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STANDPUNKT/335: Das Debakel (Uri Avnery)


Das Debakel

von Uri Avnery, 30. November 2013



DIE GRÖSSTE GEFAHR für Israel ist nicht die mutmaßliche iranische Bombe. Die größte Gefahr ist die Dummheit unserer Führer.

Dies ist kein einzigartiges israelisches Phänomen. Sehr viele Führer der Welt sind offensichtlich dumm und sind es immer gewesen. Es genügt, auf das zu sehen, was sich im Juli 1914 in Europa abspielte, als eine unglaubliche Häufung dummer Politiker und inkompetenter Generäle die Menschheit in den 1. Weltkrieg stürzte.

Aber in letzter Zeit haben Benjamin Netanjahu und fast das ganze israelische politische Establishment einen neuen Rekord an Dummheit aufgestellt.



LASST UNS mit dem Ende beginnen.

Der Iran ist der große Sieger. Er ist in die Familie zivilisierter Nationen herzlich wieder aufgenommen worden. Seine Währung, der Real, steigt. Sein Prestige und sein Einfluss haben in der Region wieder an Bedeutung gewonnen. Seine Feinde in der muslimischen Welt, Saudi Arabien und seine Satelliten am Golf sind gedemütigt worden. Jeder Militärschlag gegen ihn von irgendjemandem, einschließlich Israel, ist undenkbar geworden.

Das Image des Iran als einer Nation verrückter Ayatollahs, gefördert von Netanjahu und Ahmadinejad, ist verschwunden. Der Iran sieht jetzt wie ein verantwortliches Land aus, das von nüchtern denkenden und klugen Führern geleitet wird.

Israel ist der große Verlierer. Es hat sich selbst in eine Position totaler Isolierung manövriert. Seine Forderungen sind ignoriert worden. Seine traditionellen Freunde haben sich von ihm distanziert. Seine Beziehungen zu den USA sind ernsthaft beschädigt worden.

Was Netanjahu und Co gerade tun, ist fast unglaublich. Auf einem sehr hohen Ast sitzend, sägen sie ihn fleißig durch.

Viel ist über die totale Abhängigkeit Israels von den USA gesagt worden, und zwar auf fast allen Gebieten. Aber um die Größe der Dummheit zu verstehen, muss ein Aspekt besonders erwähnt werden: Israel beherrscht den Zugang zu den Machtzentren der USA.

Alle Nationen, besonders die kleineren und ärmeren, wissen, dass, wenn man die Hallen des amerikanischen Sultans betritt, um Hilfe und Unterstützung zu bekommen, sie den Türwächter bestechen müssen. Die Bestechung mag viele Formen annehmen: politisch (Privilegien vom Herrscher); oder wirtschaftlich (Rohmaterial); diplomatisch (Stimmen bei der UN); militärisch (eine Basis oder "Zusammenarbeit" mit dem Nachrichtendienst) oder was auch immer. Wenn es groß genug ist, wird AIPAC helfen, vom Kongress Unterstützung zu bekommen.

Dieser einmalige Vorzug beruht allein darauf, dass Israels Stellung in den USA als einzigartig aufgefasst wird. Netanjahus komplette Niederlage hinsichtlich der US-Beziehungen zum Iran hat dieser Auffassung schwer geschadet, wenn nicht gar sie ganz zerstört. Der Verlust ist unermesslich.


DIE ISRAELISCHEN Politiker sind, wie die meisten ihrer Kollegen anderswo, mit der Weltgeschichte kaum vertraut. Sie sind Parteifunktionäre, die ihr Leben mit politischen Intrigen verbringen. Wenn sie Geschichte studiert hätten, hätten sie nicht die Falle gebaut, in die sie jetzt selbst gefallen sind.

Ich bin versucht, damit zu prahlen, dass ich vor mehr als zwei Jahren schrieb: jeder militärische Angriff auf den Iran durch Israel oder die USA sei unmöglich. Das war jedoch keine Prophezeiung, die mir irgendeine unbekannte Gottheit eingegeben hätte. Es war nicht einmal besonders klug. Es war lediglich das Ergebnis eines einfachen Blicks auf die Landkarte: Die Straße von Hormuz.

Jede militärische Aktion gegen den Iran würde zu einem größeren Krieg führen, etwa in der Größenordnung von Vietnam, außerdem zu einem Zusammenbruch der weltweiten Ölversorgung. Selbst, wenn die US-Öffentlichkeit nicht so kriegsmüde gewesen wäre, um solch ein Abenteuer zu starten, wäre man nicht nur ein Narr, sondern ganz und gar verrückt gewesen, wenn man sich auf ein solches Abenteuer eingelassen hätte.

Die militärische Option ist "nicht vom Tisch" - sie war nie auf dem Tisch. Sie war eine leere Pistole, und die Iraner wussten dies sehr wohl.

Die geladene Pistole war das System der Sanktionen. Das Volk leidet. Es überzeugte den obersten Führer, Ali Husseini Khamenei, das Regime völlig zu ändern und einen neuen und sehr anderen Präsidenten einzusetzen.

Den Amerikanern war dies klar, und sie handelten dem entsprechend. Netanjahu, von der Bombe besessen, änderte nichts. Noch schlimmer: er tut noch immer nichts.

Falls es ein Symptom von Wahnsinn ist, immer wieder dasselbe zu versuchen, das bereits fehl geschlagen war, dann sollten wir beginnen, uns über "König Bibi" Sorgen zu machen.


UM SICH SELBST vor dem Image totalen Misserfolges zu retten, hat AIPAC angefangen, seinen Senatoren und Kongressleuten Order zu geben, neue Sanktionen auszuarbeiten, die in einer unbestimmten Zukunft in die Praxis umgesetzt werden sollten.

Das neue Leitmotiv der israelischen Propagandamaschine ist: der Iran täuscht. Die Iraner können nichts anderes. Täuschen liegt in ihrer Natur.

Dies könnte wirksam sein, weil es sich auf tief verwurzelten Rassismus gründet. Bazar ist ein persisches Wort, das Europäer mit Feilschen und Täuschen assoziieren.

Aber die israelische Überzeugung, dass die Iraner täuschen, hat eine robustere Grundlage: unser eigenes Verhalten. Als Israel 1950 anfing, seinen eigenen Atomreaktor mit Hilfe Frankreichs zu bauen, musste es die ganze Welt täuschen und tat dies mit phantastischer Wirkung.

Durch reinen Zufall - vielleicht auch nicht - strahlte Israels Kanal 2TV am letzten Montag (nur zwei Tage nach dem Unterzeichnen des Genfer Abkommens) eine sehr enthüllende Geschichte aus. In der hoch angesehenen Sendung "Tatsache" wurde der israelische Hollywood-Regisseur Arnon Milchan interviewt, ein Milliardär und Israelpatriot.

In der Sendung brüstete sich Milchan mit seiner Arbeit für Lakam, eine israelische Spionageagentur, die mit Jonathan Pollard zu tun hatte. (Damals wurde sie aufgelöst). Lakam spezialisierte sich auf wissenschaftliche Spionage, und Milchan leistete einen unschätzbaren Dienst, indem er geheim und unter falschen Vorwänden notwendige Materialien für das nukleare Programm beschaffte.

Milchan deutete seine Bewunderung für das südafrikanische Apartheidregime und Israels nukleare Zusammenarbeit mit diesem an. Zu der Zeit gab eine mögliche nukleare Explosion im Indischen Ozean nahe Südafrika amerikanischen Wissenschaftlern ein Rätsel auf, und es gab Theorien, (die nur flüsternd wiederholt wurden) über einen israelisch-südafrikanischen nuklearen Versuch.

Eine dritte Partei war der Schah von Persien, der auch nukleare Ambitionen hatte. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Israel dem Iran half, die ersten atomaren Schritte zu tun.

Israels Führer und Wissenschaftler gaben sich große Mühe, ihre nuklearen Aktivitäten zu verbergen. Der Dimona-Reaktor wurde als Textilfabrik getarnt. Ausländer wurden durch Dimona geführt und durch falsche Mauern, verborgene Stockwerke und ähnliche Dinge getäuscht.

Wenn daher unsere Führer von Täuschung, Betrug und Irreführung sprechen, wissen sie genau, worüber sie sprechen. Sie gehen davon aus, dass der Iran dasselbe tut, und sind ganz davon überzeugt, dass dies geschehen wird. Praktisch denken alle Israelis so und besonders die Kommentatoren der Medien.


EINER DER eher bizarren Aspekte der amerikanisch-israelischen Krise ist die Beschwerde Israels, die USA habe "hinter unserm Rücken" eine geheime diplomatische Verbindung zu dem Iran unterhalten.

Falls es einen internationalen Preis für Chuzpe gäbe, dann wäre dieser Vorwurf ein glaubwürdiger Kandidat.

"Die einzige Welt-Supermacht" hat geheime Verbindungen mit einem bedeutenden Land und informiert Israel erst verspätet darüber. Was für eine Unverschämtheit! Wie können sie es nur wagen!

Das tatsächliche Abkommen - so scheint es - ist nicht in den vielen Stunden der Verhandlungen in Genf ausgehandelt worden, sondern während dieser geheimen Kontakte.

Übrigens vergaß unsere Regierung nicht, sich damit zu brüsten, dass sie über all dies die ganze Zeit durch Quellen des eigenen Geheimdienstes Bescheid wusste. Sie deutet darauf hin, dass es saudische Geheimdienstquellen waren. Ich würde eher einen unserer zahllosen Informanten der US-Regierung verdächtigen.

Sei es, wie es sei, jedenfalls wird vorausgesetzt, dass die USA verpflichtet wären, Israel im Voraus über jeden Schritt, den sie in Nahost unternehmen, zu informieren. Interessant!


PRÄSIDENT OBAMA hat offensichtlich entschieden, dass die Sanktionen und militärische Drohungen nur bis hierhin gehen sollten und nicht weiter. Ich denke, er hat recht.

Eine stolze Nation ergibt sich keinen offenen Drohungen. Mit solchen Herausforderungen konfrontiert, tendiert eine Nation dazu, mit patriotischem Eifer zusammen zu rücken und seine Führer zu unterstützen, auch wenn sie nicht beliebt sind. Wir Israelis würden dies tun. So würde es auch jede andere Nation tun.

Obama hat fest mit einem iranischen Regimewechsel gerechnet, der schon begonnen hat. Eine neue Generation, die in den sozialen Medien sieht, was in aller Welt geschieht, möchte am guten Leben teilnehmen. Revolutionärer Eifer und ideologische Orthodoxie schwinden mit der Zeit, wie wir Israelis nur zu gut wissen. Es geschah in unsern Kibbuzim; es geschah in der Sowjetunion; es geschieht in China und Kuba; nun geschieht es auch im Iran.


WAS SOLLEN wir also tun? Mein Rat wäre einfach: wenn du sie nicht schlagen kannst, schließ Dich ihnen an.

Stopp Netanjahus Obsession und die Torheit der AIPAC, nimm das Genfer Abkommen an, weil es gut für Israel ist, unterstütze Obama. Flicke die Beziehungen mit der US-Regierung. Und besonders wichtig; strecke deine Fühler zum Iran aus, um sehr langsam die gegenseitigen Beziehungen zu verändern.

Geschichte zeigt, dass Freunde von gestern die Feinde von heute sein können und die Feinde von heute die Verbündeten von morgen. So war es schon einmal zwischen dem Iran und uns. Abgesehen von der Ideologie, gibt es keinen wirklichen Zusammenstoß der Interessen zwischen den beiden Nationen.

Wir benötigen einen Wandel in der Führung wie denjenigen, den der Iran begonnen hat. Leider haben sich alle israelischen Politiker, linke wie rechte, dem Marsch der Toren angeschlossen. Nicht eine einzige Stimme aus dem Establishment hat sich dagegen erhoben. Der neue Führer der Labor-Partei, Yitzhak Herzog ist genau so ein Teil wie Yair Lapid und Tsipi Livni.

Auf Jiddisch sagt man: Über Narren würde man sich amüsieren, wenn sie nicht unsere eigenen Narren wären.


Copyright 2013 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 30.11.2013
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2013