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STANDPUNKT/327: Lassen Sie uns über Apartheid reden (Uri Avnery)


Lassen Sie uns über Apartheid reden

von Uri Avnery, 26. Oktober 2013



IST ISRAEL ein Apartheidstaat? Diese Frage taucht immer wieder auf, ja, sie erhebt alle paar Monate ihr Haupt.

Der Terminus "Apartheid" wird oft zu reinen Propagandazwecken benutzt. Apartheid, wie Rassismus und Faschismus, sind Ausdrücke, die man benutzt, um seinen Widersacher zu verunglimpfen.

Aber "Apartheid" ist auch ein Ausdruck mit genauem Inhalt. Er bezieht sich auf ein besonderes Regime. Wenn man damit ein anderes Regime gleichsetzt, kann das zutreffen oder es kann teilweise richtig oder einfach falsch sein. Die Schlüsse, die man dann daraus ziehen kann, entsprechen notwendigerweise der Beurteilung des Vergleichs.


VOR KURZEM hatte ich die Möglichkeit, über dieses Thema mit einem Experten zu diskutieren, der während der ganzen Apartheidzeit in Südafrika lebte. Ich lernte eine Menge darüber.

Ist Israel ein Apartheidstaat? Nun, da muss man erst die Frage stellen: welches Israel? Das eigentliche Israel innerhalb der grünen Linie oder das israelische Besatzungsregime in den besetzten palästinensischen Gebieten oder beides zusammen?

Kommen wir darauf später zurück.


DIE UNTERSCHIEDE zwischen den beiden sind offensichtlich.

Zuerst einmal gründete sich das südafrikanische Regime wie sein Vorbild, das Naziregime, auf die Theorie einer Rassenüberlegenheit. Rassismus war sein offizielles Glaubensbekenntnis. Die zionistische Ideologie Israels ist - in diesem Sinne - nicht rassistisch, sondern gründet sich eher auf eine Mischung von Nationalismus und Religion. Obwohl die frühen Zionisten meistens Atheisten waren.

Die Gründer des Zionismus wiesen den Vorwurf des Rassismus immer als absurd zurück. Es sind die Antisemiten, die Rassisten sind. Zionisten wären liberal, sozialistisch, progressiv. (Soweit ich weiß, hat nur ein einziger zionistischer Führer offen Rassismus befürwortet: Arthur Ruppin, der deutsche Jude, der der Vater der zionistischen Siedlungen im frühen 20. Jahrhundert war.

Dann sind da die Bevölkerungsverhältnisse. In Südafrika gab es eine riesige schwarze Mehrheit. Die Weißen bildeten etwa ein Fünftel der Bevölkerung.

Im eigentlichen Israel stellen die arabischen Bürger eine Minderheit von etwa 20% dar. Im gesamten Gebiet unter israelischer Herrschaft zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan gibt es etwa ebenso viele Juden wie Araber. Die Araber sind jetzt vielleicht ein wenig in der Mehrheit - genaue Zahlen sind schwer zu bekommen. Die arabische Mehrheit wird mit der Zeit zwangsläufig größer.

Außerdem war die weiße Wirtschaft in Südafrika von der Arbeit der Schwarzen total abhängig. Zu Beginn der israelischen Besatzung der Westbank und des Gazastreifens 1967 bestanden die Zionisten darauf, dass für die "Arbeit der Juden" ein Ende gekommen sei und billige arabische Arbeitskräfte fluteten aus den besetzten Gebieten herein. Doch mit Beginn der ersten Intifada hörte diese Entwicklung erstaunlich schnell auf. Viele ausländische Arbeiter wurden importiert: Ost-Europäer und Chinesen für das Bauhandwerk, Thais für die Landwirtschaft, Philippinos für Pflegedienste, etc.

Eine der Hauptaufgaben der israelischen Armee ist jetzt, Palästinenser daran zu hindern, die Grüne Linie nach Israel illegal zu überqueren, um dort Arbeit zu suchen.

Dies ist ein fundamentaler Unterschied zwischen den beiden Fällen, der sich in hohem Maße auf die möglichen Lösungen auswirkt.

Traurigerweise sind Palästinenser der Westbank weithin beim Siedlungsbau beschäftigt und arbeiten dort in Betrieben, die meine Freunde und ich zu boykottieren aufriefen. Die wirtschaftliche Not der Bevölkerung treibt sie in diese perverse Situation.

Im eigentlichen Israel beklagen sich arabische Bürger über die Diskriminierung, nur eingeschränkte Beschäftigungsmöglichkeiten in jüdischen Unternehmen und Regierungsbüros zu erhalten. Die Behörden versprechen regelmäßig, etwas gegen diese Art von Diskriminierung zu unternehmen.

Im Ganzen ähnelt die Situation der arabischen Minderheit innerhalb des eigentlichen Israels der vieler nationaler Minderheiten in Europa und anderswo. Sie genießen Gleichheit nach dem Gesetz, haben Stimmrecht für die Knesset, sind durch sehr lebendige eigene Parteien vertreten, aber die Araber leiden praktisch auf vielen Gebieten unter Diskriminierung. Dies Apartheid zu nennen, wäre vollkommen irreführend.


ICH DACHTE immer, dass einer der großen Unterschiede der wäre, dass das israelische Regime in den besetzten Gebieten palästinensisches Land für jüdische Siedlungen enteignet. Dies schließt privaten Besitz und sog. "Regierungsländereien" mit ein.

In ottomanischen Zeiten wurden Landreserven der Städte und Dörfer im Namen des Sultans registriert. Unter britischer Herrschaft wurden diese Ländereien Regierungseigentum und dies blieb auch unter der jordanischen Herrschaft so. Als Israel die Westbank 1967 besetzte, wurden diese Ländereien vom Besatzungsregime übernommen und den Siedlern überlassen, und so wurde den palästinensischen Städten und Dörfern die Landreserven genommen, die sie für ihr natürliches Wachstum benötigen.

Übrigens wurden schon nach dem 1948er Krieg weite Teile arabischen Landes in Israel enteignet und zu diesem Zweck wurden viele Gesetze erlassen - nicht nur solche, die den Besitz der "Abwesenden" (Flüchtlingen) regeln, sondern auch solche, die das Land der Araber betreffen, die für "anwesend abwesend" erklärt wurden - ein absurder Ausdruck für die Leute, die während des Krieges nicht Israel verlassen hatten, sondern nur ihr Dorf. Und das "Regierungsland", der Teil Palästinas, der Israel wurde, diente auch dazu, die Massen neuer jüdischer Immigranten aufzunehmen, die ins Land strömten.

Ich dachte immer, dass wir in dieser Hinsicht schlimmer als Südafrika wären. Mein Freund sagte, die Apartheid-Regierung tat aber genau dasselbe, siedelte die Schwarzen in gewissen Gebieten an und riss sich das Land untern den Nagel, Land nur für Weiße.


ICH DACHTE immer, dass in Südafrika alle Weißen engagiert wären, gegen die Schwarzen zu kämpfen. Doch scheint es, als ob beide Seiten tief gespalten waren.

Auf der weißen Seite standen die Afrikaander (Buren), Nachkommen holländischer Siedler, die einen holländischen Dialekt sprachen, den man Afrikaans nennt, und die Briten, die Englisch sprachen. Dies waren zwei Gemeinschaften von etwa gleicher Größe, die sich nicht ausstehen konnten. Die Briten verachteten die Afrikaander, die Afrikaander hassten die Briten. Tatsächlich nannte sich die Apartheidpartei "Nationalisten", hauptsächlich, weil sie sich selbst als eine Nation ansah, die im Lande geboren war, während die Briten noch sehr mit ihrem Heimatland verbunden war. (Mir wurde erzählt, dass die Briten von den Afrikaandern "salzige Penisse" genannt wurden, weil sie mit einem Bein in England standen und mit dem andern in Südafrika, so dass ihre Genitalien in den Ozean eintauchten.)

Die schwarze Bevölkerung war auch in viele Gemeinschaften und Stämme geteilt, die einander nicht mochten. Das machte es schwierig, sie für den Befreiungskampf zu vereinigen.


DIE SITUATION in der Westbank ist in vieler Art und Weise dem Apartheid-regime ähnlich.

Seit Oslo ist die Westbank in die Zonen A,B, und C getrennt, in denen Israel auf verschiedene Weise seine Herrschaft ausübt. In Südafrika waren es viele verschiedene Bantustans ("Homelands")mit verschiedenen Regimen. Einige waren offiziell voll autonom, andere waren es nur zum Teil. Alle waren Enklaven, umgeben von Gebieten der Weißen.

In gewisser Hinsicht war die Situation in Südafrika wenigstens offiziell besser als in der Westbank. Nach südafrikanischem Gesetz waren die Schwarzen zumindest offiziell "getrennt aber gleich". Die allgemeinen Gesetze galten für alle. In unseren besetzten Gebieten ist dies nicht der Fall, wo die lokale Bevölkerung dem militärischen Gesetz unterworfen ist, das ziemlich willkürlich ist, während ihre Siedlernachbarn dem demokratischen zivilen israelischen Gesetz unterworfen sind.


EINE STRITTIGE Frage ist, wie weit - wenn überhaupt - trug der internationale Boykott zur Niederlage des Apartheidregimes in Südafrika bei?

Als ich Erzbischof Desmond Tutu fragte, antwortete er, dass die Wirkung vor allem moralisch war. Er hob die Moral der schwarzen Gemeinde. Mein neuer Freund sagte dasselbe - aber meinte die Weißen. Ihre Moral wurde unterminiert.

Wie weit trug es zum Sieg bei? Mein Freund schätzte: zu etwa 30%.

Der wirtschaftliche Effekt war geringer. Der psychologische Effekt war weit bedeutender. Die Weißen betrachteten sich als Vorhut des Westens im Kampf gegen den Kommunismus. Die Undankbarkeit des Westens erstaunte sie. (Sie hätten aus voller Überzeugung die Zusicherung Theodor Herzls, des Gründers des Zionismus, unterschrieben, dass der zukünftige jüdische Staat die Vorhut Europas und ein Schutzwall gegen die asiatische bzw. arabische Barbarei sei.)

Es war kein Zufall, dass die Apartheid ein paar Jahre nach dem Kollaps der Sowjetunion zusammenbrach. Die USA verlor das Interesse. Kann uns dies bei unseren Beziehungen zu den USA auch geschehen?

(Übrigens junge südafrikanische Schwarze, die vom Afrikanischen National-Kongress in die Sowjetunion zum Studium gesandt wurden, waren vom Rassismus schockiert, den sie dort antrafen. "sie sind schlimmer als die Weißen" kommentierten sie.)

DAS GEBIET, auf dem der Boykott die Apartheidleute am meisten traf, war der Sport. Kricket ist eine nationale Manie in Südafrika. Als sie nicht länger an internationalen Wettbewerben teilnehmen konnten, setzte ihnen das sehr zu. Ihr Selbstvertrauen war gebrochen.

Ihre internationale Isolierung veranlasste sie, intensiver über die Moral der Apartheid nachzudenken. Immer mehr wurde dies hinterfragt. Bei den letzten Wahlen nach dem Abkommen stimmten viele Weiße, einschließlich vieler Afrikaander für ein Ende der Apartheid.

Wird ein Boykott Israels dieselbe Wirkung haben? Ich bezweifle es; Juden sind daran gewöhnt, isoliert zu sein. "Die ganze Welt ist gegen uns," ist für sie eine natürliche Situation. In der Tat habe ich manchmal das Gefühl, dass viele Juden sich nicht wohl fühlen, wenn die Situation anders wäre.

Ein sehr großer Unterschied zwischen den beiden Fällen ist, dass alle Südafrikaner - schwarz, weiß, farbig oder indisch - einen Staat wünschten. Da gab niemanden, der die Teilung wollte. (David Ben-Gurion, ein große Befürworter der Teilung nach Palästina-Art, schlug einmal vor, alle Weißen in Südafrika in der Kap-Region zu konzentrieren und dort einen weißen Staat im Israelstil zu errichten. Keiner war daran interessiert. Bei einem ähnlichen Vorschlag Ben-Gurions für Algerien war es genauso.)

In unserem Fall wünscht die große Mehrheit auf jeder Seite, in einem eigenen Staat zu leben. Die Idee eines vereinigten Landes, in dem hebräisch sprechende Israelis und arabisch sprechende Palästinenser als Gleiche neben einander leben, in derselben Armee dienen und dieselben Steuern zahlen, erscheint ihnen ganz und gar nicht attraktiv.


DIE APARTHEID wurde von den Schwarzen selbst überwunden. Keine krypto-kolonialistische Herablassung kann diese Tatsache verdunkeln.

Der Massenstreik der afrikanischen Arbeiter, von denen die weiße Wirtschaft abhing, machte die Position der herrschenden Weißen unmöglich. Der Massenaufstand der Schwarzen, die unglaublich großen Mut bewiesen, war entscheidend. Am Ende befreiten sich die Schwarzen selbst.

Und noch ein Unterschied: In Südafrika gab es einen Nelson Mandela und einen Frederik de Klerk.


Copyright 2013 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 26.10.2013
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2013