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STANDPUNKT/362: Demokratie, Freiheit, Wohlstand, Menschenrechte und das wirkliche Leben (Jürgen Heiducoff)


Demokratie, Freiheit, Wohlstand, Menschenrechte und das wirkliche Leben

von Jürgen Heiducoff, 4. April 2014
Huadian, Volksrepublik China



Vom mündigen Bürger

Unser Bundespräsident hat zu Wochenbeginn die Schweiz besucht, um die Eidgenossen auf den rechten Weg zu bringen - auf den Weg zurück nach Europa.
Da gibt es Auffassungen zur Einwanderung, die von der deutschen Präsidentenmeinung abweichen.

Die sogenannten einfachen Leute, denen ich mich zugehörig fühle, auch Wahlvolk genannt, verfügten über eine eingeschränkte Urteilsfähigkeit. Dies hat Bundespräsident Joachim Gauck den Bürgern am 01. 04. 2014 bescheinigt. "Die direkte Demokratie kann Gefahren bergen, wenn die Bürger über hochkomplexe Themen abstimmen", so sein strenges Urteil [1]. Zunächst hielt ich dies für einen Aprilscherz zur allgemeinen Auflockerung. Jedoch - er scheint dies ernst zu meinen. Der mündige Bürger ist also nicht fähig, hochkomplexe Themen zu verstehen! Zu klären wäre noch, ob Herr Gauck die Bürger in der Schweiz meint oder auch anderswo. Und wo mögen die Ursachen für diese eingeschränkte Urteilsfähigkeit zu finden sein?

Vielleicht ist es das nicht intakte Bildungssystem? Vielleicht bereits auch die frühkindliche Erziehung in zerbrochenen Familien?

Selbst wenn mündige Bürger in Deutschland hochkomplexe Themen diskutierten - Entscheidungen treffen könnten sie dann doch nicht, denn Volksabstimmungen sind im Grundgesetz auf Bundesebene nicht vorgesehen. Deshalb konnte vor wenigen Wochen der gleiche Bundespräsident in seiner Eröffnungsrede zur Münchener Sicherheitskonferenz fordern: "... Außen- und Sicherheitspolitik ist nicht nur Sache von Eliten. Das Nachdenken über Existenzfragen gehört in die Mitte der Gesellschaft. Was alle angeht, muss von allen beraten werden." Beraten OK, aber bitte keine Entscheidungen!!! Zudem - wie können die Menschen Existenzfragen beraten, wenn ihnen zumeist die erforderlichen Informationen vorenthalten werden? Ich erinnere an die Bankenrettung, als unvorstellbar hohe Beträge aus dem Staatshaushalt, dem Volksvermögen, verschleudert wurden. Die Mitte der Gesellschaft wurde von den eiligst hinter verschlossenen Türen verhandelten und überhastet durch den Bundestag gepeitschten Entscheidungen überrascht.

Und aktuell finden Geheimverhandlungen zur künftigen nordatlantischen Freihandelszone statt, in deren Inhalt noch nicht einmal die gewählten Abgeordneten des Bundestages eingeweiht sind.

Die Bürger können also gern mit der Debatte nebensächlicher Themen verschlissen werden, wenn sie sich bitte nur nicht an Abstimmungen beteiligen. Denn das könnte Gefahren in sich bergen.

Besser als die direkte, so findet das deutsche Staatsoberhaupt, ist schon die repräsentative Demokratie. Diese habe sich in Deutschland bewährt.

Vielleicht wäre eine autoritäre Demokratie noch effizienter? Herr Gauck hat ja auch viele Jahr unbeschadet die "sozialistische Demokratie" erlebt. Auch da gehörte er nicht zu den Mittellosen. Ihm wurde als Pfarrer die Möglichkeit gegeben, auf Menschen einzuwirken. Wer hatte da schon solche Privilegien?

Wie auch immer, der Bundespräsident hat ein hochkomplexes Thema angestoßen und er meint es ernst. Das sind wir ja gewohnt von ihm. Er hat seine Freiheitsphilosophie und die Mahnungen zur Einhaltung der Menschenrechte gegenüber Präsidenten ausgewählter Staaten doch auch immer ernst gemeint - auch wenn er nicht immer ernst genommen wurde.

Dass er einigen wenigen Repräsentanten von Demokratien wie z.B. die der Vereinigten Staaten von Amerika, der Vereinigten Arabischen Emirate oder Saudi - Arabiens seine Belehrungen erspart hatte - Schwamm drüber. Die Vertreter deren Zivilgesellschaft sind schließlich bisher auch nicht durch ihn vernommen worden.

Nun bin ich bereits den vierten Tag damit beschäftigt, meine persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen im Umgang mit meinen Mitbürgern hinsichtlich der wegweisenden Visionen des Präsidenten zu untersuchen. Und ich stelle fest, am Gauck'schen Axiom über die Gefahren, die entstehen, wenn die Bürger sich mit hochkomplexen Themen befassen, wäre nur dann etwas dran, wenn die Bürger überhaupt Zeit, Kraft, Gelegenheit und die nötigen Informationen hätten, um hochkomplexe Themen diskutieren zu können. Da aber all diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, müssen die Eliten keine Angst haben, dass sich der Bürger einmischt.


Freiheit und Wohlstand müssen erlebbar sein

Einfache Menschen wie meine Freunde, Verwandten und ich haben ihre Probleme mit so allgemeinen philosophischen Kategorien wie Freiheit und Wohlstand, die unser Bundespräsident zu kennen scheint. Wir hingegen können dies im Alltag kaum wahrnehmen.

Sicher - es gibt Freiheit und Wohlstand zwischen Oder und Rhein. Allein Verteilung und Streuung sind ungerecht.

Nun ist es leider reiner Zufall, dass die große Freiheit und der sichere Wohlstand in meinem Umfeld nicht so erlebbar sind.

Ich vermiete im Raum Berlin eine Wohnung in einem alten Haus. Die alleinstehende Mieterin mit Kindern arbeitet überdurchschnittlich viel und hat verschiedene Stellen. Dennoch reichen die Einkünfte nicht für Miete, Kleidung und Essen. An Urlaubsreisen ist da nicht zu denken. Für politische Diskussionen, insbesondere über Freiheit und Wohlstand fehlt es an Gelegenheit und Kraft.

Da wo ich selbst ein Zimmer bewohne, im Hinterhof eines Berliner Kietzes mit Friedhofsaussicht, werde ich schon im Hausflur um eine kleine Gabe gebeten. Das setzt sich dann in der Straßenbahn, auf den Bahnhöfen und vor den Einkaufszentren der deutschen Hauptstadt fort.

Besuche ich eine meine erwachsenen Kinder, dann finde ich mich in "Ghettos" genannten Wohngegenden wieder, in denen zumeist Erwerbslose leben. Perspektiven und Erwartungen einer grundlegenden Veränderung der Umstände gibt es da nicht. Politische Debatten - Fehlanzeige. Freiheit und Wohlstand - abstrakte Begriffe.

Diese Beispiele stellen keine Ausnahmen dar.

In vielen deutschen Familien herrschen Resignation und Politikverdrossenheit. Und es gibt für alle von sozialen Einschnitten Betroffene wenig Hoffnung auf eine Verbesserung des Lebens.

Da also die meisten Menschen in unserem Land weder Motivation, noch Kraft und Zeit haben, sich mit hochkomplexen Themen zu beschäftigen, besteht also keinerlei Gefahr für den Fortbestand der von Gott gewollten Zustände.


Begegnungen der Bürger verschiedener Länder und Kulturen erleichtern

Medien und Politik lieben Kontraste. Deshalb wird der aufpolierten Darstellung des Lebens im eigenen Land gern Gegenteiliges in anderen Ländern gegenüber gestellt. Verletzungen der Menschenrechte, Hausarreste, Verhaftungswellen, Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, staatlicher Terror und Diktatur würden das Leben z.B. in China bestimmen - so wird es durch unsere Medien dargestellt. Und der Bundespräsident forderte kürzlich seinen chinesischen Amtskollegen zur Wahrung der Menschenrechte auf.

Nun ist es wieder leider reiner Zufall, dass ich mich seit Jahren regelmäßig bei Freunden in China aufhalte. Das Land erlebe ich nicht in Begleitung deutsch sprechender Reiseführer, in klimatisierten Reisebussen, Hotels, Bars und Restaurants, sondern in den Stuben einfacher Familien, bei Bürgern in Städten und abgelegenen Dörfern. Doch von all den unmenschlichen Zuständen, die dem freien Bürger in Deutschland eingeredet werden, konnte ich nichts feststellen. Auch meine chinesischen Freunde wissen nichts davon zu berichten. Wahrscheinlich bin ich ein schlechter Beobachter oder ich bin immer wieder am falschen Ort zur falschen Zeit gewesen.

Das wichtigste Menschenrecht ist das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit. Dieses ist nur in einem stabilen Frieden umsetzbar. Voraussetzung dafür wiederum ist eine konsequente Politik der Entspannung, Abrüstung, Frieden und Völkerverständigung.

Ich glaube, es ist richtig, aus der Forderung unseres Präsidenten nach mehr internationaler Verantwortung Deutschlands abzuleiten, dass sich unsere Bürger und die Menschen anderer Kontinente und Kulturen öfter begegnen sollten. Voraussetzung wäre mehr Reisefreiheit nach und in Deutschland sowie Europa.

Heute ist es technologisch kein Problem, die Begegnung der Menschen zu ermöglichen - wären da nicht die selbst gemachten bürokratischen Barrieren.

Es ist problemlos für EU-Bürger, in die Volksrepublik China einzureisen und sich dort frei zu bewegen. Ungleich belastender sind die bürokratischen Hürden für individuelle Reisen von Chinesen im Schengenraum. Ich fühle mich als deutscher Bürger in meiner Freiheit eingeschränkt, Freunde aus China, deren Gast ich sehr oft war, auch zum Gegenbesuch nach Deutschland einzuladen. Das gelingt nur selten, obwohl ich mich verpflichte, für ihre Rückkehr Verantwortung zu tragen.


Entwicklungstendenz des Wohlstandes ist wichtig

Eine US-Forschergruppe kommt zu dem Ergebnis, dass Deutschland bei sozialem Fortschritt weltweit auf Platz zwölf steht. Dabei geht es um einen statischen, momentanen Wert. Viel wichtiger für die Hoffnungen der Menschen ist jedoch die Entwicklungstendenz der Wohlstandsparameter.

Und da sind interessante gegenläufige Tendenzen zwischen Deutschland einerseits und China andererseits zu erkennen.

Die Menschen im Reich der Mitte erleben, dass es den meisten im Großen und Ganzen jedes Jahr ein bisschen besser geht und dass die Familie, das Dorf, die Stadt, das Land keinen Krieg und damit keinen Rückschlag dieser Entwicklung befürchten müssen. Dafür sind sie den Führern dankbar. Allein das zählt. Über die Landespolitiker macht sich deshalb der kleine Mann dort nicht lustig. Die meisten Leute achten noch heute den großen Vorsitzenden Mao Zedong. Sein Porträt geht mit den Geldscheinen jedem jeden Tag mehrmals durch ihre Hände. Die meisten Chinesen lieben ihr Reich der Mitte - sie sind Patrioten. Immer wieder begegnet man Fahrzeugen aller Art mit der Landesflagge.

Die Welt entwickelt sich - das ist im modernen China nicht zu übersehen. Besonders in den Städten herrscht ein nie dagewesener Bauboom. Stadtbilder verändern sich rasant. Aufbau erfolgt extensiv. Bauvorhaben sind nicht von ausufernder zermürbender Bürokratie begleitet.

Vergleicht man hingegen den Wohlstand in Deutschland heute mit dem in den 1950er und 1960er Jahren, so sucht man vergeblich den Fortschritt. In Kenntnis der Tatsache, dass unser Land nicht nur kaum aus der Schuldenfalle kommt, sondern weiter auf Kosten der uns folgenden Generationen lebt, sind die Perspektiven düster. Zur Verschleierung dieser Lage ist mit weiteren von Freiheit und Wohlstand strotzender Reden des Präsidenten zu rechnen. Allein wer glaubt ihm noch?

Wir mündigen Bürger durchschauen durchaus hochkomplexe Themen!


Anmerkung:
[1] Spiegel online 01.04.2014

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Quelle:
© 2014 by Jürgen Heiducoff
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2014