Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

FRAGEN/002: Annette Groth zur Situation der Flüchtlinge in Jordanien und im Libanon (Christine Wicht)


Annette Groth (MdB, Die Linke) bereiste mit dem Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe vom 11.4.-19.4.2012 den Libanon und Jordanien.

Interview von Christine Wicht



Frage: Was war das Anliegen dieser Reise?

Annette Groth: Der Schwerpunkt der Reise war die Situation in Syrien und die Situation der Flüchtlinge in Jordanien und im Libanon. Ein anderer Schwerpunkt war die Situation der palästinensischen Flüchtlinge in beiden Ländern.

Frage: Konnten Sie sich in Jordanien ein Bild von der Lage der syrischen Flüchtlinge machen?

Annette Groth: Ja, bei unserem Besuch in Ramptha, das liegt im Norden Jordaniens, haben wir etliche Flüchtlinge getroffen. Einige von ihnen waren erst einige Tage in Jordanien. Der UNHCR hat 7500‍ ‍Flüchtlinge aus Syrien seit März 2011 registriert. Mit der Registrierung bekommen Flüchtlinge Zugang zu Essen und medizinischer Versorgung, außerdem können Kinder Schulen besuchen. Es gibt aber auch viele nicht-registrierte Flüchtlinge, die von Familienangehörigen oder Freunden in der Grenzregion aufgenommen wurden.

Frage: Jordanien hat ja seit 1948 sehr viele palästinensische Flüchtlinge aufgenommen, wie viele Flüchtlinge leben mittlerweile in Jordanien?

Annette Groth: Jordanien ist ungefähr so groß wie Österreich, hat 6,1 Millionen Einwohner, davon sind geschätzt 50-65% Einwohner palästinensischen Ursprungs, außerdem leben dort noch weitere Flüchtlinge, wie 0, 5 % Tscherkessen aus Tschetschenien, 01,% Armenier, 0,1% Türken und 0,1% Kurden.

Frage: Wie viele syrische Flüchtlinge leben in Jordanien und wie leben sie?

Annette Groth: Die Anzahl der Syrer in Jordanien wird allgemein auf 70.000 geschätzt. Man muss aber dazu sagen, dass die Zahlen auch nach oben korrigiert werden, um Geld von UN-Organisationen und anderen Hilfsorganisationen zu erhalten. Es gibt bislang keine Flüchtlingscamps, der jordanische Staat will vermeiden, dass sich die Leute einrichten. Jordanien hat seit 1948 sehr viele Palästinenser aufgenommen. Es ist verständlich, dass der jordanische Staat kein Interesse an weiteren Flüchtlingscamps hat, die bedeuten würden, dass die Flüchtlinge für lange Zeit im Land bleiben. Aus diesem Grund erfolgt die Unterbringung bislang in Privathäusern. So hat z.B. ein reicher Jordanier, syrischer Abstammung, sechs Häuser für die Unterbringung für syrische Flüchtlinge bereitgestellt. Zusätzlich mieten syrische Flüchtlinge auch kleine Wohnungen an, die jetzt aber mit steigenden Flüchtlingszahlen auch teurer werden. Das bedeutet, dass auch der finanzielle Bedarf der Flüchtlingsorganisationen dementsprechend wächst.

Frage: Entwickelt sich die Unterbringung der Flüchtlinge zu einem Geschäft?

Annette Groth: Die Familie, die ich besucht habe, zahlt jeden Monat für eine kleine 2-Zimmer-Wohnung 90 jordanische Dinar (96 Euro) und darüber hinaus aber 25 Dinar (27 Euro) allein für Wasser. Auf meine Frage, wie sie das bezahlen, antwortete der Vater, der krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist, dass seine beiden 11 und 13‍ ‍jährigen Söhne bis vor kurzem 10 Stunden pro Tag gearbeitet hätten. Ein Sohn war in einem Gemüseladen und der andere als Lebensmittelbote tätig. Seit kurzem gehen die beiden allerdings in die Schule, somit fällt das Einkommen weg. Die Familie wird nun von humanitären Organisationen versorgt. Ein Großteil der Flüchtlingskinder ist stark traumatisiert. In einem der Häuser gab es einen Raum, in dem Psychologen und Sozialpädagogen versuchen die Traumatisierung der Kinder spielerisch aufzuarbeiten.

Frage: Sie haben mit seiner königlichen Hoheit Prinz Al Hassan bin Talal von Jordanien gesprochen. Hat er sich zur Lage im Nahen Osten geäußert?

Annette Groth: Seine königliche Hoheit Prinz Al Hassan bin Talal von Jordanien (Bruder des verstorbenen König Hussein I. und über die Grenzen Jordaniens hinaus bekannter Intellektueller), wies auf die zunehmenden Konflikte zwischen den unterschiedlichen muslimischen Glaubensrichtungen und auf die zunehmende Fragmentierung des Nahen und Mittleren Osten hin. So sei auch die Arabische Liga gespalten. Die Türkei und Israel nannte er die "ökonomischen Schwergewichte" in dieser Region, die dementsprechend auch eine große Rolle spielen.

Frage: Hat sich Prinz Al Hassan zum Bürgerkrieg in Syrien geäußert?

Annette Groth: Seiner Meinung nach handelt es sich in Syrien um einen Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und Iran. Die Wahabiten in Saudi-Arabien sind eine konservative, dogmatische Richtung der Sunniten, sie unterstützen die Salafisten. Saudi-Arabien hat aller Wahrscheinlichkeit nach schon Waffen an die Freie Syrische Armee geliefert, wie in Jordanien offen kolportiert wird. Der schiitische Iran hingegen unterstützt das syrische Militär.

Frage: Waren die Demonstrationen in Katar und Bahrein ein Thema auf Ihrer Reise?

Annette Groth: Das wahabitische Saudi-Arabien unterstützt das Regime in Bahrein und hat in der Vergangenheit bereits Panzer gegen friedliche Demonstranten eingesetzt. Die große Gefahr ist die zunehmende Stärkung der Salafisten, die mit den Wahabiten kooperieren. Auch in Ägypten sind die Salafisten aus den letzten Wahlen sehr gestärkt hervor gegangen. Sämtliche Waffenlieferungen an Saudi-Arabien werden zur Niederschlagung der Demokratiebewegung in der Region eingesetzt. Das hat sich bei der Repression der friedlichen Proteste in Bahrain mit Hilfe saudi-arabischer Panzer deutlich gezeigt.

Frage: Wie sieht Prinz Hassan die Lieferung der 270 Panzer aus Deutschland?

Annette Groth: Ich habe ihm als LINKE und Friedensbewegte mitgeteilt, dass es unser Ziel ist, die Lieferung der Panzer an Saudi-Arabien zu verhindern. Dies nahm Prinz Hassan sehr positiv auf. Er verpackte die Situation in ein englisches Wortspiel: "Die Region bewegt sich von MAS (Mutual assured Security - gegenseitige garantierte Sicherheit) zu MADness (Verrücktheit - Mutural assured distruction - gegenseitige garantierte Zerstörung). Daher sei seiner Meinung nach Abrüstung die einzige Alternative, um Frieden zu schaffen oder um überhaupt erst einmal einen Weg für einen Frieden in der Region zu beschreiten.

Frage: Sie sind auch in den Libanon gereist. Wie ist dort die Lage seit der Regierungsbildung und welche Rolle spielen die engen Beziehungen zu Syrien?

Annette Groth: Der Libanon hat 4,8 Millionen Einwohner und ist halb so groß wie Hessen. Im Land herrschte von 1975-1990 Bürgerkrieg, von 1990 bis 2005 war das Land von Syrien besetzt. Der syrische Staat, respektive der Geheimdienst, ist im Libanon noch sehr präsent. Im Libanon gibt es 18 Religionsgemeinschaften. Die politischen Ämter werden nach strengem Proporz aufgeteilt: Regierungschef ist ein Sunnit, Staatsoberhaupt ein Christ und Parlamentspräsident ein Schiit. Die politischen Parteien sind also durch die Religionen bestimmt. Die Regierung der Nationalen Einheit von 2009 wurde durch den Rücktritt von 11 Ministern im Jahre 2011 gestürzt. Die Mehrheit der 128 Abgeordneten signalisierte Unterstützung für den parteiunabhängigen Najib Miqati als Ministerpräsidenten. Das Parlament bildete sich letztes Jahr neu. Während meines Besuches hat nach dieser Regierungsbildung erstmalig das Parlament getagt.

Frage: Haben Sie ein Mitglied der libanesischen Regierung getroffen?

Annette Groth: Getroffen haben wir Ghassan E. Moukheiber, der der Parlamentarischen Gruppe "Wechsel und Reform" angehört. Moukheiber ist langjähriger Aktivist und in vielen verschiedenen libanesischen Zivilorganisationen tätig, die sich für Menschenrechte, Demokratisierung, Konfliktlösung und der Korruptionsbekämpfung einsetzen. Moukheiber beklagte, dass im Libanon die Korruption endemisch und der Staat sehr schwach ist. Angesichts des zunehmenden Einflusses von Saudi-Arabien und der Salafisten bekannte er seine große Angst vor radikalen Islamisten, die auch für gemäßigte Muslime wie ihn eine große Bedrohung darstellen. Er spricht sich für einen säkularen Staat aus, wobei er auch die Religionsfreiheit als ein Menschenrecht garantiert wissen möchte. Alle libanesischen Politiker blicken mit großer Besorgnis auf Syrien, denn wenn dieses Regime fällt, wird das große Auswirkungen auf den Libanon haben, wie alle Gesprächspartner versicherten.

Frage: Wie ist die Situation der syrischen Flüchtlinge im Libanon?

Annette Groth: Die syrischen Flüchtlinge werden von den Libanesen bislang noch gut aufgenommen, aber wenn sich die Zahl stark erhöhen würde, könnte die Stimmung im Land kippen. Von den syrischen Flüchtlingen in Jordanien hörten wir, dass sie lieber nach Jordanien gehen, weil sie sich dort sicherer fühlen als im Libanon, wo der syrische Geheimdienst, wie bereits erwähnt, ziemlich allgegenwärtig ist. Anfangs waren die Demonstrationen in Syrien friedlich, es waren vorwiegend arme und enttäuschte Baath-Anhänger, die auch etwas vom Reichtum haben wollten. Die Versprechungen von Assad, die große Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern, hat sich für sie nicht erfüllt.

Frage: Wie sind die Arbeitsbedingungen für Palästinenser im Libanon?

Annette Groth: Der einzige Arbeitgeber für Palästinenser im Libanon ist die UNWRA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten. Die UNWRA beschäftigt 28.000 Menschen in den Bereichen Erziehung, Ausbildung, medizinische Versorgung, humanitäre Maßnahmen, zur Verbesserung der Infrastruktur und zur Beschaffung von Arbeitsplätzen. Man muss aber gleichzeitig auch sagen, dass die UNWRA 150.000 internationale Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hat, deren Gehälter um ein Vielfaches über den Gehältern der palästinensischen Mitarbeiter liegen. Die Palästinenser haben im Libanon einen Flüchtlingsstatus. Obwohl so viele Palästinenser seit 1948 im Libanon leben, haben sie keine Arbeitserlaubnis und dürfen auch seit 2000 kein Grundeigentum erwerben. Falls sie Häuser vor dem Jahr 2000‍ ‍besessen haben, dürfen sie diese weder verkaufen noch vererben.

Frage: Haben Sie palästinensische Flüchtlingslager besucht?

Annette Groth: Ich habe leider nur die beiden Flüchtlingslager Shatila und Mar Elias, besucht, die in Beirut sind. Es wurde mir gesagt, dass die schlimmsten Bedingungen anscheinend im Lager Nahar el-Bared, nördlich von Tripoli herrschen, dort sind 80.000 Palästinenser auf 2km2 zusammengedrängt sind. Allerdings sind die Zustände in Shatila und Mar Elias auch fatal. Die Hauptgesundheitsprobleme sind Anämie, Hautkrankheiten und Beschwerden der Atemorgane, da die Leute mit Kerosin kochen, viele Häuser keine Fenster haben und darüber hinaus total baufällig sind. Vor einer Woche hat UNWRA nach 6-monatigem Warten endlich die Erlaubnis erhalten, Zement nach Shatila für dringende Reparaturarbeiten zu liefern. Laut dem Leiter von UNWRA sind die Flüchtlingslager Hexenkessel, die irgendwann explodieren. Die Perspektivlosigkeit der Kinder und Jugendlichen sei dabei besonders problematisch, weil sie keine Arbeitserlaubnis im Libanon erhalten und auch die Arbeitschancen für gut ausgebildete Palästinenser in den Golfstaaten sinken. Es kommen Menschen aus den Philippinen, Afrika, Indien, Pakistan oder Bangladesh in die Golfstaaten und arbeiten für wenig Geld. Arbeitsrechte, geregelte Arbeitszeiten oder ähnliches gibt es dort für sie nicht.

Frage: Wer verwaltet die Flüchtlingslager der Palästinenser?

Annette Groth: Die Flüchtlingslager werden von den Palästinensern selbst verwaltet. Das ist einzigartig in der Welt, das heißt, Polizei und Sicherheitskräfte sind Palästinenser, die libanesische Armee bzw. Polizei hat keinen Zutritt. Ein Vertreter einer palästinensischen Organisation äußerte sich kritisch gegenüber UNWRA und sämtlichen Hilfsorganisationen, die die Palästinenser nur abhängig von den Hilfeleistungen mache und sie damit zu Bettlern degradiere. Wortwörtlich sagte er in diesem Zusammenhang, "dass man mit dem gesamten Geld, das NGOs und internationale Organisationen für die Palästinenser ausgeben, ganz Palästina hätte neu aufbauen können!" Statt finanzielle Hilfe sei politische Unterstützung wesentlich wichtiger.

*

Quelle:
© 2012 by Christine Wicht
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2012