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STANDPUNKT/391: Schottland am Euphrat (Uri Avnery)


Schottland am Euphrat

von Uri Avnery, 20. September 2014



ZWEI LÄNDER wetteiferten in dieser Woche um den ersten Platz in den Nachrichten der Welt: Schottland und der islamische Staat im Irak und in Syrien.

Es könnte keinen größeren Unterschied als den zwischen diesen beiden Ländern geben. Schottland ist feucht und warm. Der Irak ist trocken und heiß. Schottland ist nach seinem Whisky benannt (oder umgekehrt), während für die ISIS-Kämpfer, Alkohol zu trinken, ein Kennzeichen der Ungläubigen ist, die (buchstäblich) ihren Kopf verlieren sollen.

Doch gibt es einen gemeinsamen Nenner beider Krisen: Sie kündigen den Untergang des Nationalstaates an.


MODERNER NATIONALISMUS wurde wie jede große Idee in der Geschichte aus einer Reihe neuer Verhältnisse geboren: wirtschaftlicher, militärischer, geistiger und anderer, die die älteren Formen ablösten.

Ende des 17. Jahrhunderts waren die damals vorhandenen Staaten den neuen Anforderungen nicht mehr gewachsen. Kleine Staaten waren zum Scheitern verurteilt. Die Wirtschaft verlangte einen sicheren inländischen Markt, der groß genug für die Entwicklung moderner Industrien war. Neue Massenarmeen benötigten eine Basis, die stark genug war, um Soldaten zu versorgen und moderne Waffen zu bezahlen. Neue Ideologien schufen neue Identitäten.

Die Bretagne und Korsika konnten nicht unabhängig existieren. Sie mussten, um zu überleben, vieles von ihrer eigenständigen Identität aufgeben und sich dem großen und mächtigen französischen Staat anschließen. Das Vereinigte Königreich, die Vereinigung der britischen Inseln unter einem schottischen König wurde zu einer Weltmacht. Andere folgten. Jeder in seinem eigenen Tempo. Zionismus war ein später Versuch, dies nachzuahmen.

Der Prozess erreichte Ende des Ersten Weltkrieges seinen Höhepunkt, als das Osmanische Reich und Österreich-Ungarn auseinanderbrachen. Kemal Atatürk, der das islamische Kalifat in einen türkischen Nationalstaat umwandelte, war vielleicht der letzte große Ideologe der nationalen Idee.

Aber zu dieser Zeit war diese Idee schon veraltet. Die Realitäten, die sie geschaffen hatten, änderten sich schnell. Wenn ich mich nicht irre, war es der französische Psychologe Gustave Le Bon, der vor hundert Jahren behauptet hat, jede neue Idee sei zu dem Zeitpunkt, an dem die Massen sie aufgenommen hätten, bereits veraltet. Der Prozess verlaufe folgendermaßen: Jemand hat eine neue Idee. Es braucht eine Generation, bis sie von den Intellektuellen angenommen wird. Es ist eine weitere Generation nötig, damit die Intellektuellen die Massen davon überzeugen. Mit der Zeit bekommt sie Macht, doch die Umstände haben sich schon wieder verändert, und eine neue Idee ist erforderlich.

Die Realität ändert sich viel schneller als der menschliche Geist.

Nehmen wir den europäischen Nationalstaat. Als er nach dem Großen Krieg seinen Endsieg errang, hatte sich die Welt schon wieder verändert. Die europäischen Armeen, die einander mit Maschinengewehren niedergemäht hatten, standen jetzt Panzern und Kampfflugzeugen gegenüber. Die Wirtschaft verbreitete sich weltweit. Die Luftfahrt verkürzte große Entfernungen. Die moderne Kommunikation machte die Welt zu einem Dorf.

1926 lud ein österreichischer Edelmann, Richard Coudenhove-Kalergy, zu einem pan-europäischen Kongress ein. Während Adolf Hitler, ein hoffnungslos altmodischer Denker, versuchte, dem Kontinent den deutschen Nationalstaat aufzuzwingen, propagierte eine kleine Gruppe von Idealisten die Idee einer europäischen Union, die sich nach einem weiteren fürchterlichen Weltkrieg verbreitete.

Diese Idee, jetzt noch in ihren Anfängen, wird allgemein akzeptiert, aber sie ist schon überholt. Die multinationale Wirtschaft, die sozialen Medien, der Kampf gegen tödliche Epidemien, die Bürgerkriege und Genozide, die Umweltgefahren bedrohen den ganzen Planeten - all dies macht eine Weltregierung dringend nötig - doch dies ist eine Idee, deren Verwirklichung noch sehr, sehr weit entfernt ist.


DIE ÜBERALTERUNG des Nationalstaates hat ein paradoxes Nebenprodukt geschaffen: das Auseinanderbrechen des Staates in immer kleinere Gebilde.

Während die Neigung der Welt zu immer größeren politischen und wirtschaftlichen Einheiten an Stärke gewinnt, fallen Nationalstaaten auseinander. Die kleinen Völker in aller Welt fordern Unabhängigkeit.

Dies ist nicht so lächerlich, wie es aussieht. Der Nationalstaat entstand, weil die Gegebenheiten Gesellschaften einer gewissen Mindestgröße und -stärke notwendig machten. Aber inzwischen bewegen sich alle Hauptfunktionen des Staates in Richtung größerer Regionalvereinigungen. Wozu sollte Korsika Frankreich noch brauchen? Wozu die Basken Spanien? Wozu benötigt Quebec Kanada? Warum nicht mit Seinesgleichen in einem kleineren Staat zusammenleben, mit Menschen, die die gleiche Sprache sprechen wie man selbst?

Die Tschechoslowakei ist friedlich auseinander gebrochen. Auch Jugoslawien, allerdings weniger friedlich. So geschah es mit Zypern, Serbien, dem Sudan - und natürlich der Sowjetunion.

(Nebenbei bemerkt, betrifft dies auch die Idee der sogenannten Ein-Staaten-Lösung für unser kleines Problem in Israel/Palästina. Während der letzten drei Generationen hat es in der Welt nicht ein einziges Beispiel dafür gegeben, daß sich zwei verschiedene Völkern freiwillig zu einem Staat zusammengeschlossen hätten.

Das schottische Referendum ist eines der Eröffnungsszenen dieser neuen Epoche. Die Befürworter der Unabhängigkeit versprachen, dass Schottland sich der europäischen Union und der NATO anschließen könnte und vielleicht auch den Euro einführen würde. Warum sollte Schottland in der britischen Zwangsjacke bleiben? Schließlich beherrscht Britannien nicht mehr die Weltmeere?

Die knappe Niederlage der schottischen Patrioten ändert nicht die Richtung der Entwicklung. Sie hält sie nur etwas auf.



NATIONALISMUS WAR eine europäische Idee.

Diese Idee schlug in den trocknen Felder der arabischen Welt niemals tiefe Wurzeln. Selbst in der Blütezeit des arabischen Nationalismus' war nie ganz klar, ob z.B. ein Damaszener sich selbst zuerst als Syrer oder als Muslim betrachtete, ob ein Beiruter sich zuerst als maronitischer Christ oder als Libanese ansah oder ob ein Kairoer sich zuerst als Ägypter, Araber oder als Muslim fühlte.

Während des algerischen Unabhängigkeitskampfes beklagte sich mir gegenüber einmal ein zorniger Franzose vom politisch rechten Flügel: "Bevor wir Nordafrika eroberten, war Algerien niemals vereinigt! Wir schufen die algerische Nation!" Er hatte ganz Recht, nur zog er die falschen Schlüsse. Genau dasselbe hörte ich viele Male von engagierten Zionisten über die palästinensische Nation.

Die modernen arabischen Nationen wurden von europäischen Kolonialherren erfunden. In letzter Zeit ist es Mode geworden, Mark Sykes und Georges Picot zu erwähnen, zwei mittelmäßige Bürokraten, der eine ein Engländer, der andere ein Franzose, die ein geheimes Abkommen zur Teilung des Osmanischen Reiches beschlossen. Sie und ihre Nachfolger schufen die Staaten Syrien, den Irak, (Trans)Jordanien, Palästina etc. Diese "Nationalstaaten" waren ausgesprochen künstlich. Die europäischen Planer wußten für gewöhnlich sehr wenig über die lokalen Umstände, Traditionen, Identitäten und die Kultur. Sie kümmerten sich auch nicht sehr darum. Der Irak mit seinen verschiedenen Komponenten wurde dazu geschaffen, britischen Interessen zu dienen. Die seltsame östliche Grenze des Jordan wurde für eine britische Ölleitung von Mossul nach Haifa gezogen. Der Libanon, als Heimat für die Christen gedacht, wurde angeschlossen und sollte auch, nur um es größer zu machen, muslimische, sunnitische und schiitische Gebiete einschließen. Al-Sham (Syrien) wurde Jordanien weggenommen, Palästina und der Libanon wurden zu Syrien. Später verlor es auch Alexandretta an die Türkei.


ALL DIESE imperialistischen Manipulationen widersprachen der muslimischen Geschichte und Tradition.

Jedes muslimische Kind lernt in der Schule, dass die großen muslimischen Reiche sich vom Norden Spaniens bis an die Grenze von Burma erstreckten, von den Toren Wiens bis zum Süden Jemens, und wirft dann einen Blick auf die Landkarte, um dort Mini-Länder wie Jordanien und den Libanon zu entdecken. Das ist demütigend.

Zuerst gab es Bemühungen, die Araber unter den Schirm des Nationalismus' zu vereinigen. Die Ba'ath-Partei strebte danach (wenigstens theoretisch), einen einzigen pan-arabischen Staat zu schaffen, und diese Überzeugung wurde von dem Helden der Massen, dem ägyptischen Gamal Abd-al-Nasser, einem säkularen Militärdiktator, übernommen. Ein pan-arabischer Staat hätte auch etwas mehr Gleichheit zwischen den reichen Ölstaaten wie Saudi-Arabien und den armen Ländern wie Ägypten schaffen können.

Der Nasserismus schuf eine neue Ideologie. Pan-arabischer Nationalismus wurde "Kaumi", lokaler Patriotismus wurde "Wotani" genannt. Die Gemeinschaft aller Muslime war die "Umma".

(Dasselbe Wort "umma" bedeutet im Hebräischen das Gegenteil: eine moderne Nation. Die Israelis sind so verwirrt wie ihre Nachbarn. Wir müssen unsere Priorität wählen. Sind wir in erster Linie Juden, Hebräer oder Israelis? Was genau bedeutet "der Nationalstaat des jüdischen Volkes", wie er von Benjamin Netanjahu propagiert wird?)


DIE ENORME Anziehungskraft der Bewegung, die sich jetzt "Islamischer Staat" nennt, liegt darin begründet, dass sie eine einfache Idee vorschlägt: all diese verrückten Grenzen beseitigen, die von westlichen Imperialisten für ihre eigenen Zwecke gezogen wurden, und den klassischen pan-muslimischen Staat schaffen: das Kalifat.

Dies scheint das Gegenteil des Auseinanderbrechens der europäischen Staaten zu sein - aber es bedeutet dasselbe: die totale Zurückweisung des Nationalstaates.

Diese Absage an sich gehört sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft an.

Sie glorifiziert die Vergangenheit. Muhammed und seine direkten Nachfolger ("Kalif" bedeutet Nachfolger) werden als makellose Menschen idealisiert, als die Verkörperung aller Tugenden, Menschen im Besitz der göttlichen Weisheit.

Dies ist sehr weit von der historischen Wahrheit entfernt. Alle drei unmittelbaren Nachfolger des Propheten wurden ermordet. Wegen des Streites um die Nachfolge teilte sich der Islam in Sunniten und Schiiten und so ist es bis heute geblieben (jetzt sogar stärker denn je). Aber Mythen sind stärker als die Wahrheit.

Zwar klammert sich die Bewegung Islamischer Staat (früher ISIS: der Islamische Staat von Irak und al-Scham) an die Vergangenheit, gleichzeitig ist sie aber sehr modern. Mit einem Schlag räumt sie den Tisch des Nationalstaates und seiner Abkömmlinge ab. Sie verbreitet eine klare und einfache Idee, die von Muslimen überall leicht verstanden wird. Sie scheint weithin überzeugend zu sein.


DIE REAKTION des Westens ist auf schon fast komische Weise unangemessen.

Leute wie Barack Obama und John Kerry und ihre entsprechenden Gegenstücke in ganz Europa sind unfähig, zu verstehen, worum es hier geht. Mit der traditionellen europäischen Verachtung für die "Eingeborenen" sehen sie außer den köpfenden Terroristen nichts anderes. Sie scheinen wirklich zu glauben, eine revolutionäre neue Idee auslöschen zu können, indem sie mit arabischen Diktatoren und korrupten Politikern eine Koalition bilden, Rebellen bombardieren und das Ganze damit abschließen, indem sie lokale Kapitalisten beschäftigen.

Das ist eine groteske Missinterpretation der neuen Realität. Bis jetzt hat IS mit nur einer Handvoll fanatischer und grausamer Militanten riesige Gebiete erobert.



WIE SOLL man darauf reagieren?

Offen gesagt: ich weiß es nicht. Aber der erste Schritt für den Westen als auch für die Israelis wäre, ihre Arroganz abzuwerfen und zu versuchen, das neue Phänomen, dem sie sich gegenüber sehen, zu verstehen.

Sie stehen nicht "Terroristen" gegenüber - das magische Wort, das alle Probleme zu lösen scheint, ohne das Gehirn zu strapazieren. Sie stehen einem neuen Phänomen gegenüber.

Geschichte ist im Werden.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 20.09.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2014