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INTERVENTION/023: Das Interventionsdilemma - Der Westen und das Elend der "Beschützten" (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 146/Dezember 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Das Interventionsdilemma
Der Westen und das Elend der "Beschützten"

von Wolfgang Merkel


Kurz gefasst: Spätestens seit dem Kosovo-Konflikt im Jahr 1999 werden bewaffnete Interventionen zum Schutze der Zivilbevölkerung vor ihren mörderischen Potentaten "humanitäre Interventionen" genannt. Es gibt bei humanitären Interventionen eine normativ wie logisch enge Kopplung des ius ad bellum an das ius post bellum. Das humanitäre Interventionsgebot müsste durch den Aufbau eines funktionierenden Staates, wenn möglich eines Rechtsstaates, ergänzt werden. Dies birgt hohe Kosten, die zu tragen die Bevölkerung der demokratischen Interventionsstaaten meist nicht bereit ist. Das ist das ethisch-demokratische Dilemma der humanitären Interventionen.

Hoffnungen stiegen hoch nach dem Ende des Kalten Krieges. Mit dem Kollaps der Sowjetunion und der Demokratisierung der Staaten des Warschauer Paktes schien die Bipolarisierung der Welt der Vergangenheit anzugehören. Von einer friedlichen multipolaren Weltordnung war die Rede.

Idealisten, Neokantianer und Konstruktivisten träumten von der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Sie vertrauten auf die Kraft des vernünftigen Arguments und hofften auf eine ökonomische Friedensdividende. Noch bevor allerdings die Dividende auch nur auf dem Papier der machtvergessenen Idealisten verteilt war, brach Jugoslawien auseinander. Archaisch anmutende ethno-nationalistische Motive hatten sich mit dem Machtkalkül politisch-militärischer Führer gemischt und zu einem blutigen Bürgerkrieg in Europa geführt. Die Nato intervenierte, um weitere ethnische Säuberungen, Massaker oder gar einen Genozid zu verhindern. Die Intervention, die sich den Namen "humanitär" zulegte, war zwar nicht vom Völkerrecht gedeckt, verletzte das ius ad bellum (das Recht zum Krieg) und missachtete bisweilen bei seinen Luftschlägen auch das ius in bello (das Recht im Krieg). Dennoch kümmerte sich die internationale Gemeinschaft nach Kriegsende mit einem gewaltigen Ressourceneinsatz um den Aufbau einer friedlichen rechtsstaatlichen Ordnung im multi-ethnischen Staat Bosnien-Herzegowina. Das könnte man die Gerechtigkeit, wenn nicht gar das Recht nach dem Kriege nennen (ius post bellum).

Dies sollte im weiteren Verlauf nicht immer der Fall sein. Im Oktober 2001 starteten die USA und Großbritannien in Afghanistan die Operation Enduring Freedom. Die Nato sekundierte, ein Mandat des UN-Sicherheitsrats lag vor. 2003 belog die US-Regierung unter George W. Bush die Weltöffentlichkeit, als sie gefälschte "Beweise" für die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak des Saddam Hussein vorlegte. Die USA, das Vereinigte Königreich, Australien und Polen griffen den Irak ohne ein Mandat des Sicherheitsrats an. Im Frühjahr 2011 ermächtigte die Resolution 1973 des Sicherheitsrats die Intervention in Libyen, um das Gaddafi-Regime daran zu hindern, sich mit Massakern an der Macht zu halten. Zum ersten Mal wurde in einer UN-Resolution die entstehende völkerrechtliche Norm Responsibility to Protect (R2P) genannt. R2P schränkt die staatliche Souveränität dann ein, wenn eine Regierung nicht in der Lage ist, ihre Bevölkerung gegen Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, massive Kriegsverbrechen oder ethnische Säuberungen zu schützen, oder diese Verbrechen gar selbst begeht.

Was haben diese Interventionen gemeinsam? Bestimmte westliche Staaten sind bereit, gegen verbrecherische Regime militärisch zu intervenieren, mit oder ohne UN-Mandat. Sie stürzten Diktaturen, wofür es kein Mandat, wohl aber moralische Gründe gab. Gemeinsam haben diese Interventionen noch ein Drittes: Die Interventionsmächte "enthaupteten" nicht nur Regime, sondern zerstörten die innere Staatlichkeit dieser Länder und damit den Staat selbst. Sie hinterließen eine Hobbes'sche Welt, in der mörderische Milizen untereinander und mit den Resten des Staates regellose Kriege führen. Kann dies rechtens oder gar gerecht sein? Obliegt den Interventionsstaaten nicht eine moralische Pflicht, den Staat wiederaufzubauen, den sie zerstörten?

Spätestens seit dem Kosovo-Konflikt im Jahr 1999 werden bewaffnete Interventionen zum Schutze der Zivilbevölkerung vor ihren mörderischen Potentaten "humanitäre Interventionen" genannt. Humanitäre Interventionen verlangen nach einem anderen Ende als Verteidigungskriege. Das ius ad bellum muss von Beginn an enger an das ius post bellum gebunden werden. Das hat Folgen - insbesondere Pflichten für Mächte, die intervenieren, aber auch für die internationale Gemeinschaft insgesamt.

Denn das Recht zum Krieg, hier: die Unterbindung schwerster Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bedarf zu seiner vollen Rechtfertigung der Ergänzung des Rechts nach dem Krieg. Dies ist vor allem die Verpflichtung der Interventionsmächte, Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Das geschieht am besten, wenn zumindest ein Staat etabliert wird, am besten ein Rechtsstaat und eine Demokratie. Es gibt bei humanitären Interventionen eine normativ wie logisch enge Kopplung des ius ad bellum an das ius post bellum. Humanitäre Interventionen müssen durch demokratische Interventionen ergänzt und damit zu ihrem Ende gebracht werden. Hybride Regime, irgendwo zwischen Demokratie und Diktatur angesiedelt, erfüllen diesen Zweck nicht. Denn gerade bei ihnen ist, wie sich empirisch zeigen lässt, die Gefahr eines Bürgerkrieges am größten.

Diese Maxime wird vom geltenden Völkerrecht nicht gedeckt. Sie würde als ein zu tiefer Eingriff in die nationale Souveränität oder das Selbstbestimmungsrecht der Völker gelten. Auch in der modernen Philosophie internationaler Beziehungen von John Rawls bis Michael Walzer gilt das Gebot: Siegermächte sollten so schnell wie möglich das Land verlassen. Das Recht auf politische Selbstbestimmung der besiegten Nation gebietet dies.

Doch was ist, wenn es die Nation gar nicht gibt, sondern nur Fragmente eines Staatsvolkes: Völker, Ethnien, Religionsgemeinschaften, die untereinander zutiefst verfeindet sind und ohne die Besatzung durch fremde Truppen rasch einem Bürgerkrieg anheimfallen würden? Was ist, wenn die religiös imprägnierte Kultur eines Landes zur massiven Unterdrückung von Minderheitsethnien, Religionsgemeinschaften oder Frauen tendieren? Darf man die Gesellschaft dann auch nicht, wie Rawls sagt, "rekonstruieren"?

Rechtsstaat und Demokratie lassen sich schwerlich von außen etablieren. Deutschland, Japan und Italien nach 1945 blieben die Ausnahme. Wenn auch das maximale Programm der rechtsstaatlichen Demokratie meist nicht zu realisieren ist, gibt es doch die moralische Pflicht für die Interventionsmächte, das wiederherzustellen, was sie vorher zerstört haben: den Staat mit seinem Kern des Gewaltmonopols. Doch diesem moralischen Gebot der politischen Vernunft folgen die Interventionsmächte nur selten. Afghanistan, der Irak und Libyen sind heute nach den militärischen Interventionen Länder ohne funktionierende Staatlichkeit. Das vorherige Gewaltregime wurde durch die Gewalt marodierender Milizen in einem entstaatlichten Raum ersetzt. Obgleich uns profunde Gerechtigkeitskriterien zur Beurteilung fehlen, was nun schlechter sei, müssen die demokratischen Interventionsstaaten sich vorwerfen lassen, fahrlässig Hobbes'sche Bürgerkriegswelten im Nahen Osten herbeigeführt zu haben, die zu mehr Opfern führen, als sie das diktatorische Regime zu verantworten hatte.

Humanitäre Interventionen können gewichtige moralische Gründe haben. Für diese besitzen demokratische Staaten eine größere Sensibilität als Diktaturen. Allerdings haben Demokratien gerade wegen ihrer inneren demokratischen Strukturen besondere Begrenzungen für Interventionen. Denn selbst wenn Bürger der militärischen Intervention ihrer Regierung anfangs zustimmen, werden sie nach einer gewissen Zeit unwillig, die Kriegskosten zu tragen: finanziell und menschlich. Dieser Unwille zwingt die demokratischen Regierungen, ihre Truppen abzuziehen, wollen sie nicht die nächsten Wahlen verlieren.

Insofern haben Demokratien einen inneren Mechanismus gegen die Gerechtigkeit nach dem Krieg, also dagegen, so lange im Lande zu bleiben, bis kein Bürgerkrieg mehr droht. Dieses mitzudenken, sollte aber zur moralischen Pflicht und politischen Klugheit demokratisch gewählter Regierungen gehören, wenn sie sich für bewaffnete "humanitäre Interventionen" entscheiden. Diesem Interventionsdilemma wollen die westlichen Staaten entgehen, indem sie die vermeintlich gute Seite der Bürgerkriegsparteien aufrüsten. In der Gemengelage des Nahen Ostens sind aber solche guten Partner nur schwer auszumachen. Die Freunde von heute, die in der Vergangenheit eher Gegner waren, könnten morgen schon die Feinde in einer neuen Bürgerkriegskonstellation sein. Dies war bei den Mudschahedin und Taliban der Fall in Afghanistan. Es trifft zu auf die Aufrüstung Saddams im Krieg des Iraks (1980-1988) gegen den Iran des Ayatollah Khomeini. Nur zwei Jahre später wurde dann der vom Westen aufgerüstete Saddam Hussein mit Hilfe einer groß angelegten Intervention aus Kuwait vertrieben. Rund zehn Jahre später folgte auf die erste Tragödie die Farce im zweiten Golfkrieg. Erneut zehn Jahre später haben die USA mit Hilfe der Türkei und der Finanzierung durch Katar und Saudi-Arabien Waffen auf den Kriegsschauplatz Syrien geschleust. Assad sollte gestürzt werden. Die Waffen sind in die Hände der sogenannten demokratischen Opposition gelangt, oder was die USA gerne dafür hielten. Allerdings nicht nur in diese. Die Bewaffnung von Assads Opposition hat den Bürgerkrieg nicht beendet, sondern verlängert und die Terrormiliz IS (Islamischer Staat) gestärkt. Mehr als 150.000 Tote sind bisher zu beklagen. Daran sind auch die westlichen Waffenlieferungen in welche Hände auch immer mitverantwortlich. Heute sollen die Peschmerga, die "guten Kurden", bewaffnet werden. Bei der kurdischen Arbeiterpartei PKK zögert der Westen noch. Mittlerweile werden Waffen auch an islamisch-fundamentalistische Parteien geliefert, wenn sie nur den IS zu bekämpfen versprechen. Die Fronten ändern sich fast täglich - und mit ihr die kurzfristigen Partner des Westens. Neue Fronten werden sich auftun, möglicherweise auch die alte Kluft zwischen Türken und Kurden. Nur ist dann die kurdische Seite besser gerüstet.

Tatsächlich können wir heute nicht wissen, wen die Waffenlieferungen mittelfristig stärken und ob die so Gestärkten nicht morgen auch die Feinde von Frieden und Menschenrecht sein werden. Mit der Norm Responsibility to Protect haben die Waffenlieferungen in Bürgerkriegsgebiete nichts zu tun. Mit humanitären Interventionen auch nicht. Boots on the ground, den Einsatz von Bodentruppen, kann sich aber gegenwärtig nicht einmal die US-Regierung vorstellen; ihre Bürger können das noch viel weniger. Von den Demokratien Europas braucht nicht geredet zu werden. Moralisch aber wäre eine humanitäre Intervention on the ground eher zu rechtfertigen als wohlfeile Waffenlieferungen oder Angriffe aus der Luft, die zuverlässig wie stets das ethische wie rechtliche Gebot verletzen, keine Zivilisten zu töten. Demokratisch ist eine Bodenoffensive aber in den potenziellen Interventionsländern nicht durchzusetzen.

Das ist das Dilemma. Die Demokratien haben keine Antwort. Das humanitäre ius ad bellum werden sie weiter je nach eigenen geostrategischen Überlegungen und innenpolitischen Opportunitäten auslegen; die "Verantwortung zu schützen" wird eine disponible, weiche völkerrechtliche Norm bleiben; das ius in bello wird unter dem menschlich wie demokratisch verständlichen Imperativ, die eigenen Soldaten zu schützen, zuungunsten der Zivilisten weiter verletzt werden. Das ius post bellum aber dürfte selbst in der weichen Formulierung einer "Verantwortung" wenig Chancen haben, zu einer internationalen Rechtsnorm zu werden. Sie umzusetzen, ist den Demokratien und ihren Bürgern zu teuer.


Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft und Demokratieforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zudem ist er Co-Leiter des WZB Rule of Law Centers. Eine gekürzte Version dieses Beitrags ist in der Frankfurter Rundschau vom 20./21. September erschienen.
wolfgang.merkel@wzb.eu


Literatur

Merkel, Wolfgang/Grimm, Sonja (Ed): War and Democratization. Legality, Legitimacy and Effectiveness. London: Routledge 2009.

Rawls, John: "The Law of Peoples". In: Critical Inquiry, 1993, Vol. 20, No. 1, pp. 36-68.

Walzer, Michael: Just and Unjust Wars: A Moral Argument with Historical Illustrations. New York, NY: Basic Books 1977.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 146, Dezember 2014, Seite 19-21
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2015

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