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STANDPUNKT/340: Erste Gedanken zur SPD-Mitgliederbefragung und zum Koalitionsvertrag (Hans Fricke)


Erste Gedanken zur SPD-Mitgliederbefragung und zum Koalitionsvertrag

von Hans Fricke, 17. Dezember 2013



Für SPD-Chef Sigmar Gabriel war kein Eigenlob zu groß, als das Ergebnis der Mitgliederbefragung seiner Partei bekanntgegeben wurde. Fast 76 Prozent hatten für die große Koalition votiert. Über 22 Prozent der Mitglieder haben es allerdings vorgezogen, sich an der Abstimmung gar nicht zu beteiligen. Insgesamt stimmten demnach nur knapp 60 Prozent der Mitglieder für das Mitregieren als Juniorpartner der CDU/CSU.

Viele der SPD-Mitglieder, die "Nein"-Sager und die es ablehnten, sich an der Befragung zu beteiligen, werden sich daran erinnert haben, dass große Koalitionen und große Abstimmungsgemeinsamkeiten von Union und SPD nie etwas Gutes ergaben. Ergeben haben sie aber die Notstandsgesetze 1968, den Beschluss vom Herbst 1998 zum Kriegseintritt gegen Jugoslawien, den Einsatz in Afghanistan und andere Auslandseinsätze, die Durchführung von Hartz IV und Agenda 2010, die Bankenrettung anstelle der Rettung des Sozialsystems, und sie wissen auch, dass künftig die Regierungsfraktionen im Verhältnis zur Opposition eine erdrückende, zu Verfassungsänderungen berechtigende Mehrheit von 80 zu 20 Prozent haben.

Sie haben sich von vielen Beschwörungen der Parteispitze nicht aufs Glatteis führen lassen, weil sie wussten, dass die Parteibasis in ihrer Entscheidung nicht wirklich frei war, denn eine demokratische Abstimmung bekommt dadurch Relevanz, dass der Souverän zwischen echten Alternativen wählen kann.
Das wäre zum Beispiel der Fall gewesen, wenn Gabriel die Mitglieder nach dem 22. September gefragt hätte, ob er über Rot-Rot-Grün oder über eine große Koalition mit der Union verhandeln soll. Da die Parteispitze die ablehnende Haltung der Basis gegen eine große Koalition mit der Union kannte, hatte sie vor dem Ergebnis einer solchen Befragung eine panische Angst.

Das Szenario, das dem ungeliebten Bündnis mit Angela Merkel entgegenstand, hat sicher viele ursprünglich zur Ablehnung einer großen Koalition entschlossene SPD-Mitglieder erschauern lassen. Bei einem Scheitern der Mitgliederbefragung, dass ein Misstrauensvotum bedeutet hätte, wäre nicht nur Sigmar Gabriel, sondern eine ganze Führungsgeneration schwer beschädigt worden. Schließlich hatte sich die gesamte Parteiprominenz hinter das Projekt gestellt, Auch SPD-Linke wie Ralf Stegner oder Skeptiker wie Hannelore Kraft.
Bestenfalls hätte eine kopf- und orientierungslose SPD gegen Schwarz-Grün gestanden. Im schlechtesten Fall wäre sie durch Neuwahlen geschwächt worden.
Deshalb dürften für die Entscheidung sehr vieler an der SPD-Basis nicht inhaltliche Überzeugungen maßgeblich gewesen sein, sondern die Furcht vor obigem Szenario, die Angst vor der Marginalisierung der SPD.

Udo Fröhlich, seit 1971 Mitglied der SPD und über 40 Jahre lang in diversen Parteifunktionen und Ämtern aktiv, darunter als Bürgermeister in Bad Segeberg, kritisiert in einem Schreiben an den Vorsitzenden seiner Partei, Sigmar Gabriel, das Zustandekommen des Mitgliedervotums zur großen Koalition. In einer am 14.12.2013 verbreiteten Stellungnahme konstatiert der Sozialdemokrat, eine "Meinungskampagne von oben nach unten ist kein Beleg für demokratische Basisbeteiligung":

"Ja, dieser Tag geht in die SPD-Geschichte ein. Spätestens mit dem heutigen Tag verabschiedet sich die SPD von ihrem Charakter als streitbar diskutierende Mitgliederpartei und wandelt sich zur amerikanischen Kampagnenpartei.
76 Prozent Ja- und 24 Prozent Nein-Stimmen beim Mitgliedervotum sind für mich letztlich keine Überraschung. Schließlich wurde demonstriert, dass es möglich ist, bei Nutzung der Medien, einseitigster 'Information' der Basis und unter Ausschaltung der satzungsgemäßen Gliederungen, die vereinzelten Mitglieder effektiv zu lenken und gewünschte Ergebnisse herbei zu organisieren.
Wenn man bedenkt, dass z.B. in Schleswig-Holstein auf den drei Regionalkonferenzen nur Fragen und keine freie Rede erlaubt waren, dann kann man den qualitativen Unterschied zu Mitgliedertreffen in Ortsvereinen erahnen , bei denen sich alle Mitglieder untereinander frei austauschen und danach eine Meinung bilden. So hängt dem durchgeführten Verfahren der Geruch der Manipulation an.
Die Rede Sigmar Gabriels anlässlich der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses macht mich sprachlos. Was als 'Feier der Demokratie' und 'Vorbild an Mitgliederbeteiligung' dargestellt wurde, war in Realität eine durchinszenierte Kampagne, um die Mitglieder ins Boot der großen Koalition zu zerren, die Kritiker zu disziplinieren und alle zusammen in Mithaftung zu nehmen.
Das werden alle, auch diejenigen, welche im Alten Postbahnhof so telegen jubelten, während der großen Koalition noch schmerzlich erfahren.
Demokratische Mitwirkung und eine freie Entscheidung gehen anders. Die bloße Abstimmung allein, das ist die Erkenntnis, welche Sozialdemokraten den Liberalen einmal voraus hatten, ist keine Garantie für eine demokratische Mitwirkung und eine tatsächliche freie Entscheidung.
Gabriels Rede empfand ich deshalb als eine Zumutung, Willy Brandts 'mehr Demokratie wagen' für das praktizierte Verfahren in Anspruch zu nehmen, als Provokation. Letztlich hat Gabriel mit dieser Rede George Orwells Satz aus seinem Roman '1984' betätigt: 'Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten - wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten -, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit.'"
(junge Welt, 16.12.2013)

Katja Kipping, Kovorsitzende der Linkspartei, kommentierte das Votum der SPD-Mitglieder für den Koalitionsvertrag:

"Die SPD hat unter gewaltigem Druck Ja zum Koalitionsvertrag gesagt. Ich habe Respekt vor allen, die dem großen Druck standgehalten haben. (...) Mit diesem Votum besiegelt die SPD einen Koalitionsvertrag, der eine Kapitulationserklärung vor den großen gesellschaftlichen Aufgaben unserer Zeit ist, der notwendigen Gerechtigkeitswende, der Energiewende und dem Kurswechsel in Europa. (...)"
(ebenda)

Damit bezeichnet sie den Koalitionsvertrag zu Recht als "offenen Verrat" am Wahlkampfprogramm der Sozialdemokraten.

Dass die SPD-Mitglieder und damit die Bevölkerung unseres Landes sehr bald erleben werden, wohin die Reise unter der Kanzlerin Angela Merkel in Wirklichkeit geht, sei vorerst an zwei Beispielen gezeigt:

Dass der Mindestlohn erreicht sei, wird von SPD und Gewerkschaftsführungen begeistert gefeiert und musste dafür herhalten, die SPD-Mitglieder zur Zustimmung zum Koalitionsvertrag zu bewegen.
Zweifellos wäre ein Mindestlohn von 8,50 Euro für knapp 7 Millionen Beschäftigte tatsächlich eine Verbesserung ihrer Einkommens und Lebenssituation. Auch wenn der Bruttolohn dann bei einer 40-Stundenwoche mit maximal 1.450 Euro gerade an der Pfändungsgrenze liegt; bei der Normalarbeitszeit von 38 Stunden gerade mal auf der Höhe der Grundsicherung. Und schon gar nicht reichen 8,50 Euro zu einer Rente, die zum Leben reicht.
Trotzdem, wenigstens ein Einstieg wäre geschafft.

Doch der vereinbarte Mindestlohn entpuppt sich immer mehr als Mogelpackung.

"Zum 1. Januar 2015 wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet gesetzlich eingeführt. Von dieser Regelung unberührt bleiben nur Mindestlöhne nach dem AentG (Arbeitnehmersendegesetz)", heißt es im Koalitionsvertrag.

Also diejenigen, die einen gesetzlichen Anspruch auf einen Mindestlohn haben, müssen noch ein Jahr warten und bis dahin hätte dieser Lohn - inflationsbedingt bei einer Inflationsrate von 2 Prozent (so das EZB-Ziel) - nicht mehr eine Kaufkraft von 8,50 Euro, sondern nur noch von 7,85 Euro.

Aber das ist noch nicht alles. "Tarifliche Abweichungen sind unter den folgenden Bedingungen möglich:

  • Abweichungen für maximal zwei Jahre bis 31. Dezember 2016 durch Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Branchenebene. Ab 1. Januar 2017 gilt das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau uneingeschränkt.
  • Zum Zeitpunkt des Abschlusses der Koalitionsverhandlungen geltende Tarifverträge, in denen spätestens bis zum 31. Dezember 2016 das dann geltende Mindestlohnniveau erreicht wird, gelten fort.
  • Für Tarifverträge, bei denen bis 31. Dezember 2016 das Mindestlohnniveau nicht erreicht wird, gilt ab 1. Januar 2017 das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau" heißt es weiter im Koalitionsvertrag.

Beschäftigte bei Wachdiensten, Wäschereien, aber vor allem die LeiharbeiterInnen werden also noch ziemlich lange auf den gesetzlichen Mindestlohn warten müssen. Denn wenn es Tarifverträge gibt, die unter 8,50 Euro liegen - und das trifft immerhin bei einem Drittel der NiedriglöhnerInnen zu - kann es noch weitere 3 Jahre dauern, bis er gesetzliche Mindestlohn wirksam wird.
Die 'uneingeschränkte' Gültigkeit des Mindestlohnes soll sich bis zum 1. Januar 2017 hinziehen.

"8,50 Euro Mindestlohn verbindlich ab 2017. Donnerwetter! Das hätte die SPD aber vorher sagen sollen, dass ihre Wahlprogramm für die nächste Bundestagswahl gedacht war", kommentierte Die LINKE.

Unter der Überschrift "Große Koalition der Notstandspolitiker" schreibt Ulrich Sander in der UZ vom 13.12.2013:

"In der Koalitionsvereinbarung von CDU, CSU und SPD werden neue Auslandseinsätze angekündigt, aber auch die Stärkung der Einsätze der Reservisten im Inneren. Allgemein heißt es: 'Die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz.' Das können auch Einsätze im Inneren und aus dem Inneren der Bundesrepublik heraus sein. Das bedeutet für die Bürgerinnen und Bürger auch: weniger Freiheit infolge des wuchernden Überwachungsstaates. NSA und enge Zusammenarbeit der deutschen Geheimdienste mit NSA, CIA und britischen Geheimdienst. - das ist auch ein militärisches Problem.
Der Griff des Militarismus wird enger. Er zeigt sich in den Kooperationsverträgen - heftig begrüßt im Koalitionsvertrag - mit der Truppe zur Durchführung des Unterrichts mit Propaganda für Kriege, in der Werbung für die Bundeswehr an Bildungseinrichtungen. Er zeigt sich im Aufbau von Heimatschutzkompanien 'Regionale Sicherungs- und Unterstützungskräfte' (RSU) zum bewaffneten Einsatz der Bundeswehr auch im Inneren.
Der Vertrag der Union mit der SPD enthält keine Absage an die Beschaffung von Kampfdrohnen und ihren tödlichen Einsatz. Sollten künftig in Deutschland sogenannte Terrornester entdeckt werden, dann können diese bald zu Zielen der Kampfdrohnen werden. Das ist Mord auf Distanz per Knopfdruck. Man bedenke: Der 'Geheime Krieg', über den uns die Süddeutsche Zeitung und der Norddeutsche Rundfunk informierten, wird ungeachtet der Enthüllungen fortgesetzt. Hätte es diesen Krieg bereits vor dem 9. September 2001 gegeben und wäre der Verdacht der US-Geheimdienste auf den angeblichen Anführer der Terroristischen Gotteskrieger um Mohammed Atta in Hamburg-Harburg gefallen, was wäre vom dortigen Haus Marienstraße 54 und seinen Bewohnern übrig geblieben? (...) 
Und was geschieht, wenn die Polizei eines Bundeslandes angeblich nicht mehr in der Lage ist, ihren Sicherheitsaufgaben gerecht zu werden? Dann greifen die Notstandsgesetze aus dem Jahr 1968. Die Große Koalition hat eine Mehrheit zu diktatorischen Vollmachten. Sie kann die Notstandsgesetze nicht nur anwenden, sondern auch erweitern.
Wir haben uns auf große Gefahren einzustellen. Die Große Koalition und das NATO-Bündnis sind furchterregend. Da hilft nur ein Aufschwung der Friedensbewegung und der gesamten außerparlamentarischen Opposition."


Hans Fricke ist Autor des 2010 im GNN-Verlag erschienenen Buches "Eine feine Gesellschaft; Jubiläumsjahre und ihre Tücken - 1949 bis 2010", 250 Seiten, Preis 15.00 Euro, ISBN 978-3-89819-341-2

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Quelle:
© 2013 Hans Fricke
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Dezember 2013