrontation mit den Feinden, doch so unberechenbar, dass er sich unversehens in seine Herren verbeißt -, fährt er den größtmöglichen Zugewinn für den nationalistischen Drang türkischer Staatsräson und expansionistischer Ambitionen ein. Indem er bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus dem Ruder läuft und erst durch erhebliche Zugeständnisse zur Rückkehr in die große Meute gelockt werden kann, bedient er nicht nur die Klaviatur des machiavellistischen Staatslenkers, sondern insbesondere auch das Geschäft seiner Schutzmächte, die ihn decken, alimentieren und mit Waffen versorgen. Jeder Staat habe seine Terroristen, die zu verfolgen und zu eliminieren sein gutes Recht sei, bringt der türkische Machthaber die grundsätzliche Übereinkunft auf den Punkt, wie mit Staatsfeinden umzugehen sei.

Erdogan ist für die westlichen Mächte gerade deshalb so wertvoll, weil er in aller Offenheit die Drecksarbeit für sie verrichtet und sie die Verantwortung für die dabei verübten Grausamkeiten unter demonstrativem Bedauern auf ihn abwälzen können. Feuert er auf den kurdischen Gesellschaftsentwurf und dessen Widerstand, um ihn in genozidalem Wüten für immer zu brechen und auszulöschen, verrichtet er zugleich das Werk der Kommandohöhen in Washington, Berlin und Brüssel, deren Geheimdienste eng mit dem türkischen MIT zusammenarbeiten. Wann immer sich Kritik regen mag, die Bundesregierung, EU oder NATO nehme Erdogan nicht an die Kandare, hat dieser längst neue Streitfelder eröffnet und Vorwände geschaffen, warum es kontraproduktiv wäre, ihm gerade jetzt in die Parade zu fahren. Er hält uns die Flüchtlinge vom Leib, räumt mit den Kommunisten und radikalen Kurden auf, nimmt die dschihadistischen Halsabschneider als Söldner an die Leine und schafft es dank seiner Kontakte zum Kreml vielleicht sogar, zu gegebener Zeit einen Siegfrieden des Westens in der Ukraine als Vermittler auszuhandeln. Dafür nimmt man nur allzu gern den fehlgeleiteten Vorwurf in Kauf, Erdogan tanze der hiesigen Politszene auf der Nase herum, die allenfalls der Duldsamkeit oder Gleichgültigkeit, doch keinesfalls der Täterschaft zu bezichtigen sei. Solange kurdische Stimmen vergebens anmahnen, dass es der Krieg der NATO ist, den das türkische Regime nach Rojava trägt, greifen Abwehrmaßnahmen gegen die Invasionspläne Ankaras zu kurz.


Fußnoten:

[1] www.sevimdagdelen.de/voelkerrecht-muss-auch-fuer-nato-partner-erdogan-gelten/

[2] www.tagesspiegel.de/wirtschaft/trotz-hoechster-inflationsrate-seit-1998-tuerkei-laesst-leitzins-unveraendert/28450004.html

[3] politik.watson.de/international/analyse/726848302-tuerkei-erdogans-krieg-gegen-die-pkk-der-antiterrorkampf-im-nordirak

[4] jacobin.de/artikel/der-turkische-nato-krieg-gegen-kurdistan-nordirak-erdogan/

[5] www.heise.de/tp/features/Freiwillige-Rueckfuehrungen-aus-der-Tuerkei-Neues-Gaza-in-Nordsyrien-7103641.html

[6] www.jungewelt.de/artikel/427604.neues-vom-kriegsbündnis-eine-schutzzone-für-islamisten.html

[7] www.express.de/politik-und-wirtschaft/tuerkei-steht-vor-militaeroffensive-greift-erdogan-wirklich-bald-an-100151

[8] www.jungewelt.de/artikel/427869.ankaras-invasionspläne-bereit-zur-abwehr.html

[9] www.heise.de/tp/features/Regierungskrise-in-Schweden-Nato-Traum-bringt-Kritik-an-Tuerkei-zum-Schweigen-7132271.html

[10] www.jungewelt.de/artikel/428870.kurdischer-freiheitskampf-wenn-jemand-ein-terrorist-ist-dann-erdogan.html


27. Juni 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 175 vom 2. Juli 2022


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