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STANDPUNKT/439: Die Rede (Uri Avnery)


Die Rede

von Uri Avnery, 7. März 2015


PLÖTZLICH ERINNERTE sie mich an etwas.

Ich sah mir DIE REDE von Benjamin Netanjahu vor dem Kongress der Vereinigten Staaten an. Reihe um Reihe von Männern in Anzügen (gelegentlich auch eine Frau) springt auf und ab, auf und ab, applaudiert wild und schreit Beifall.

Dieses Schreien war es, das die Erinnerung hervorrief - wo hatte ich dies vorher schon einmal gehört?

Dann fiel es mir ein: Es war ein anderes Parlament Mitte der dreißiger Jahre. Der Führer sprach. Reihe um Reihe der Reichstagsmitglieder hörte begeistert zu. Alle paar Minuten sprangen sie auf und schrien Beifall.

Natürlich ist der Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika nicht der Reichstag. Die Männer tragen dunkle Anzüge, keine braunen Hemden. Sie schreien nicht "Heil", sondern etwas Unverständliches. Doch der Klang des Schreiens war derselbe. Ziemlich schockierend.

Doch dann kehrte ich zurück in die Gegenwart. Der Anblick war nicht beängstigend, sondern irgendwie lächerlich. Hier waren die Mitglieder des mächtigsten Parlamentes der Welt. Sie benahmen sich wie ein Haufen Trottel.

In der Knesset hätte nichts dergleichen geschehen können. Ich habe keine sehr gute Meinung über unser Parlament, dessen Mitglied ich einmal war, aber verglichen mit dieser Versammlung ist die Knesset die Erfüllung von Platons Traum.


ABBA EBAN verglich einmal eine Rede von Menachem Begin mit einem französischen Souflé-Kuchen: eine Menge Luft und sehr wenig Teig.

Dasselbe kann über DIE REDE gesagt werden.

Was enthielt sie? Natürlich den Holocaust mit jenem moralischen Imponiergehabe, dargeboten von Elie Wiesel, der auf der Empore rechts direkt neben der freudestrahlenden Sarah'le saß, die den Triumph ihres Gatten sichtbar genoss. (Ein paar Tage zuvor hatte sie die Frau eines Bürgermeisters in Israel angeschrien: "Dein Mann reicht nicht einmal bis zu den Fußknöcheln meines Mannes!")

DIE REDE erwähnte das Buch Esther. In ihm geht es um die Rettung der persischen Juden vor dem persischen Minister Haman, der vorhatte, sie auszulöschen. Keiner weiß, wie diese dubiose Geschichte in die Bibel kam. Gott wird darin nicht erwähnt, mit dem Heiligen Land hat sie nichts zu tun, und Esther selbst ist eher eine Hure als eine Heldin. Das Buch endet mit dem Massenmord, den Juden an den Persern begingen.

DIE REDE enthielt, wie alle Reden Netanjahus, viel über das Leiden der Juden während aller Epochen und die Absichten der bösen Iraner, der neuen Nazis, uns zu vernichten. Aber dies wird nicht geschehen, weil wir diesmal Benjamin Netanjahu haben, der uns beschützt. Und die US-Republikaner natürlich.

Es war eine gute Rede. Man kann keine schlechte Rede halten, wenn Hunderte von Bewunderern an jedem Wort hängen und alle paar Minuten applaudieren. Doch wird sie in keiner Anthologie der größten Reden der Welt erscheinen.

Netanjahu betrachtet sich selbst als zweiten Churchill. Und tatsächlich war Churchill der einzige ausländische Führer vor Netanjahu, der vor beiden Häusern des Kongresses ein drittes Mal redete. Doch Churchill kam, um seine Verbindung mit dem Präsidenten der USA, Franklin Delano Roosevelt, zu festigen, der bei den britischen Kriegsbemühungen eine wichtige Rolle spielte, während Netanjahu gekommen ist, um dem gegenwärtigen Präsidenten ins Gesicht zu spucken.



WAS HAT DIE REDE nicht enthalten?

Nicht ein Wort über Palästina und die Palästinenser. Kein Wort über Frieden, die Zwei-Staatenlösung, die Westbank, den Gazastreifen, Jerusalem. Nicht ein Wort über Apartheid, die Besatzung, die Siedlungen. Kein Wort über Israels eigene Atom-Technologien.

Natürlich auch kein Wort über die Idee einer nuklearwaffenfreien Region unter gegenseitiger Kontrolle.

In der Tat, gab es überhaupt keinen konkreten Vorschlag. Außer den schlechten Handel, der gerade im Gange ist, anzuprangern und anzudeuten, Barack Obama und John Kerry seien Idioten, die sich übertölpeln lassen, bot er keine Alternative an.

Warum? Ich vermute, dass der ursprüngliche Text DER REDE eine Menge enthielt. Verheerende neue Sanktionen gegen den Iran. Die Forderung nach der totalen Zerstörung der iranischen Atomanlagen. Und zuletzt unvermeidbar einen US-Israelischen Militärschlag.

All dies wurde ausgelassen. Er war von Obamas Leuten klipp und klar gewarnt worden, dass die Offenlegung von Details der Verhandlungen als Vertrauensbruch betrachtet würde. Er war von seinen republikanischen Gastgebern gewarnt worden, dass die amerikanische Öffentlichkeit nichts von einem neuen Krieg hören wolle.

Was blieb übrig? Eine trockene Aufzählung der bekannten Fakten über die Verhandlungen. Es war der einzige langweilige Teil der Rede. Minutenlang sprang keiner auf, keiner schrie Beifall. Elie Wiesel wurde schlafend gezeigt. Die einzige wirklich bedeutende Person in der Halle, Sheldon Adelson, der Herr der Kongress-Republikaner und Netanjahus, wurde überhaupt nicht gezeigt. Aber er war da und beobachtete seinen Diener genau.



ÜBRIGENS, WAS wurde eigentlich aus Netanjahus Krieg?

Erinnert man sich noch daran, dass die israelischen Verteidigungskräfte drauf und dran waren, den Iran in tausend Stücke zu bomben? Dass die US-Militärmacht drauf und dran war, alle iranischen Atomanlagen zu zerstören?

Die Leser dieser Kolumne mögen sich auch daran erinnern, dass ich vor Jahren versicherte, dass es keinen Krieg geben würde. Ohne Wenn und Aber. Keine halb offene Hintertür für einen Rückzug. Ich versicherte, dass es keinen Krieg geben würde. Punkt.

Viel später sprachen sich alle früheren israelischen Militär- und Nachrichtendienstchefs gegen den Krieg aus. Generalstabschef Benny Gantz, der in dieser Woche seine Amtszeit beendete, hat enthüllt, dass es nicht einmal einen Entwurf für einen Operationsbefehl gibt, um Irans Nukleareinrichtungen anzugreifen.

Warum? Weil solch eine Operation zu einer weltweiten Katastrophe führen würde. Der Iran würde sofort die Straße von Hormus schließen, die nur wenige Meilen breit ist und durch die etwa 35% des Erdöls der Welt verschifft wird. Es würde einen unmittelbaren, weltweiten wirtschaftlichen Zusammenbruch geben.

Um die Straße von Hormus zu öffnen und offen zu halten, müsste ein großer Teil des Iran in einem Landkrieg besetzt werden. Sogar die Republikaner schaudern bei diesem Gedanken.

Die israelischen militärischen Fähigkeiten wären für solch ein Abenteuer völlig unzureichend. Und natürlich kann Israel nicht davon träumen, ohne ausdrückliches Einverständnis Amerikas einen Krieg zu beginnen.

Das ist die Realität. Man kann darüber nicht viele Worte machen. Selbst amerikanische Senatoren sind in der Lage, den Unterschied zu sehen.


DAS HERZSTÜCK DER REDE war die Dämonisierung des Iran. Der Iran ist das verkörperte Böse. Seine Führer sind unmenschliche Monster. In der ganzen Welt sind iranische Terroristen am Werk und planen monströse Terroranschläge. Sie bauen interkontinentale Raketen mit nuklearen Sprengköpfen, um die USA zu zerstören. Unmittelbar nachdem sie Atombomben haben - jetzt oder in zehn Jahren - werden sie Israel auslöschen.

In Wirklichkeit würde Israels Zweitschlag-Fähigkeit, die sich auf die von Deutschland gelieferten U-Boote stützt, Iran innerhalb von Minuten vernichten. Eine der ältesten Zivilisationen der Weltgeschichte würde zu einem abrupten Ende kommen. Die Ayatollas wären geisteskrank, wenn sie so etwas riskierten.

Netanjahu tut so, als ob er dies glaube. Doch seit Jahren führt Israel eine freundschaftliche geheime Verhandlung mit der iranischen Regierung über die durch Israel führende Eilat-Ashkalon-Ölleitung, die von einem iranisch-israelischen Konsortium gebaut wurde. Vor der islamischen Revolution war der Iran sogar Israels stärkster Verbündeter in der Region. Nach der Revolution lieferte Israel dem Iran Waffen, um gegen Saddam Husseins Irak zu kämpfen (die berüchtigte Iran-Gate-Affäre). Und wenn man bis zu Esther und ihrer sexuellen Bemühung zurückgeht, die Juden zu retten, warum sollte man nicht Cyrus den Großen erwähnen, der den jüdischen Gefangenen erlaubte, nach Jerusalem zurückzukehren?

Wenn man die Haltung der gegenwärtigen iranischen Führung beurteilt, so hat sie einiges von ihrem religiösen Eifer verloren. Sie verhält sich (ohne dies immer auszusprechen) sehr vernünftig, führt zähe Verhandlungen durch, wie man das von Persern erwartet, die sich ihres immensen kulturellen Erbes, das älter ist als das Judentum, bewusst sind. Netanjahu hat recht, wenn er sagt, man solle ihnen nicht blindlings vertrauen, aber seine Dämonisierung ist lächerlich.

Im weiter gefassten Kontext sind Israel und der Iran schon indirekt Verbündete. Für beide ist der Islamische Staat (ISIS) der Todfeind. Meiner Meinung nach ist ISIS weit gefährlicher für Israel als - auf Dauer gesehen - der Iran. Ich bilde mir ein, dass ISIS für Teheran ein weit gefährlicherer Feind ist als Israel.

(Der einzig denkwürdige Satz in DER REDE war "der Feind meines Feindes ist mein Feind")

Schlimmstenfalls wird der Iran am Ende seine Bombe haben. Na und?

Ich mag ein arroganter Israeli sein, aber ich weigere mich, Angst zu haben. Ich lebe eine Meile vom israelischen Armeekommando entfernt, mitten in Tel Aviv, und bei einem nuklearen Austausch würde ich verdampfen. Ich fühle mich jedoch ganz sicher.

Die USA war jahrzehntelang (und immer noch) Tausenden russischer Atombomben ausgesetzt, die Millionen Menschen innerhalb von Minuten auslöschen könnten. Sie fühlen sich unter dem Schirm des "Gleichgewichts des Schreckens" sicher. Zwischen uns und dem Iran würde schlimmstenfalls dasselbe Gleichgewicht herrschen.


WAS IST Netanjahus Alternative zu Obamas Politik? Wie Obama schnell betonte, bot er keine an.

Das bestmögliche Verhandlungsergebnis wird erreicht werden. Die Gefahr wird um weitere zehn Jahre hinausgeschoben. Und wie Chaim Weizman einmal sagte: "Die Zukunft wird kommen und sich um die Zukunft kümmern."

Innerhalb von zehn Jahren werden sich viele Dinge ereignen. Regime werden sich verändern, Feinde werden zu Verbündeten und umgekehrt. Alles ist möglich.

Sogar Frieden wird - nach Gottes und der Wähler Willen - zwischen Israel und Palästina möglich sein und den Stachel aus den israelisch-muslimischen Beziehungen ziehen.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 07.03.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2015

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