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EINSPRUCH/001: Hartz-IV-Abhängige - vom angeblichen Betrug der Betrogenen (SB)


Hartz-IV-Abhängige - vom angeblichen Betrug der Betrogenen


Ob man sich die finanziellen Begünstigungen des ehemaligen Bundespräsidenten Wulff, die Boni in Millionenhöhe, die sich Bänker gegenseitig zuschieben, die sogenannten Lustreisen von Spitzenmanagern oder die neue Diäten-Erhöhung unserer Politiker ansieht - offenbar gibt es in Zeiten der Finanzkrise immer noch einige, die den vielbeschworenen Gürtel nicht enger schnallen müssen. Selten kommt es in den Medien zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Hintergründen der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen arm und reich. Skandalisierte Korruptionsaffären kommen da gerade recht, um das Grundsätzliche und scheinbar Unausweichliche einer sich in extremer Weise zuspitzenden Verarmung verschleiern zu können.

Um den von der Hartz-IV-Mangelverwaltung betroffenen oder bedrohten Menschen dennoch plausibel zu machen, weshalb sie sich immer mehr einschränken müssen, wird neben der "Überalterung der Gesellschaft" auch immer gern das "Sozialschmarotzertum" ins Feld geführt und der Blick der Öffentlichkeit mittels medial spektakulär aufbereiteter Artikel auf diejenigen gelenkt, die sich am wenigsten wehren können: die Hartz-IV-Empfänger. Sie tragen die Schuld an allem, schließlich sind sie es, die vom steuerzahlenden Bürger quasi mit "durchgefüttert" werden müssen.

Groß ist also die Empörung, wenn solch ein armer Schlucker sich einmal etwas gönnt, und sei es nur eine Schachtel der ohnehin so verpönten Zigaretten. In dieses Horn trötete am 24. Januar 2012 auch die Dithmarscher Landeszeitung [1], indem sie einen vermeintlichen "Sozialbetrug" anprangerte. Sie berichtete, wie sich zwei Hartz-IV-Empfänger auf angeblich unlautere Weise Genußmittel verschafft hätten: In einem Supermarkt hätten sie sich mit dem vom Jobcenter ausgestellten Lebensmittelgutschein mehrere Sechser-Pakete Mineralwasser gekauft, deren Inhalt aber sogleich weggeschüttet, um sich anschließend im selben Markt von dem Pfandgeld Zigaretten kaufen zu können. Bei dieser "Frechheit" wurden sie beobachtet. Der Ruf nach einer stärkeren Kontrolle scheint da wohl der einzig logische nächste Schritt zu sein.

Diese Ansicht teilten nicht unbedingt alle Leser - zumindest einer zeigte sich solidarisch, wie man zwei Tage später lesen konnte. In seinem Leserbrief "Immer auf die Schwächsten" brach er eine Lanze für diejenigen, die - meist völlig unverschuldet - ins Hartz-IV-Lager abdriften: "Haben wir nichts besseres zu tun, als uns über den sogenannten Mißbrauch armer Gutscheinempfänger aufzuregen?" [2] Der Skandal liege seiner Meinung nach nicht bei den jungen Menschen, die mit Gutscheinen in Höhe von 132 Euro im Monat klar kommen müssen, sondern bestehe darin, daß die Jobcenter auch noch überprüfen, was von diesen Gutscheinen gekauft werde. Besonders skandalös fand er die Kürzung vieler 1-Euro-Maßnahmen, die für die Betroffenen die Möglichkeit eines kleinen Hinzuverdienstes ausschlössen. Pflicht der Presse sei es, so befand der engagierte Leser, diese Mißlichkeiten anzuprangern, und nicht über den Mißbrauch von Gutscheinempfängern zu berichten.

Tatsächlich stecken Hartz-IV-Empfänger aufgrund des von staatlicher Seite ausgeklügelten Belohnungs- und Bestrafungssystems in einer Schlinge, die kaum noch enger zu ziehen ist: Wenn sie eine angebotene Arbeitsstelle oder eine Qualifizierungsmaßnahme ablehnen, erhalten sie kein Bargeld mehr, das ihnen noch einen gewissen Freiraum lassen würde. Stattdessen bekommen sie besagte Lebensmittelgutscheine. So kann es sein, daß ein Jugendlicher, der sich weigert, einen vielleicht weit von Familie und Freunden entfernt liegenden Arbeitsplatz anzutreten, in der Weise sanktioniert wird, daß er in den ersten drei Monaten keinen einzigen Cent erhält. Erwachsenen werden dagegen bei der zweiten Sanktion 60 Prozent der Zuwendung gestrichen, danach kommt es zu Nullrunden, sprich: zu einer Lohnrunde ohne Erhöhung.

Mit der Austeilung von Lebensmittelgutscheinen ist die Überwachung und Gängelung noch nicht zu Ende: die Scheine werden von den Läden, in denen sie eingewechselt worden sind, als Beleg ans Jobcenter zurückgegeben. "Und wir schauen uns an, was denn so gekauft wurde" [1], so die Mitarbeiterin vom Jobcenter Dithmarschen. Auf diese Weise fliegt der vermeintliche "Mißbrauch" - wenn der Betroffene nicht, wie in dem beschriebenen Fall, direkt von argwöhnischen Bürgern ausgespäht wird - später beim Jobcenter auf, und er muß sich Fragen ob seines "merkwürdigen Kaufverhaltens" wie etwa "Wozu brauchen Sie denn das?" [1] gefallen lassen. Wenn er nicht in der Lage ist, das plausibel zu machen, würde geprüft werden, so die Mitarbeiterin des Jobcenters in der DLZ [1], ob der Gutschein überhaupt noch ausgestellt werden könne.

Es ist ohnehin schon entwürdigend genug, daß man nicht einmal gegenüber seinen Freunden oder den eigenen Kindern spendabel sein kann, daß man von vielen Menschen im eigenen Umfeld als Schmarotzer und Nichtsnutz wahrgenommen wird und sich inmitten eines Überangebots an Konsumartikeln nie etwas gönnen kann. Doch die Entwürdigung setzt sich immer weiter fort bis dahin, daß man sich für eventuelle Ernährungsgewohnheiten vor Ämtern rechtfertigen muß.

Von Betrug kann in obigem Falle keineswegs die Rede sein, denn der Betrag, den die beiden Hartz-IV-Abhängigen per Lebensmittelgutschein erhalten haben, bleibt derselbe. Falls sie an einer Stelle sich einen kleinen Luxus leisten, werden sie an anderer Stelle dafür knapsen müssen. Wenn man denn überhaupt von einer Schädigung sprechen wollte, kommen somit im Grunde nur die Betroffenen selbst zu Schaden. So oder so: Den beiden findigen jungen Leuten seien jedenfalls die auf diese Weise "erworbenen" Zigaretten und mit ihnen ein kleines Stückchen Freiheit inmitten eines beinahe lückenlosen Überwachungssystems herzlich gegönnt!


Anmerkungen:

[1] "Gutscheine ausgenutzt", Dithmarscher Landeszeitung vom 24. Januar 2012, Seite 9

[2] Leserbrief "Immer auf die Schwächsten", Dithmarscher Landeszeitung vom 26. Januar 2012, Seite 10


24. Februar 2012