Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

STANDPUNKT/076: Das Gold und der Stein (Uri Avnery)


Das Gold und der Stein

Von Uri Avnery, 9. April 2011


IN DER Person von Richard Goldstone liegt etwas Tragikomisches.

Zuerst gab es einen wahren Sturm der Entrüstung, als der ursprüngliche Goldstone-Bericht herauskam.

Was für ein böser Feind! Goldstone - ursprünglich Goldstein - ein Jude, der behauptet, ein Zionist zu sein und Israel zu lieben, der die abscheulichste Verleumdung über unsere tapferen Soldaten veröffentlichte und damit den schlimmsten Antisemiten in aller Welt half und sie unterstützte. Genau der Prototyp eines selbsthassenden Juden. Noch schlimmer, ein "Mosser" - ein Jude, der einen anderen Juden den üblen Goyim ausliefert - die verachtetste Gestalt in der jüdischen Folklore.

Und nun die 180-Grad-Wendung. Goldstone, der Jude, der widerrufen hat. Goldstone, der öffentlich bekannte, dass er mit allem Unrecht hatte; dass die israelische Armee keine Verbrechen während der Cast-Lead-Operation 2008/2009 begangen hat. Im Gegenteil, während die israelische Armee ehrliche und genaue Untersuchungen all der Behauptungen durchgeführt habe, habe die Hamas keine der abscheulichen Verbrechen, die es begangen hat, untersucht.

Goldstone, der Mann, der zum Stein des Anstoßes wurde, ist zu Goldstone dem Mann aus Gold geworden. Ein Mann mit Gewissen! Ein Mann, der bewundert werden muss.

Es war natürlich Binyamin Netanyahu, der das letzte Wort hatte. Er fasste zusammen: Goldstones Widerruf hat wieder einmal bestätigt, dass die IDF die moralischste Armee der Welt ist.


MEIN HERZ blutet für Richter Goldstone; denn er wurde von Anfang an in eine unmögliche Situation gebracht.

Die UN-Kommission, die ihn zum Chef der Untersuchungskommission ernannte, die den Behauptungen von während der Operation begangener Kriegsverbrechen nachgehen sollte, handelte anscheinend nach einer logischen, aber tatsächlich törichten Einschätzung. Einen guten Juden und dazu noch einen anerkannten Zionisten für eine Aufgabe ernennen, würde jede Behauptung anti-israelischen Vorurteils beseitigen, dachte man.

Goldstone und seine Kollegen taten zweifellos einen aufrichtigen und gewissenhaften Job. Sie gingen das Beweismaterial durch, das ihnen vorgelegt wurde und kamen zu vernünftigen Schlussfolgerungen. Doch fast alle Beweise kamen von Palästinensern und aus UN-Quellen. Die Kommission konnte nicht die Offiziere und Soldaten der IDF befragen, weil unsere Regierung in einem typischen und fast schon routinemäßigen Akt von Torheit sich weigerte, zu kooperieren.

Warum? Die grundsätzliche Annahme ist die, dass alle Welt gegen uns ist, nicht weil wir irgend etwas tun, sondern weil wir Juden sind. Wir wissen, dass wir Recht haben, und wir wissen, dass sie beweisen wollen, dass wir Unrecht haben. Warum also mit diesen Scheiß-Antisemiten und jüdischen Selbsthassern zusammenarbeiten?

Fast alle einflussreichen Israelis räumen heute ein, dass dies eine dumme Einstellung war. Aber es gibt keine Garantie dafür, dass unsere Führer sich beim nächsten Mal anders verhalten, besonders da die Armee dagegen ist, dass ein Soldat vor einem nicht israelischen Forum oder sogar vor einem israelischen nicht militärischen Forum erscheint.


ZURÜCK ZUM armen Goldstone. Nach der Veröffentlichung seines Kommissionsberichtes wurde sein Leben zur Hölle.

Der ganze Zorn des jüdischen Ghettos gegen Verräter aus seiner Mitte wandte sich gegen ihn. Juden waren dagegen, dass er an der Bar Mitzva seines Enkels teilnimmt. Seine Freunde wandten sich von ihm ab. Er wurde von allen Leuten, die er schätzte, geächtet.

Deshalb ging er in sich und fand, dass er Unrecht hatte. Seine Befunde waren einseitig. Er hätte auf andere Ergebnisse kommen können, wenn er auch die israelische Seite der Geschichte gehört hätte. Die israelische Armee hat ehrliche Untersuchungen der Behauptungen durchgeführt, während die barbarische Hamas keinerlei Untersuchungen ihrer offensichtlichen Kriegsverbrechen unternommen hat.

So, wann hatte Goldstone Unrecht? Beim ersten oder beim zweiten Mal?

Die Antwort ist leider: er hatte beide Male Unrecht.


ALLEIN DER Begriff "Kriegsverbrechen" ist problematisch: der Krieg als solcher ist ein Verbrechen, das nie gerechtfertigt werden kann, außer wenn es die einzige Möglichkeit ist, ein größeres Verbrechen zu verhindern - wie es der Krieg gegen Adolf Hitler war und jetzt gegen Muammar Gaddafi, wenn auch in unvergleichbar kleinerem Ausmaß.

Der Gedanke von Kriegsverbrechen kam nach den entsetzlichen Grausamkeiten des 30-Jährigen Kriegs auf, der Mitteleuropa verheerte. Der Gedanke war, es sei unmöglich, brutale Aktionen zu verhindern, wenn sie nötig sind, um den Krieg zu gewinnen, dass aber solche Aktionen verboten sein sollen, wenn sie nicht diesem Zweck dienen. Das Prinzip ist nicht moralisch, sondern praktisch. Gefangene und Zivilisten töten, ist ein Kriegsverbrechen, weil dies keinem militärischen Zweck dient, da es beide Seiten tun - das gilt auch für willkürliche Zerstörung von Eigentum.

In Israel war dieses Prinzip im berühmten Urteil von Binyamin Halevi enthalten, und zwar nach dem Kafr Kassem Massaker, als unschuldige Bauern, Männer, Frauen und Kinder, getötet worden waren. Der Richter erklärte, eine "Schwarze Fahne" fliege über "eindeutig" illegalen Befehlen - über Befehlen, die sogar eine einfache Person als illegal erkennt, ohne einen Juristen zu fragen. Seitdem ist die Ausführung solcher Befehle nach israelischem Gesetz ein Verbrechen.


DIE WIRKLICHE Frage über Cast Lead ist nicht, ob einzelne Soldaten solche Verbrechen begangen haben. Sicher taten sie es - jede Armee ist zusammengesetzt aus allen menschlichen Typen, anständigen Jugendlichen mit einem Gewissen neben Sadisten, Dummköpfen und Idioten, die unter moralischer Geisteskrankheit leiden. In einem Krieg gibt man ihnen allen Waffen und die Erlaubnis zum Töten. Die Folgen können vorausgesehen werden. Das ist der Grund, dass "Krieg die Hölle!" ist.

Das Problem mit dem 2. Libanonkrieg und der Operation Cast Lead (im Gazastreifen) ist , dass ihr Grundansatz - derselbe in beiden Fällen - Kriegsverbrechen so gut wie unvermeidbar machen. Die Planer waren keine Monster - sie taten nur ihren Job. Sie überlagerten zwei Fakten auf einander. Das Ergebnis war unvermeidbar.

Die eine Überlegung war die absolute Erfordernis: auf unserer Seite darf es keine Verluste geben. Wir haben eine Volksarmee, zusammengesetzt aus Militärdienstpflichtigen aus allen Gesellschaftsschichten (wie die USA in Vietnam, aber nicht in Afghanistan) Unsere öffentliche Meinung beurteilt Kriege nach der Anzahl (unserer) Verluste . Deshalb lautet die Weisung der militärischen Planer: tut alles Mögliche, damit die Zahl der Verluste nahe Null liegt.

Die andere Tatsache ist die totale Nichtbeachtung der Menschlichkeit der andern Seite. Viele Jahre der Besatzung haben eine Armee geschaffen, für die die Palästinenser und allgemein die Araber reine Objekte sind. Keine menschlichen Feinde, nicht einmal menschliche Monster, nur Objekte.

Diese beiden (geistigen) Haltungen führen notwendigerweise zur strategischen und taktischen Doktrin, die die Anwendung tödlicher Gewalt gegen jeden und alles diktiert, das möglicherweise Soldaten bedroht, die auf feindlichem Gebiet vorrücken, und dies vor den Soldaten liquidiert, vorzugsweise aus der Ferne durch Artillerie und aus der Luft.

Wenn der Krieg gegen eine Widerstandsbewegung in einem dicht bevölkerten Gebiet geführt wird, können die Ergebnisse fast mathematisch genau berechnet werden. In Cast Lead waren mindestens 450(*) palästinensische Zivilisten, unter ihnen Hunderte von Frauen und Kindern, die wir zusammen mit etwa 750 feindlichem Kämpfern töteten. Auf der israelischen Seite wurden fünf Soldaten durch feindliches Feuer getötet (und etwa sechs versehentlich durch eigene Leute).

Dieses Ergebnis widersprach nicht dem unerklärten politischen Ziel der Operation. Es ging darum, die Bevölkerung so unter Druck zu setzen, dass sie die Hamasregierung stürzt. Dieses Ergebnis wurde natürlich nicht erreicht - eher das Gegenteil.

Die Logik - und das Verhältnis der Verluste - beim 2. Libanonkrieg waren etwa dieselben mit einer riesigen materiellen Zerstörung ziviler Ziele.


NACH DER Veröffentlichung des Goldstone-Berichtes, führte unsere Armee tatsächlich ganz umfangreiche Untersuchungen der einzelnen Vorfälle durch. Die Zahl ist eindrucksvoll, das Ergebnis nicht. Etwa 150 Fälle wurden untersucht, zwei Soldaten wurden verurteilt (einer wegen Diebstahls), ein Offizier wurde angeklagt, weil er durch einen Irrtum eine ganze große Familie ausgelöscht hat.

Das schien Goldstone zufrieden zu stellen, der diese Woche dankbar eine Einladung des Innenministers annahm - vielleicht der rassistischste in der ganzen Regierung, in der es von Rassisten wimmelt. Eine Einladung zu einem Besuch nach Israel. (Als der Minister das veröffentlichte, hat Goldstone seinen Besuch annulliert und erklärt, sein Bericht werde nicht zurückgezogen.)

Andrerseits ist Goldstone wütend auf die Hamas, die Raketen und Granaten gegen Zivilisten in Israel abfeuerte und keinerlei Untersuchungen durchführte. Ist es nicht ziemlich lächerlich: er wendet dieselben Maßstäbe für eine der fünf mächtigsten Armeen in der Welt an und einer Gruppe Irregulärer und schlecht bewaffneter Widerstandskämpfer (alias Terroristen).

Terrorismus ist die Waffe der Schwachen. ("Gib mir Panzer und Flugzeuge, und ich werde keine Bomben legen" sagte einmal ein Palästinenser). Da die ganze Strategie der Hamas darin besteht, israelische Gemeinden entlang der Grenze zu terrorisieren, um Israel davon zu überzeugen, die Besatzung zu beenden (und im Falle Gazas auch die anhaltende Blockade), scheint Goldstones Entrüstung schon ein bisschen überraschend.

Alles in allem: Goldstone hat nun den Weg für eine neue Cast Lead-Operation vorbereitet, die bei weitem schlimmer sein wird.

Ich erwarte, dass er nun in jeder von ihm gewählten Synagoge beten kann.


(*) bei B'tselem: 758 Zivilpersonen, darunter 318 Minderjährige, 5300 verletzte Palästinenser


Copyright 2011 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)


*


Quelle:
Uri Avnery, 09.04.2011
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2011